L 1 B 143/05 KR-ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 16 KR 351/05 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 B 143/05 KR-ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zum Anspruch auf Versorgung mit Immunglobulin in der Zeit nach der Entbindung, um einen Krankheitsschub bei bestehender Multipler Sklerose zu vermeiden.
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 04.07.2005 wird aufgehoben.

Die Beschwerdegegnerin wird im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für eine Versorgung der Beschwerdeführerin mit Im-munglobulin - bei einer stationären Entbindung in einem zugelassenen Kranken-haus (§ 108 SGB V) auf ärztliche Anordnung eines Krankenhausarztes und bei ei-ner ambulanten Behandlung auf der Grundlage ärztlicher Verordnungen - ab dem Zeitpunkt der Entbindung der Beschwerdeführerin für die Dauer von sechs Mona-ten zu übernehmen.

II. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Gründe:

I. Die Beschwerdeführerin (Bf.) begehrt im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Versor-gung mit Immunglobulin, das außerhalb des arzneimittelrechtlich zugelassenen Anwen-dungsbereichs (so genannter off-label-use) bei Multipler Sklerose (MS) verabreicht werden soll.

Die am ...1978 geborene Bf. leidet an einer im Frühjahr 2004 diagnostizierten vor-herrschend schubförmigen MS mit zwei gesicherten Schüben. Der voraussichtliche Ent-bindungstermin ihres zweiten Kindes ist der 05.09.2005.

Am 08.02.2005 beantragte die Bf. bei der Beschwerdegegnerin (Bg.) für die Zeit ab der Entbindung die Behandlung mit Immunglobulin. In der beigefügten Stellungnahme ist von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. K1 ... ausgeführt, während der Gravidi-tät trete die MS nur in seltenen Fällen akut in Erscheinung. Nach der Entbindung sei mit großer Wahrscheinlichkeit mit akuten Schüben zu rechnen. Eine prophylaktische Therapie nach der Entbindung sei dringend geboten, die nur mit Immunglobulin möglich sei. Inter-ferone, Copaxone, Azathioprin und Mitoxatron seien in der Schwangerschaft und Stillzeit kontraindiziert. Für die Behandlung mit Immunglobulin bei MS liege zwar keine Zulas-sung vor. In dem Konsensuspapier würden Immunglobuline aber als Mittel der 2. Wahl aufgeführt. Neuere Studien belegten eine Klasse 1 Evidenz der Wirksamkeit.

In der von der Bg. eingeholten Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Kranken-versicherung (MDK) vom 18.03.2005 ist ausgeführt, für die zugelassenen Basistherapeuti-ka bestünden für die Anwendung in der Schwangerschaft und während der Stillzeit Ein-schränkungen. Bei der Verabreichung von Copaxone an die stillende Mutter werde auf-grund der unzureichenden toxikologischen Datenlage zur Vorsicht geraten. Gleiches gelte auch für die Anwendung von Immunglobulinen in der Stillperiode innerhalb der bisher geprüften Indikationen. Die Risiken bei der spezifischen Behandlungssituation seien durch die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA bei Immunglobulin gegenüber der Anwen-dung von Copaxone sogar höher bewertet worden. Von der Cochrane MS-Gruppe sei ein-geschätzt worden, dass es für die präventive Therapie mit Immunglobulin Hinweise gebe, jedoch weitere Studien erforderlich seien. Bei sekundär progressiver MS habe eine kürz-lich veröffentlichte Studie keine Besserungen ergeben. Auch mit den drei im Oktober und November 2004 veröffentlichten Studien für die Anwendung bei schubförmig remittieren-dem Verlauf sei ein eindeutiger therapeutischer Nutzen nicht belegt. Die im September 2004 veröffentlichte Studie aus Israel mit Untersuchung während der Schwangerschaft und post partum sei wegen methodischer Mängel für einen wissenschaftlich ausreichend prüf-baren Wirksamkeitsnachweis ungeeignet. Die Studie weise eine kleine Fallzahl, eine retro-spektive Analyse und eine fehlende Verbindung auf. Nach der derzeitigen Studienlage könne von einer positiven Empfehlung nicht ausgegangen werden. Darüber hinaus stünden Alternativen zur Verfügung. Bei einem frühzeitigen Abstillen könne eine MS-Basistherapie eingeleitet werden. Auch könnte während der Stillperiode auf eine Basisthe-rapie verzichtet und erst bei Auftreten eines akuten Schubes mit Glukokortikoiden behan-delt werden. Eine höhere Schubfrequenz werde insbesondere in den ersten drei Monaten nach der Entbindung angenommen.

