S 20 RJ 952/03

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 20 RJ 952/03
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid der Beklagten vom 24.06.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.09.2003 wird geändert. 2. Die Beklagte wird verurteilt, die dem Kläger gewährte Regelaltersrente unter Berücksichtigung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten im September, Oktober und November 1939 neu zu berechnen. 3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Berücksichtigung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten von September bis November 1939 in Radom.

Der Kläger wurde am XX.X.1924 in Radom / Polen geboren. Als polnischer Jude wurde er Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Er ist als Verfolgter des Nationalsozialismus im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt. Der Kläger lebt seit 1948 in den USA. Er hat die dortige Staatsangehörigkeit.

Im Verfahren zur Durchführung des Bundesentschädigungsgesetzes beim Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg – Wiedergutmachungsstelle (Az. ES-30955) hat der Kläger im Antragsformular zur Anmeldung von ´Schaden an Freiheit` in der Spalte "Haftanst. gleichzus. Lager, ähnl. Institutionen und Zwangsarbeit" lediglich angegeben: "Cieszanow von April 1940 bis Februar 1941". Zwangsarbeiten in Radom wurden in dem Antrag nicht erwähnt.

In einem nervenärztlichen Gutachten des H. W., M.D., aus dem Jahr 1968 heißt es über den Kläger, er "war fast 15 Jahre alt, als er nach 7 Klassen die Volksschule beendete. ( ...) Er hatte gehofft, sich als Zahnarzt auszubilden, fing während des Sommers 1939 an, als Zahntechniker für einen Zahnarzt zu arbeiten. Beim Anfang der deutschen Besetzung Polens im September 1939 wurde er hin und wieder auf der Straße zur Zwangsarbeit gefordert, musste Reinigungsarbeit verrichten, musste Baracken sauber machen, musste Schuhe putzen, musste auch Feldarbeit verrichten. Ende 1939 wurde er gezwungen, den Judenstern zu tragen, wurde häufiger zur Zwangsarbeit gefordert, wurde hin und wieder auch misshandelt, musste schon Hunger erdulden."

In einem weiteren ärztlichen Gutachten aus dem Jahr 1968 sind die Angaben des Klägers wie folgt wiedergegeben: "Kurz vor der deutschen Besetzung hatte er begonnen, bei einem Zahnarzt zu arbeiten. Bereits im September 39 wurde er gelegentlich zu einfachen Straßensäuberungsarbeiten geholt. Später kamen andere Arbeiten hinzu."

Am 15.11.2002 beantragte der Kläger über seinen damaligen Bevollmächtigten Altersrente unter Anerkennung von im Ghetto Radom zurückgelegten Beitragszeiten. Mit Bescheid vom 24.6.2003 gewährte die Beklagte dem Kläger Regelaltersrente unter Anwendung der Vorschriften des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Dabei wurden Verfolgungsersatzzeiten ab 1.12.1939 berücksichtigt.

Gegen den Bescheid erhob der damalige Bevollmächtigte des Klägers am 23.7.2003 Widerspruch. Er machte die Berücksichtigung der Monate September bis November 1939 als Ersatzzeiten geltend.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.9.2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Gemäß § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI seien Ersatzzeiten bei Freiheitsentziehung im Sinne des § 43 BEG oder Freiheitseinschränkung im Sinne des § 47 BEG anzuerkennen. Nach § 47 Abs. 1 BEG liege eine Freiheitsbeschränkung u.a. dann vor, wenn der Verfolgte den Judenstern getragen habe oder unter menschenunwürdigen Bedingungen in der Illegalität gelebt habe. Weitere Tatbestände der Freiheitseinschränkung seien vom Gesetzgeber ausdrücklich nicht aufgenommen worden. Die Voraussetzung des "Sterntragens" habe in den eingegliederten Ostgebieten frühestens ab Oktober/November 1939 vorgelegen. Konkret sei in Radom / Generalgouvernement das Tragen von Kennzeichen für Juden durch Verordnung vom 23.11.1939 mit Wirkung vom 1.12.1939 angeordnet worden. Ersatzzeiten für September bis November 1939 könnten daher nicht anerkannt werden.

