S 9 AS 45/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 9 AS 45/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AS 16/06
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe der Leistungen nach dem 2. Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die Klägerin und ihre 1988 und 1989 geborenen Kinder beziehen als Bedarfsgemeinschaft Leistungen nach dem SGB II (Bewilligungsbescheid vom 18.04.2005). Für den Leistungszeitraum 01.04. bis 30.09.2005 sind ihnen vom Beklagten bewilligt: - Leistungen für Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe - Regelleistung Klägerin 345 Euro - Regelleistung Kinder je 276 Euro - Mehrbedarf Alleinerziehung (§ 21 SGB II) 83 Euro und das um die gesetzlichen Freibeträge bereinigte Erwerbseinkommen wird angerechnet.

Im April 2005 wurden außerdem Kosten einer Klassenfahrt der Tochter der Klägerin nach Berlin (248,80 Euro) übernommen.

Die Klägerin, deren Widerspruch gegen die Leistungshöhe der Beklagte zurückgewiesen hat (Bescheid vom 01.06.2005), trägt mit der hiergegen erhobenen Klage vor, dass die Regelsätze, insbesondere bei Jugendlichen nicht bedarfsdeckend seien. Die Festsetzung der Regelbeiträge in der jetzt geltenden Höhe wahre das Existenzminimum nicht und sei damit verfassungswidrig. Die pauschalierte Abgeltung bisheriger einmaliger Bedarfe sei nicht ausreichend, um die entsprechenden Beträge anzusparen. Die Bemessung der Regelsätze beruhe im Übrigen auf veralteten und nicht hinreichend fortgeschriebenen Berechnungen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 18.04.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.06.2005 zu verurteilen, der Klägerin höhere Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II zu bewilligen.

Die Bevollmächtigte der Beklagten beantragt,

die Klage abzuweisen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Insbesondere fehlt es trotz der abstrakten Klagebegründung ohne Darlegung eigener Betroffenheit nicht am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis, da die Klägerin aus der von ihr gerügten Verfassungswidrigkeit des SGB II einen höheren Leistungsanspruch ableitet.

Die Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig, ein höherer Leistungsanspruch steht der Klägerin nicht zu. Der Beklagte hat insbesondere die Höhe der Regelleistung zutreffend festgesetzt.

Die Höhe der Regelleistung beträgt für die Klägerin 345 Euro, für ihre Kinder 276 Euro (§ 20 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 SGB II).

Anders als die Klägerin ist das Gericht nicht von der Verfassungswidrigkeit der Vorschriften über die Regelsatzhöhe überzeugt.

Die gesetzlich festgeschriebene Höhe der Regelleistung (§ 20 Abs. 2 SGB II) und die hiermit verbundene Einschränkung des Leistungsumfangs für ehemalige Bezieher von Alhi, die das Vierte Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl. I, 2954, sog. "Hartz IV") vorgenommen hat, beinhalten keinen Eingriff in die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Die Kammer folgt insoweit nach eigener Prüfung der Rechtsprechung der 11. Kammer dieses Gerichts (Urt. v. 15.06.2005, S 11 AS 15/05 und vom 22.06.2005, S 11 AS 6/05).

