L 15 BL 1/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 BL 1/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 BL 1/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 15.01.2003 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.

Der 1957 geborene Kläger, bei dem seit einem Herzstillstand (1997) mit anschließender Reanimation ein apallisches Syndrom ("Wachkoma") besteht, beantragte im Oktober 1998 durch seine Betreuerin (Mutter) beim Beklagten die Gewährung von Blindengeld.

Der Beklagte veranlasste die Begutachtung des Klägers durch den Augenarzt Prof.Dr.D ... Dieser stellte in seinem nach ambulanter Untersuchung (Hausbesuch im Pflegeheim N.) am 17.11.1998 gefertigten Gutachten fest, beim Kläger bestehe ein Zustand nach Tracheotomie bei apallischem Syndrom; der Kläger befinde sich in sehr schlechtem Allgemeinzustand, sei nicht ansprechbar. Der Sachverständige beschrieb beidseits eine zentrale Papillenexcavation sowie eine prompte seitengleiche Pupillenreaktion. Gesichtsfeld- und Visusuntersuchungen seien aufgrund des Zustandes des Klägers nicht durchführbar.

Mit Bescheid vom 13.01.1999 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Zahlung von Blindengeld ab, weil es aufgrund der fehlenden Mitwirkungsmöglichkeiten des Klägers nicht feststellbar sei, ob bei ihm Blindheit im Sinne des BayBlindG vorliege; dies gehe zu seinen Lasten.

Den dagegen erhobenen Widerspruch, mit dem der Kläger vortrug, der Beklagte habe bei einem anderen Apalliker die Voraussetzungen für die Gewährung von Blindengeld bejaht, wies der Beklagte nach Beiziehung medizinischer Unterlagen (Berichte des Allgemeinarztes Dr.A. , des Bezirkskrankenhauses M. , des Nervenarztes Dr.G. und des Kreiskrankenhauses S.) mit Widerspruchsbescheid vom 23.12.1999 zurück.

Dagegen hat der Kläger beim Sozialgericht Regensburg Klage erhoben und beantragt, ihm Blindengeld nach dem BayBlindG zu gewähren: Der Beklagte, der sich auf ein Urteil des Bayer. Landessozialgerichts (BayLSG) vom 16.04.1999 (L 15 Bl 5/95) beziehe, verkenne im Gefolge dieses Urteils, dass ein Nachweis von Schäden des Sehorgans nicht erforderlich sei, weil es nicht maßgeblich sei, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruhe. Dies ergebe sich aus dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 31.05.1995 (1 RS 1/93). Danach könne Blindheit im Sinn des BayBlindG auch dann vorliegen, wenn dafür nicht Schäden des Sehorgans, sondern ausschließlich zentrale cerebrale Verarbeitungsstörungen verantwortlich seien. Allerdings müssten dies Verarbeitungsstörungen sein, die das Erkennen-Können und nicht nur das Bennen-Können beträfen. Wie zum Beispiel das LSG Sachsen-Anhalt am 20.08.1998 entschieden habe (L 5 BL 1/97), sei es aber offensichtlich, dass bei einem apallischen Syndrom eine organisch bedingte absolute Störung des Erkennen-Könnens vorliege.

Das Sozialgericht hat die den Kläger betreffende Blindengeldakte des Beklagten beigezogen und ein von dem Neurologen Prof.Dr.S. am 12.09.2002 nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstattetes Gutachten (mit Zusatzgutachten EEG, Neuroradiologie und Neurophysiologie) eingeholt. Der Sachverständige vertrat darin die Auffassung, der Kläger befinde sich in einem persistierenden vegetativen Zustand, der sich insbesondere durch eine Tetraparese, die fehlende Kommunikation und Augenfixation sowie eine fehlende kognitive Fähigkeit bemerkbar mache. Es bestehe eine schwerste diffuse Hirnschädigung, die Verarbeitung anfallender optischer Reize sei keinesfalls gewährleistet. Die EEG-Untersuchung habe ein areaktives Ruhe-Wach-EEG mit kaum erkennbarer hirneigener Aktivität gezeigt, passend zu einem apallischen Syndrom.

Der Beklagte hat sich hierzu unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme (Medizinaldirektorin P., 12.11.2002) geäußert und ausgeführt, eine Zerstörung der Sehrinde sei nicht nachgewiesen, weshalb eine "Rindenblindheit" nicht angenommen werden könne.

Mit Urteil vom 15.01.2003 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Da beim Kläger das Ausmaß einer etwaigen Schädigung des Sehorganes (optische Schädigung) nicht feststellbar, eine schwere cerebrale Schädigung jedoch objektiviert sei, könne entsprechend der Rechtsprechung des BayLSG eine anspruchsberechtigende Störung des Sehvermögens nicht nachgewiesen werden. Der Auffassung des Klägers, dass eine cerebrale Schädigung, die die Verarbeitung optischer Reize ausschließe, die Voraussetzungen für die Gewährung von Blindengeld ebenfalls erfülle, sei die Kammer nicht gefolgt.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger - im Wesentlichen unter Wiederholung seines Vorbringens gegenüber dem Sozialgericht und dem Hinweis, dass die Verneinung des Vorliegens von Blindheit beim Kläger durch den Sachverständige Prof.Dr.S. auf einer unzutreffenden Definition des Begriffes Blindheit beruhe - Berufung zum BayLSG eingelegt.