Mit der am 14.10.2003 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Anliegen fort. Zur Begründung trägt er durch seine Prozessbevollmächtigte vor, der Kläger sei zu Beginn der Besetzung Polens arbeitslos gewesen. Er sei, wie alle Juden, teilweise auf der Straße von Greifkommandos mitgenommen worden und habe Straßen, Baracken u. ä. reinigen bzw. Feldarbeit verrichten müssen. Eine herkömmliche Anstellung bzw. Ausbildung sei ihm auf Grund der Verfolgung nicht möglich gewesen. Es sei daher eine Ersatzzeiten wegen Arbeitslosigkeit anzuerkennen. Außerdem sei der Kläger auch in seiner Freiheit eingeschränkt gewesen, bzw. sei ihm die Freiheit entzogen worden, denn der Kläger sei von Greifkommandos mitgenommen und zu unterschiedlichen Arbeiten gezwungen worden. Es handele sich um eine Freiheitsentziehung i. S. des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI, denn die Zwangsarbeit unter ähnlichen Bedingungen sei der Freiheitsentziehung gleichgestellt. Es genüge, dass die haftähnlichen Bedingungen während der Arbeitszeit vorgelegen haben, haftähnliche Beschränkungen auch außerhalb der Arbeitszeit seien nicht erforderlich. Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen liege insbesondere vor bei Arbeitsleistung unter polizeilicher oder militärischer Überwachung, bei Absonderung von freien Arbeitern, entwürdigender Behandlung und Anwendung von Körperstrafen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 24.6.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.9.2003 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, die dem Kläger gewährte Regelaltersrente unter Berücksichtigung verfolgungsbedingter Ersatzzeiten im September, Oktober und November 1939 neu zu berechnen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung führt sie aus, der Kläger habe im Rentenverfahren selbst angegeben, noch bis Sommer 1939 Schüler gewesen zu sein. Er habe damit bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht einer Arbeitsverwaltung zur Verfügung gestanden, weshalb Arbeitslosigkeit nicht vorgelegen haben könne. Die Arbeitslosigkeit sei bereits vor Kriegsbeginn eingetreten und daher nicht aus Verfolgungsgründen entstanden.

Das Gericht hat zur Ermittlung des Sachverhalts die bei dem Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg, Wiedergutmachungsstelle, geführte den Kläger betreffende Entschädigungsakte – Az. ES – 30955 - beigezogen.