Mit Schreiben vom 23.03.2005 teilte die Bg. der Bf. unter Darstellung des MDK-Gutachtens mit, die vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 19.03.2002 (B 1 KR 37/00 R = SozR 3-2500 § 31 Nr. 8 = BSGE 89, 184) entwickelten Kriterien für eine zulas-sungsüberschreitende Anwendung lägen nicht vor. Im Übrigen dürften die Krankenkassen gemäß § 29 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) keine Genehmigungen für Arzneimittel in der vertragsärztlichen Versorgung erteilen. Regressverzichtserklärungen dürften nicht abgegeben werden.

Mit dem Widerspruch vom 23.04.2005 hat die Bf. vorgetragen, eine abwartende Therapie-haltung lehne sie ab. Bei einem akuten Schub sei eine Krankenhausbehandlung notwendig, während der sie sich nicht um das Kind kümmern könnte. Darüber hinaus sei nicht vorher-sehbar, welche Folgen mit einem neuen Schub eintreten könnten. Die Möglichkeit des Stil-lens dürfe ihr nicht verweigert werden. Versicherte der AOK Sachsen würden die Behand-lung erhalten.

Gegen den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 01.06.2005 hat die Bf. am 10.06.2005 Klage erhoben und zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen An-ordnung gestellt. Nach der Entscheidung des BSG vom 19.03.2002 (B 1 KR 37/00 R, a.a.O.) habe das Landessozialgericht Schleswig-Holstein mit Urteil vom 08.10.2002 (L 1 KR 5/02 = NZS 2003, 431) festgestellt, dass bei der schubförmig verlaufenden MS auf-grund der Datenlage für die Behandlung mit Immunglobulin eine begründete Erfolgsaus-sicht bestehe. Daten- und Erkenntnislage bei der chronisch-progredienten und der schub-weisen Verlaufsform seien unterschiedlich und für letztere positiv nachgewiesen. Auch das Sozialgericht Dresden habe mit rechtskräftigem Urteil vom 12.11.2002 (S 4 KR 418/02) eine Entscheidung zur Kostenübernahme getroffen. Das Landessozialgericht Niedersach-sen-Bremen habe ebenso eine Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zur Kostenübernahme bestätigt.

Der Erlass der einstweiligen Anordnung sei mit Blick auf Art. 2 Grundgesetz (GG) gebo-ten. Sofern nur geringe Unsicherheiten über das Bestehen des Leistungsanspruches bestün-den, müsse die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers ausfallen. Bei lebensbe-drohlichen Erkrankungen könne ein Schaden auch bei einem etwaigen Obsiegen in der Hauptsache nicht mehr rückgängig gemacht werden. Demgegenüber sei das finanzielle Interesse der Krankenkasse an einer Rückerstattung der Behandlungskosten geringer zu bewerten. Die Abwägung müsse hier zugunsten der Bf. ausfallen. Sie könne nicht darauf verwiesen werden, während der Stillzeit das Auftreten eines Schubes abzuwarten, um so-dann die therapeutischen Möglichkeiten zu nutzen. Allein das erhöhte Risiko nach der Entbindung rechtfertige die begehrte Therapie. Darüber hinaus sei ein berechtigtes Interes-se der Bf. ihr Kind zu stillen, anzuerkennen. Das Stillen sei eine Grundfunktion nach der Geburt und biete gegenüber der künstlichen Ernährung viele Vorteile. Während der Still-zeit stünden keine anderen Medikamente zur Verfügung. Nach den derzeitigen wissen-schaftlichen Erkenntnissen bestünden auch keine Bedenken wegen eines Übertritts von Immunglobulin in die Muttermilch. Die europäische Ethikkommission habe bislang keine Bedenken in der sog. GAMPP-Studie geäußert.

Die Bg. hat erwidert, wie im Gutachten des MDK festgestellt, stünden Alternativbehand-lungen zur Verfügung. Bei der Bf. stehe für die Anwendung eines Arzneimittels außerhalb der zugelassenen Indikation der persönliche Wunsch nach dem Stillen des Kindes im Vor-dergrund. Darüber hinaus bestünden auch bei der begehrten Anwendung Risiken. In der Fachinformation von Octagam sei zur Anwendung während der Schwangerschaft und der Stillzeit ausgeführt: "Es liegen keine kontrollierten klinischen Studien zur Anwendung in der Schwangerschaft vor. Die Verabreichung des Arzneimittels an schwangere Frauen oder stillende Mütter sollte deshalb sorgfältig abgewogen werden." Von der amerikanischen Zulassungsbehörde seien Immunglobuline in Bezug auf Schwangerschaft und Stillzeit in die Kategorie C eingestuft worden.