Der Beklagte hat sich dazu schriftsätzlich (02.06.2003) unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme (Medizinaldirektorin P.) vom 23.05.2003 geäußert: Die Gesetzesbegründung zu Art.1 Abs.2 BayBlindG schreibe vor, dass die Blindheit auf einem Defekt im optischen Apparat bzw. in der Verarbeitung optischer Reize beruhen müsse; andere hirnorganische Störungen bedingten keine Blindheit. Daraus folge, dass von den hirnorganischen Störungen nur die Rindenblindheit und die visuelle Agnosie im klassischen Sinn zu Blindheit im Sinne des Gesetzes führten. Andere hirnorganische Störungen beträfen nämlich nicht die Verarbeitung optischer Reize, sondern die Reaktion darauf.

Zu dem ihnen vom Gericht zugeleiteten Urteil des BSG vom 20.07.2005 (B 9a BL 1/05 R) haben sich die Beteiligten ebenfalls schriftsätzlich geäußert. Der Kläger (Schreiben vom 18.10.2005) sah durch dieses Urteil seine Rechtsauffassung bestätigt, wonach anspruchsbegründende Blindheit nicht zwingend wesentliche Schäden des Sehorganes voraussetze. Er vertrat weiter die Ansicht, aus der neuroradiologisch objekivierten weitgehenden Substanzzerstörung der Gehirnrinde folge, dass die massiven cerebralen Verarbeitungsstörungen auch das Erkennen-Können beträfen. Im Übrigen sei aus dem neuroradiologischen Befund auch eine Zerstörung der Sehrinde abzuleiten, so dass in Kombination mit den cerebralen Verarbeitungsstörungen auch massive Schäden der Sehrinde - und damit des Sehorganes - vorlägen. Der Beklagte (Schreiben vom 25.11.2005 mit versorgungsärztlicher Stellungnahme Medizinaldirektorin P. vom 23.12. - richtig: 23.11.2005) verwies darauf, dass das BSG in dem Urteil vom 20.07.2005 den Nachweis faktischer Blindheit bei Menschen mit schweren cerebralen Schäden nur dann für möglich erachte, wenn die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei als die Wahrnehmung in anderen Sinnesmodalitäten; bei einem vollständigen apallischen Syndrom sei dies nicht der Fall.

Mit Schreiben vom 11.11./25.11.2005 haben die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den zuständigen Berichterstatter als Einzelrichter gemäß § 155 Abs.4, 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erklärt.

Der Kläger beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Regensburg vom 15.01.2003 sowie des Bescheides vom 13.01.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23.12.1999 zu verurteilen, ihm ab 01.10.1998 Blindengeld zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der zu Beweiszwecken beigezogenen, den Kläger betreffenden Blindengeldakte des Beklagten sowie auf den Inhalt der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (Art.7 Abs.2 BayBlindG i.V.m. §§ 143, 151 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger blind im Sinne des BayBlindG ist und ihm deshalb ab dem Monat der Antragstellung Blindengeld zusteht.

Dies hat das Sozialgericht mit Recht verneint.

Gemäß Art.1 Abs.1 BayBlindG erhalten Blinde, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld.

Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art.1 Abs.2 Satz 1 BayBlindG).

Als blind gelten gemäß Art.1 Abs.2 Satz 2 BayBlindG auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr.1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr.1 gleichzuachten sind.

Dass dem Kläger das Augenlicht völlig fehlt, ist nicht entsprechend den hier geltenden Anforderungen des Vollbeweises mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Zwar liegt ein schwerster, das gesamte Gehirn (graue und weiße Substanz) bestreffender hypoxischer Hirnschaden vor. Eine vollständige Zerstörung der Sehrinde und damit das Vorliegen einer Rindenblindheit kann daraus aber nicht abgeleitet werden. Denn sowohl der im Verwaltungsverfahren eingeschaltete Sachverständige Prof.Dr.D. als auch der Sachverständige des Sozialgerichts, Prof.Dr.S. stellten eine prompte und seitengleiche Pupullenreaktion auf Lichteinfall fest. Eine Rindenblindheit ist dadurch ausgeschlossen.

Der Nachweis von Blindheit im Sinne von Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.1 BayBlindG kann beim Kläger ebenfalls nicht geführt werden. Denn die Reduzierung der Sehschärfe - also des Auflösungsvermögens der Augen - auf maximal 1/50 auf dem besseren Auge muss durch Messungen/Tests, die den Anforderungen des Vollbeweises genügen, festgestellt sein. Exakte Mess- und Testergebnisse sind beim Kläger aufgrund der schweren cerebralen Beeinträchtigung aber nicht zu erhalten.

Auch die Voraussetzungen der Nr.2 des Art.1 Abs.2 Satz 2 BayBlindG sind nicht erfüllt.