Auf Anregung der Beklagten hat das Gericht beim Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg, Wiedergutmachungsstelle, eine Stellungnahme zu den Lebensbedingungen der jüdischen Bevölkerung in Radom in der ersten Zeit nach der Besetzung durch die deutschen Truppen eingeholt. In der Stellungnahme der Entschädigungsbehörde vom 15.3.2005 heißt es u.a., im September 1939 habe ein "intensiver Einsatz von Polen für körperliche Tätigkeiten im Dritten Reich" begonnen. Zu der Stellungnahme des Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers vorgetragen, bei den Entschädigungsbehörden der Länder handele es sich nicht um unabhängige Institute historischer Forschung, weshalb sie auch nicht die Kompetenz hätten, Fragen zu historischen Sachverhalten zu beantworten. Die Einlassung des Landesamtes suggeriere zudem, dass der jüdischen Teil der polnischen Bevölkerung von dem Arbeitseinsatzes ausgenommen und geschont worden sei. Dies sei selbstverständlich nicht so gewesen. Vielmehr ergebe sich aus der Enzyklopädie des Holocaust (Bd. II, S. 1135), dass die Juden zu Beginn der Okkupation in den Straßen zusammengetrieben und zu Gelegenheitsarbeiten herangezogen worden seien. Im Oktober 1939 sei die Verfolgung der Juden mit der Errichtung des Generalgouvernement noch intensiviert worden.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme vom 13.12.2005 ist der Historiker und Universitätsprofessor Prof. Dr. F. G. als Sachverständiger gehört worden. Zu den Verhältnissen in Radom im Zeitraum September bis November 1939 hat er ausgeführt, nach der Besetzung von Radom am 8.9.1939 sei dort ein Verwaltungsregime errichtet worden, das demjenigen im übrigen Generalgouvernement entsprochen habe. Am 26.10.1939 sei die Verordnung über den Arbeitszwang der Juden erlassen worden und am selben Tag in Kraft getreten. Die Situation habe sich daher von diesem Zeitpunkt an auf einer anderen Rechtsgrundlage abgespielt, sei jedoch zunächst weiter der Praxis der davor liegenden Wochen gefolgt. Diese Praxis habe darin bestanden, dass militärische und zivile Deutsche, Juden auf der Straße "abfangen" konnten und zu unterschiedlichen Arbeiten zwingen durften. Diese Arbeiten seien in der Regel unter kontinuierlicher Aufsicht durch deutsche oder einheimische Hilfskräfte durchgeführt worden und hätten von den Betroffenen nicht ohne Gefahr für Leib und Leben verweigert werden können. In einer zweiten Phase hätten die eingesetzten Judenräte im Generalgouvernement die Arbeitsanforderungen der Deutschen kanalisiert und in Bezug auf die jüdische Bevölkerung durchgesetzt. Die Frage, ob außer Juden auch nichtjüdische Polen zur Zwangsarbeit herangezogen worden seien, ließe sich aus der bisher vorliegenden Literatur nicht ohne weiteres beantworten. Die vorliegenden Berichte handelten ausschließlich von Juden. Die generelle Politik gegenüber den Polen im Generalgouvernement habe anfangs - von brutalen Maßnahmen gegenüber der Oberschicht und der Intelligenz abgesehen - keine weitergehenden Zwangsmaßnahmen gegen die nichtjüdische polnischen Bevölkerung vorgesehen. Als Beispiel für die Sonderbehandlung der jüdischen Bevölkerung nannte der Sachverständige die Lebensmittelnormen für die Mitte Oktober 1939 eingeführten Lebensmittelkarten. Diese seien für die jüdische Bevölkerung um die Hälfte geringer gewesen als für die polnische Bevölkerung.

Die weiteren Einzelheiten der Beweisaufnahme sind in der Niederschrift vom 13.12.2005 niedergelegt. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes insgesamt wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Rentenakte der Beklagten verwiesen. Die Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Die Rentenakte der Beklagten und die Prozessakte enthalten Kopien der maßgeblichen Dokumente aus der den Kläger betreffenden Entschädigungsakte.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch darauf, dass die Monate September bis einschließlich November 1939 als verfolgungsbedingte Ersatzzeiten bei der Berechnung seiner Altersrente berücksichtigt werden. Ihm war in dieser Zeit die Freiheit entzogen, da er als Verfolgter des Nationalsozialismus Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen leisten musste.

Gem. § 250 Abs. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) sind bei Versicherten, die dem Personenkreis des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes angehören, nach vollendetem 14. Lebensjahr Ersatzzeiten u.a. dann zu berücksichtigen, wenn sie in ihrer Freiheit eingeschränkt gewesen oder ihnen die Freiheit entzogen worden ist. Eine Freiheitseinschränkung oder Freiheitsentziehung im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI liegt jedenfalls dann vor, wenn einer der Tatbestände der §§ 43 oder 47 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) erfüllt ist, denn auf diese Normen des BEG bezieht sich der Klammerzusatz in § 250 Abs. 1 Nr. 4, 1. Halbsatz SGB VI.