Aus der staatlichen Verpflichtung zu Schutz und Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsgrundsatz (Art. 20 Abs. 1 GG) folgt ein Anspruch des Einzelnen auf Gewährleistung der (wirtschaftlichen) Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein (BVerfG, Beschluss vom 29.05.1990, 1 BvL 20/84 = E 82, 60, 80 = SozR 3-5870 § 10 Nr. 1), d.h. auf Gewährleistung einer Lage, in der die "persönlichkeitsessentiellen Außenweltgüter" beschafft werden können (Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 44; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 10. Aufl., 2004, Art. 1, Rn. 42). Einen Anspruch auf eine hierüber hinausgehende "angemessene" Versorgung des Einzelnen durch den Staat ergibt sich weder aus Art. 1 Abs. 1 GG noch aus einem anderen Grundrecht (Hofmann, a.a.O.). Daher obliegen alle sozialen Hilfen, die über die Gewährleistung der absolut unerlässlichen Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein hinausgehen, der Entscheidung des Gesetzgebers. Dem Gesetzgeber kommt hierbei ein weiter sozialpolitischer Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfG a.a.O., ferner Beschluss vom 25.09.1992, 2 BvL 5/91 = E 87, 153, 170; Urteil vom 08.10.1985, 1 BvL 17/83 = E 70, 278, 288; Beschluss vom 13.01.1982, 1 BvR 848/77 = E 59, 231, 263; Beschluss vom 18.06. 1975, 1 BvL 4/74 = E 40, 121, 133; aus der Literatur Rothkegel, in: ders., Handbuch Sozialhilferecht – Existenzsicherung – Grundsicherung, 2005, Teil V, Kap. 4, Rn. 4 ff.); die Gerichte dürfen die Zielsetzungen und Wertungen des Gesetzgebers bereits aus Gründen der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht durch eigene ersetzen. Aufgrund dieses Gestaltungsspielraums ist der Gesetzgeber gerade nicht an ein bestimmtes Konzept und ein bestimmtes System von Sozialleistungen gebunden (vgl. ausführlich SG Schleswig, Beschluss vom 08.03.2005, S 6 AS 70/05 ER), solange Hilfsbedürftige nur in der Lage sind, ihren allernotwendigsten Lebensunterhalt aus den erbrachten Leistungen zu decken. Der Gesetzgeber ist insoweit nicht gehalten, einen einmal gewählten Mindeststandard der Fürsorge beizubehalten, solange die vorgenannten Vorgaben beachtet werden.

Angesichts dieses gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums greift auch der Einwand nicht durch, der Gesetzgeber habe sich bei der Festsetzung der Regelsätze nach § 20 Abs. 2 SGB II eines fehlerhaften Verfahrens bedient (so z. B. Sartorius, info also 2005, 56, 57 f. m.w.N.; einschränkend Däubler, NZS 2005, 225, 227 ff.) und seine Entscheidung nicht hinreichend transparent gemacht (ausdrücklich für eine Darlegungslast des Gesetzgebers bei Neustrukturierungen im Sozialleistungsrecht: Lang, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, 2005, § 20, Rn. 111): Ob ein Eingriff in die die Menschenwürde und ein Verstoß gegen den Sozialstaatsgrundsatz vorliegen, bemisst sich nicht danach, ob die dem Gesetzeserlass vorgelagerte politische Entscheidung konsistent und mit der erlassenen Vorschrift konsequent umgesetzt ist. Maßgeblich ist vielmehr allein, ob es zu einer Unterschreitung des von Artt. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG vorgegebenen Leistungsniveaus kommt. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zum Gestaltungsspielraum bei Erlass der Regelsatzverordnungen nach § 22 Abs. 2 Satz 1 des aufgehobenen Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), wonach die der Regelsatzfestsetzung zugrunde liegenden Wertungen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben vertretbar sein und die Regelsatzfestsetzung selbst auf ausreichenden Erfahrungswerten beruhen musste (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 18.12.1996, 5 C 47/95 = E 102, 366 ff. = ZFSH/SGB 1997, 609 ff), lässt sich auf die verfassungsrechtliche Würdigung von § 20 Abs. 2 SGB II nicht übertragen. Denn im SGB II erfolgt die Regelsatzbemessung durch gesetzliche Regelung während nach altem Recht die Vereinbarkeit einer Verordnung mit der generalklauselartigen gesetzlichen Vorgabe in § 12 Abs. 1 BSHG zu beurteilen war, die – anders als nun § 20 Abs. 2 SGB II – gerade keine bezifferte Vorgabe enthielt.

§ 20 Abs. 2 SGB II unterschreitet das verfassungsrechtlich vorgegebene Mindestleistungsniveau nicht.

Die genaue Bestimmung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins lässt sich nur unter Würdigung der Umstände des Einzelfalls beantworten (vgl. Lang, a.a.O., Rn. 113). Umstände des Einzelfalls sind vorliegend nicht dargelegt, so dass das Gericht schon in tatsächlicher Hinsicht nicht feststellen kann, dass der Klägerin mit dem Regelsatz des § 20 Abs. II SGB II ein menschwürdiges Dasein verwehrt ist. Hierzu fehlt jeder Vortrag, da sich die Klägerin auf allgemeine Erwägungen beschränkt.