Nach der Rechtsprechung des BSG (31.01.1995, 1 RS 1/93 = SozR 3-5920 § 1 Nr.1; 26.10.2004, B 7 SF 2/03 R; 20.07.2005, B 9a BL 1/05 R) ist es zwar für die Feststellung faktischer Blindheit im Sinn der Nr.2 nicht maßgeblich, auf welchen Ursachen die Störung des Sehvermögens beruht und ob das Sehorgan selbst geschädigt ist. Auch cerebrale Schäden, die zu einer Beeinträchtigung des Sehvermögens führen, sind beachtlich, und zwar für sich allein oder im Zusammenwirken mit Beeinträchtigungen des Sehorgans. Allerdings ist in Abgrenzung vor allem zu Störungen aus dem Bereich der seelisch-geistigen Behinderung zu differenzieren, ob das Sehvermögen, das heißt das Sehen- bzw. Erkennen-Können beeinträchtigt ist, oder ob - bei vorhandener Sehfunktion - (nur) eine zentrale Verarbeitungsstörung vorliegt, bei der das Gesehene nicht richtig identifiziert bzw. mit früheren visuellen Erinnerungen verglichen werden kann, die also nicht (schon) das Erkennen, sondern (erst) das Benennen betrifft. Ausfälle allein des Bennen-Könnens erfüllen mithin die Voraussetzungen faktischer Blindheit nicht.

Bei Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden ist darüber hinaus eine weitere Differenzierung erforderlich: Es muss sich im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Zum Nachweis einer zu faktischer Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens genügt es insoweit, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist als die Wahrnehmung in anderen Sinnesmodalitäten. Bei einem vollständigen apallischen Syndrom ist dies nicht der Fall (BSG vom 20.07.2005, a.a.O.).

Diese vom BSG entwickelte zusätzliche Differenzierung beim Vorliegen umfangreicher cerebraler Schäden entspricht dem aus den Motiven des BayBlindG (Landtagsdrucksache 13/458 vom 16.02.1995, S.5) sich ergebenden Willen des Landesgesetzgebers insoweit, als dieser Leistungen nach dem BayBlindG aufgrund einer ausschließlich als Folge einer generellen cerebralen Behinderung mit allgemeiner Herabsetzung der kognitiven Fähigkeiten bestehen Unfähigkeit zur visuellen Wahrnehmung ausschließen wollte.

Beim Kläger liegt eine derartige generelle cerebrale Behinderung mit im Wesentlichen gleichmäßiger und allgemeiner Herabsetzung der Wahrnehmungs- und Verarbeitsfähigkeit sensorischer Reize vor. Infolge der durch Sauerstoffmangel nach zeitweiligem Herzstillstand (1990) aufgetretenen cerebralen Schäden befindet sich der Kläger im sog. Wachkoma (apallisches Syndrom). Das Vollbild eines solchen Syndroms ist gekennzeichnet durch den vollständigen Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit, also permanente Bewusstlosigkeit, bei Erhalt der vegetativen Körperfunktionen.

Die in den Akten enthaltenen medizinischen Unterlagen belegen, dass beim Kläger ein dem Vollbild des apallischen Syndroms angenäherter Zustand vorliegt. Entsprechend den Feststellungen des Sachverständigen Prof.Dr.S. ist ein Kontakt mit dem Kläger nicht gegeben, kognitive Möglichkeiten bestehen nicht. Die Sensibilität bei Berührung und Schmerzen im Bereich des Gesichts ist "bei fehlender compliance" nicht beurteilbar. Eine Reaktion auf aromatische Geruchsstoffe fehlte. Entsprechend den Feststellungen des Prof.Dr.D. war der Kläger nicht ansprechbar. Aus alldem ergibt sich der Schluss, dass beim Kläger Reaktionen auf sensible Reize - falls überhaupt - in ganz rudimentärer, schwacher Form vorhanden sind; deutliche Unterschiede in der Funktionsfähigkeit der verschiedenen Sinnesmodalitäten bestehen nicht. Insbesondere ist eine deutlich schlechtere Funktion des visuellen Sinnes, der ja nicht völlig fehlt, sondern bei dem noch eine prompte und seitengleiche Pupillenlichtreaktion erhalten ist, nicht vorhanden.

Da somit nach den vom BSG (Urteil vom 20.07.2005) aufgestellen Kriterien das Vorliegen faktischer Blindheit im Sinn des Art.1 Abs.2 Satz 2 Nr.2 BayBlindG nicht bewiesen ist, musste die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 15.01.2003 zurückgewiesen werden.

Die von der Klägerseite zitierte Entscheidung des LSG Sachsen-Anhalt vom 20.08.1998 vermag - insbesondere im Hinblick auf die o.a. Entscheidung des BSG vom 20.07.2005 - die gegenteilige Auffassung nicht zu begründen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 SGG.

Der Senat konnte durch den zuständigen Berichterstatter als Einzelrichter entscheiden (§ 155 Abs.3, 4 SGG), weil die Beteiligten dazu ihr Einverständnis erklärt haben.

Zur Zulassung der Revision bestand im Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG kein Anlass.
Rechtskraft
Aus
Saved