Gem. 43 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BEG hat der Verfolgte Anspruch auf Entschädigung, wenn ihm in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 die Freiheit entzogen worden ist. Eine Freiheitsentziehung liegt insbesondere vor bei polizeilicher oder militärischer Haft, Inhaftnahme durch die NSDAP, Untersuchungshaft, Strafhaft, Konzentrationslagerhaft und Zwangsaufenthalt in einem Ghetto. Gem. § 43 Abs. 3 BEG sind der Freiheitsentziehung Leben unter haftähnlichen Bedingungen, Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen und Zugehörigkeit zu einer Straf- oder Bewährungseinheit der Wehrmacht gleichgeachtet.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), ist der Tatbestand der Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen erfüllt, wenn der Arbeitseinsatz selbst unter haftähnlichen Bedingungen stattfand. Seine früher vertretene Auffassung, wonach der Tatbestand der Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen erst dann zu bejahen sei, wenn der Verfolgte auch außerhalb des Arbeitseinsatzes unter haftähnliche Bedingungen leben musste, hat der BGH mit Urteil vom 25.6.1979 mit der überzeugenden Begründung aufgegeben, § 43 Abs. 3 BEG stelle des Leben unter haftähnlichen Bedingungen neben die Zwangsarbeit unter eben diesen Bedingungen. Würde die Entschädigung voraussetzen, dass der Verfolgte während des Arbeitseinsatzes und auch in seinem übrigen Leben unter haftähnlichen Bedingungen stand, dann wäre dieser Tatbestand im Ganzen durch den Begriff des `Lebens unter haftähnlichen Bedingungen´ gedeckt und es bedürfte keines Tatbestandes der `Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen´ (BGH, Urteil vom 25.6.1979, RzW 1970, 546 f.)

Diese am Wortlaut der Norm ansetzende Auslegung des § 43 Abs. 3 BEG hat auch die Kammer ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt. Von Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen ist danach insbesondere dann auszugehen, wenn die Arbeitsleistung unter militärischer oder polizeilicher Bewachung und/oder bei Androhung bzw. Anwendung von schweren Strafen erfolgt, denn unter solchen Bedingungen ist der Verfolgte erheblichen Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit unterworfen, so dass die Umstände der Zwangsarbeit denjenigen der Haft sehr nahe kommen (vgl. Klattenhoff in Hauck/Noftz, Gesetzliche Rentenversicherung, Stand 5/05, zu § 250 SGB VI, Rn 222; zum Begriff ´Leben unter haftähnlichen Bedingungen` vgl. Bundesminister der Finanzen - Hrsg. - Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts durch die Bundesrepublik Deutschland, 1981, Bd. IV, 1. Teil, S. 450).

Der Kläger hat zur Überzeugung der Kammer in den Monaten September bis November 1939 in Radom Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen leisten müssen.

Das Gericht hält es auf Grund der in der Entschädigungsakte befindlichen Dokumente für überwiegend wahrscheinlich, dass der Kläger ab September 1939 zu Zwangsarbeiten herangezogen wurde. Aus den Angaben in den ärztlichen Gutachten geht hervor, dass der Kläger bereits im September 1939 gelegentlich zu Straßensäuberungsarbeiten "geholt worden" ist.

Das Gericht hat keinen Anlass, die Richtigkeit dieser übereinstimmenden Angaben anzuzweifeln. Insbesondere ist der Umstand, dass der Kläger im BEG-Antragsformular unter der Rubrik "Haftanstalt, gleichzusetzende Lager, ähnliche Institutionen und Zwangsarbeit" nicht auf die verrichtete Zwangsarbeit ab September 1939 in Radom hingewiesen hat, nicht geeignet, die Zuverlässigkeit der Angaben in den ärztlichen Gutachten in Frage zu stellen. Es erscheint der Kammer nämlich gut nachvollziehbar, dass der Kläger die gelegentliche Heranziehung zu Zwangsarbeiten ab September 1939 in Radom selbst nicht als eine Form des Freiheitsentzuges erlebt hat, der dem Aufenthalt in einer Haftanstalt oder ähnlichen Institution gleichzusetzen war und in diese Rubrik einzutragen gewesen wäre.