Allgemein ist zu sagen, dass sich die staatliche Gewährleistungspflicht nicht auf die bloße Sicherung der körperlichen Existenz ("das physiologisch Notwendige") beschränkt (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 13.12.1990, 5 C 17/88 = E 87, 212, 214; Urteil vom 22.04.1970, V C 98.69 = E 35, 178, 180; aus der Literatur etwa Höfling, in: Sachs, GG, 2. Aufl., 1999, Art. 1, Rn. 25; Däubler, a.a.O., S. 226; Waltermann, Sozialrecht, 4. Aufl., 2004, Rn. 470) und auch die Gewährleistung eines "soziokulturellen Existenzminimums" (Rothkegel, a.a.O., Teil II, Kap. 3, Rn. 28) sowie einen Schutz vor öffentlicher Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung (BVerwG, Urteil vom 25.11.1993, 5 C 8/90 = E 94, 326, 333; Urteil vom 11.11.1970, V C 32.70 = E 36, 256, 258) beinhaltet. Bei der hierzu erforderlichen materiellen Ausstattung ist allerdings eine Beschränkung auf die niedrigste Ausstattungskategorie (und im Regelfall auf Gebrauchtware) zumutbar (BVerwG, Urteil vom 01.10.1998, 5 C 19/97 = E 107, 234, 239 m.w.N.; Däubler, a.a.O.).

Der Gesetzgeber hat in § 20 Abs. 2 SGB II beiden Komponenten des verfassungsrechtlich garantierten Leistungsniveaus Rechnung getragen; er hat insbesondere in § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II die verfassungsrechtliche Garantie auch der soziokulturellen Existenz berücksichtigt. Ergänzt wird § 20 Abs. 2 SGB II um eine Reihe von Handlungsinstrumenten, mit denen die Sozialverwaltung einer sozialen Stigmatisierung und Ausgrenzung der Hilfebedürftigen entgegen wirken kann. So sind zumindest manche der Fälle, in denen bereits unter Geltung des BSHG eine drohende soziale Ausgrenzung bei Leistungsverweigerung angenommen worden ist, im SGB II durch Leistungen außerhalb der Regelleistung abgedeckt: Dies gilt etwa für die Teilnahme an Klassenfahrten (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II; vgl. BVerwG, Urteil vom 09.02.1995, 5 C 2/93 = E 97, 376, 378), für die Ausstattung mit Haushaltsgeräten (§ 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 a.E. SGB II, vgl. BVerwG, Urteil vom 01.10.1998, 5 C 19/97 = E 107, 234, 236) und für die Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II). Individuellen Bedürfnissen des Hilfebedürftigen trägt das Gesetz etwa in § 21 Abs. 5 SGB II Rechnung.

Dies kommt insbesondere auch der Klägerin zugute, denn sie bezieht Leistungen für Mehrbedarf wegen Alleinerziehung und hat auch Leistungen für die Teilnahme ihrer Tochter an einer Klassenfahrt erhalten. Die Kammer hält vor diesem Hintergrund einen pauschalierenden Grenzwert, unterhalb dessen der Regelsatz wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde und Unterschreitung des Existenzminimums nicht mehr als verfassungsgemäß angesehen werden könnte, nicht für ermittelbar. Vielmehr wäre entsprechend dem im früheren Sozialhilferecht geltenden Individualisierungsgrundsatz wohl für den Einzelfall zu ermitteln, ob dem Hilfebedürftigen auch unter Ausnutzung sämtlicher gesetzlicher Ansprüche kein menschenwürdiges Dasein mehr möglich ist und ob in einem derartigen Extremfall tatsächlich auf verfassungsrechtliche Erwägungen zurückgegriffen werden müsste, oder ob nicht etwa über § 23 Abs. 1 Satz 1, 44 SGB II (vgl. hierzu SG Berlin, Urteil vom 02.08.2005, S 63 AS 1311/05) unter Rückgriff auf das allgemeine fürsorgerechtliche Bedarfsdeckungsprinzip (zu den fürsorgerechtlichen Grundsätzen nach altem Recht vgl. Grube in Brube/Wahrendorf, SGB XII, Einl. Rdz. 37) Abhilfe zu schaffen wäre. Im vorliegenden Fall besteht hierfür allerdings kein Anlass, denn es ist weder dargetan noch ersichtlich, dass die Klägerin ihren allernotwendigsten Lebensunterhalt nicht auch mit der Regelleistung und dem ihr bewilligten Mehrbedarf decken kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Rechtskraft
Aus
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