Die Angaben im Entschädigungsverfahren werden durch die historischen Erkenntnisse über die Zustände im Generalgouvernement im September bis November 1939 bestätigt. Die Heranziehung der jüdischen Bevölkerung zu Zwangsarbeiten infolge der Besetzung durch die Deutschen ist historisch gesichert. Der geschichtswissenschaftliche Sachverständige hat in der mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme überzeugend ausgeführt, dass militärische und zivile Deutsche, Juden auf der Straße "abfangen" konnten und zu unterschiedlichen Arbeiten zwingen durften. Die Zwangsarbeiten seien in der Regel unter kontinuierlicher Aufsicht durch Deutsche oder einheimische Hilfskräfte durchgeführt worden. Die Betroffenen hätten die Arbeiten nicht ohne Gefahr für Leib und Leben verweigern können. Erst in einer zweiten Phase seien die Arbeitsanforderungen der Deutschen durch die Judenräte im Generalgouvernement kanalisiert worden.

Diese Umstände, unter denen Zwangsarbeit im hier fraglichen Zeitraum zu verrichten war, erfüllen die Voraussetzungen des § 43 Abs. 3 BEG. Sie erfolgten in der Regel unter Bewachung und bei Androhung bzw. Anwendung von schweren Strafen und waren daher mit erheblichen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit verbunden.

Das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Freiheitsentziehung i. S. des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI hält die Kammer nach alledem für überwiegend wahrscheinlich und damit glaubhaft (§ 23 Abs. 1 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X), was im Rahmen der Feststellung der für Verfolgungs-Ersatzzeiten erheblichen Tatsachen ausreicht (Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, Teil II, SGB VI, Stand Jan. 2005, zu § 250 Rn 138).

Da der Kläger Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen im Sinne des § 43 Abs. 3 BEG geleistet hat, kann dahinstehen, ob es sich bei dem Klammerzusatz in § 250 Abs. 1 Nr. 4, 1. Halbsatz SGB VI um einen abschließenden Verweis auf die Tatbestände der §§ 43 und 47 BEG handelt oder ob zur Vermeidung von Regelungslücken eine weite Auslegung des § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI geboten ist, die auch Zwangsarbeit unter nicht haftähnlichen Bedingungen erfasst (so SG Hamburg, Urteil vom 9.9.2005, S 26 RJ 389/04, veröffentlicht in Juris).

Auch die übrigen Voraussetzungen für die Anerkennung einer Ersatzzeit nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI sind erfüllt. Der Kläger gehört unstreitig zum Personenkreis des § 1 BEG. Er ist auf Grund seiner jüdischen Abstammung Opfer nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen geworden und hat dadurch Schaden im Sinne des § 1 Abs. 1 BEG erlitten, was im Rahmen des beim Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg durchgeführten Entschädigungsverfahrens festgestellt worden ist. Bei der Heranziehung zur Zwangsarbeit in den Monaten September bis November 1939 in Radom handelte es sich schließlich auch um eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 2 BEG. § 2 BEG definiert nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen (Verfolgungsmaßnahmen) als Handlungen, die aus den in § 1 BEG genannten Gründen auf Veranlassung oder mit Billigung einer Dienststelle oder eines Amtsträgers des Reiches, eines Landes, einer sonstigen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts, der NSDAP, ihrer Gliederungen unter ihrer angeschlossenen Verbände gegen den Verfolgten gerichtet worden sind, auch wenn sie auf gesetzlichen Vorschriften beruht haben oder in missbräuchlicher Anwendung gesetzlicher Vorschriften erfolgt sind. Eine Verfolgungsmaßnahme im Sinne des § 2 BEG ist – der Rechtsprechung zum Bundesentschädigungsgesetz folgend - dann zu bejahen, wenn die Maßnahme gegen eine bestimmte Person gerichtet war, d.h. der Geschädigte "individuell konkret" verfolgt worden ist (Blessin-Giessler, Bundesentschädigungs-Schlußgesetz, Kommentar 1967, zu § 2 Anm. b) aa) mit Hinwiesen auf die Rechtsprechung des BGH). Der Begriff der individuell-konkreten Verfolgung ist jedoch nicht zu eng zu fassen. Auch Maßnahmen, die sich gegen ganze Bevölkerungsgruppen richteten, stellen Verfolgungsmaßnahmen dar, wobei es bei der Beurteilung eines Verhaltens als Verfolgungsmaßnahme nicht auf den Willen der nationalsozialistischen Verfolger ankommt, sondern darauf, wie das Verhalten der nationalsozialistischen Gewalthaber von einem "vernünftigen Beobachter unter Berücksichtigung der besonderen zeitlichen und örtlichen Verhältnisse zu verstehen war" (Blessin-Giessler, Bundesentschädigungs-Schlussgesetz, Kommentar 1976, zu § 2 Anm. b) bb) mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BGH).

Bei der Heranziehung von Juden zur Zwangsarbeit handelt es sich um Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des BEG. Das "Abgreifen" von Juden auf der Straße war, wie sich u.a. aus den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. G. ergibt, Ausdruck und Mittel der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten, die mit Beginn der Besetzung Polens auch gegen die dortige jüdische Bevölkerung gerichtet war und ihren "förmlichen" Ausdruck im Generalgouvernement mit Erlass der Verordnung über den Arbeitszwang der Juden im Oktober 1939 und den weiteren später in Kraft getretenen Durchführungsverordnungen fand. Die Praxis des "Abgreifens" bestand den Ausführungen des Sachverständigen zufolge darin, dass militärische oder zivile Deutsche Juden auf der Straße abfangen konnten und zu unterschiedlichen Arbeiten zwingen durften. Die Zwangsarbeit wurde demnach durch Dienststellen oder Amtsträger des Reiches bzw. durch zivile Einzelpersonen mit Billigung der Besetzungsmacht durchgesetzt.

Zwar hat der geschichtswissenschaftliche Sachverständige darauf hingewiesen, dass auch nichtjüdische Polen, insbesondere Angehörige der Oberschicht und der Intelligenz, Opfer brutaler Maßnahmen durch die Okkupanten wurden. Aufgrund der historisch gesicherten Tatsachen, wie sie etwa bei Musial (Bogdan Musial, Die Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement, Wiesbaden 1999) beschrieben werden, kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass es den deutschen Machthabern auch im besetzten Polen von Beginn an darum ging, die nationalsozialistische antijüdische Politik umzusetzen, auch wenn es hierfür auf dem Gebiet des Generalgouvernements zunächst keine einheitlich Steuerung gab. "Unmittelbar nach der Besetzung leiteten die Einsatzgruppe und die Militärverwaltung eine Reihe von antisemitischen Maßnahmen ein, welche die Grundlage der zukünftigen antijüdischen Politik im besetzten Polen schaffen sollten. ( ...) Für die eigentliche antijüdische Politik war vor allem die Einsatzgruppe zuständig, die hierin eine beachtenswerte Initiative entwickelte. Bereits 1938 erhielt die Sicherheitspolizei, die weitgehend das Personal für die Einsatzgruppe stellte, im Reich Kompetenzen für die antijüdischen Politik. Es war nun folgerichtig, dass sich die Sicherheitspolizei auch im besetzten Polen für diese Fragen zuständig hielt" (Musial, a.a.O., S. 106, 108). Zur Zwangsarbeit der Juden heißt es bei Musial: "Während des Kriegsverlaufs und unmittelbar danach zogen verschiedene deutsche Einheiten und Dienststellen die Juden zur Zwangsarbeit heran. Im Distrikt Lublin, ähnlich wie in anderen Distrikten, geschah dies ungeregelt, willkürlich und vor allem unentgeltlich. Man bestellte die Arbeitskräfte bei Judenräten, doch häufig genug ergriff man die Juden auf den Straßen oder holte sie aus den Wohnungen heraus. In Biala Podlaska wurden im Oktober 1939 ´bis zu 300 jüdische Männer und Frauen zu den Säuberungsarbeiten der öffentlichen Gebäude und Kasernen herangezogen´. Da freiwillige Meldungen nicht erfolgten, wurden die Juden aus der Wohnung geholt und unter militärische Aufsicht gestellt" (Musial,.a.a.O, S. 115 f.). Vor dem Hintergrund dieser historischen Erkenntnisse hat die Kammer keinen Zweifel daran, dass die Anordnung von Zwangsarbeit gegenüber der jüdischen Bevölkerung im Generalgouvernement als Mittel und Ausdruck der Judenverfolgung und damit als Verfolgungsmaßnahme im Sinne des BEG zu verstehen ist.

Auch wenn die Heranziehung zur Zwangsarbeit womöglich auch die nichtjüdische polnische Bevölkerung betroffen hat - worauf die Beklagte hinweist - ändert dies an dem Charakter der Zwangsarbeit als gegen die jüdische Bevölkerung gerichtete Verfolgungsmaßnahme nichts. Dies ergibt sich schon daraus, dass es für die Annahme einer Verfolgungsmaßnahme nicht darauf ankommen kann, ob auch andere Personengruppen – sei es absichtlich oder zufallsbedingt - ihr zum Opfer fallen. Dass auch nichtjüdische Polen, insbesondere Angehörige der Intelligenz und Oberschicht, gezielt verfolgt und deportiert wurden, vermag die Ansicht der Beklagten daher nicht zu stützen. Wie der Sachverständige im Termin zur mündlichen Verhandlung im Übrigen ausgeführt hat, handeln die vorliegenden Berichte ausschließlich davon, dass Juden zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. Die generelle Politik gegenüber den Polen habe, von den genannten Gewaltmaßnahmen gegen bestimmte polnische Bevölkerungsgruppen abgesehen, anfangs keine weitergehenden Zwangsmaßnahmen vorgesehen. Im übrigen kommt es bei der Beurteilung einer Maßnahme als Verfolgungsmaßnahme i. S. des BEG – wie dargelegt - nicht auf den Willen der nationalsozialistischen Verfolger an, sondern darauf, wie das Verhalten der nationalsozialistischen Gewalthaber von einem "vernünftigen Beobachter" zu verstehen war. Aus dieser Sicht mussten sich die mit der Besetzung Polens beginnenden Gewalt- und Terrormaßnahmen, zu denen die Heranziehung zur Zwangsarbeit zählt, aufgrund der seit der Machtergreifung Hitlers betriebenen antisemitischen Politik der Nationalsozialisten als speziell gegen die jüdische Bevölkerung gerichtete Maßnahmen darstellen. Der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung von Verfolgsersatzzeiten für die Monate September bis November 1939, auch wenn er in diesem Zeitraum nicht täglich zur Zwangsarbeit herangezogen wurde. Gem. § 122 Abs. 1 SGB VI zählt ein Kalendermonat, auch wenn er nur teilweise mit rentenrechtlichen Zeiten belegt ist, als voller Monat. Es kommt daher auch nicht darauf an, wie oft der Kläger im streitigen Zeitraum zu Zwangsarbeiten herangezogen wurde.

Da die anzuerkennenden Ersatzzeiten sich auf den gesamten geltend gemachten Zeitraum beziehen, konnte die Kammer dahinstehen lassen, ob der Kläger im Zeitraum September bis November 1939 – soweit er keine Zwangsarbeiten verrichten musste - verfolgungsbedingt arbeitslos war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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