Mit Beschluss vom 04.07.2005 hat das Sozialgericht die Gewährung vorläufigen Rechts-schutzes abgelehnt. Die nach dem Urteil des BSG vom 19.03.2002 (B 1 KR 37/00 R, a.a.O.) erforderlichen drei Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssten, seien bei summarischer Prüfung nicht erfüllt. Der begründeten Aussicht, mit Immunglobulinen ei-nen kurativen Behandlungserfolg erzielen zu können, stehe aufgrund der Feststellung des MDK entgegen, dass die mit der Behandlung verbundenen Risiken durch die US-amerikanische Zulassungsbehörde gegenüber Copaxone sogar höher bewertet worden sei-en. Auch die im September 2004 veröffentlichte Studie aus Israel treffe offensichtlich kei-ne Aussagen zu den Auswirkungen der Behandlung auf die stillende Mutter. Die bislang vorliegenden Entscheidungen anderer Gerichte seien ebenfalls nicht zur Anwendung wäh-rend der Stillzeit ergangen.

Auch bei einer Folgenabwägung ergebe sich kein anderes Ergebnis. Hierbei sei insbeson-dere die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen, die alle staatlichen Organe verpflichte, sich schüt-zend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen. Dabei dürfe aber die sich aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) ergebende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen, nur wirk-same und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, nicht aus den Augen verloren werden. Bestehe die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens sterbe oder schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleide, sei ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeu-tiger Erkenntnisse davon überzeugt sei, dass die Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert oder ihr Einsatz mit einem Risiko behaftet sei, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Für die begehrte Behandlung mit Immunglobulin sei von der amerikanischen Zulassungsbehörde das Risiko bei der Anwendung sogar höher als bei Copaxone bewertet worden. Wegen der damit verbundenen erheblichen Risiken könne die Bf. keine einstweilige Anordnung bean-spruchen.

Gegen den am 06.07.2005 zugestellten Beschluss richtet sich die am 20.07.2005 eingelegte Beschwerde. Das Sozialgericht habe unberücksichtigt gelassen, welche Risiken sich für die Bf. ergeben könnten, wenn keine Therapie durchgeführt werde. Auch die derzeitigen Er-kenntnisse der veröffentlichten Studien seien außer Acht gelassen worden. Allein auf eine Studie der amerikanischen Zulassungsbehörde abzustellen, genüge nicht. Auch die Studien der in Deutschland für diesen Bereich federführenden Ärztin Prof. Dr. Haas im Jüdischen Krankenhaus Berlin, die selbst mehrere Studien über die Wirksamkeit von Immunglobulin bei Schwangeren und in der Stillzeit durchgeführt habe, seien nicht berücksichtigt worden. Ausweislich des evidenzbasierten Konsens zum Einsatz von i.v. Immunglobulinen in der Neurologie (Der Nervenarzt 2004, 801) entspreche die Behandlung der Erkrankung wäh-rend der Schwangerschaft, unmittelbar nach der Entbindung und während der Stillzeit dem heutigen Therapiestandard. Das Sozialgericht habe auch keine eingehende Interessenab-wägung am Maßstab von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vorgenommen. Nach der Entbindung bestehe ein erhöhtes Risiko für das Auftreten eines Schubes, der zu nicht mehr behebbaren Lähmungen führen könne.

Schließlich habe auch das Sozialgericht Berlin mit rechtskräftigem Urteil vom 12.05.2005 (S 81 KR 323/99) die bislang ablehnende Spruchpraxis für eine Behandlung ab dem Jahr 2005 aufgegeben. Nach dem dort zugrundegelegten Gutachten von Prof. Dr. Marx seien nunmehr die Voraussetzungen nach der Rechtsprechung des BSG für eine zulassungsüber-schreitende Anwendung erfüllt.

Von der Bf. könne auch nicht verlangt werden, ihr Kind nicht zu stillen. Eine andere The-rapie sei im Übrigen auch in diesem Fall nicht verfügbar. Andere Arzneimittel müssten sich über einen Zeitraum von sechs Monaten im Körper aufbauen. Für die unmittelbare Zeit nach der Entbindung sei unstreitig, dass die Immunglobulin-Therapie die einzig mög-liche Behandlung darstelle. Zudem seien bei der Bf. nach dem ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts akute neurologische Symptome aufgetreten, die am 18.07.2005 eine ambu-lante Konsultation im Krankenhaus erforderlich gemacht hätten.

Die Beschwerdeführerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 04.07.2005 aufzuheben und die Bg. im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für die Durch-führung einer Immunglobulin-Therapie bei Multipler Sklerose nach der Entbindung und in der Stillzeit zu übernehmen.

Die Beschwerdegegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Die von der Bf. angegebenen Stu-dienergebnisse könnten mangels Quellenangaben nicht nachvollzogen werden. Diese könnten sich jedenfalls nicht auf die hier geltend gemacht Anwendung in der Postpartal-zeit beziehen. Hierzu lägen nach ihrer Kenntnis nur einzelne nicht-kontrollierte Studien vor. Die Rahmenempfehlung zur Behandlung von MS der Multiple-Sklerose-Therapie-Konsensus Gruppe weise noch immer aus, dass bisher keine Klasse 1 Evidenz Studien zum Einsatz von Immunglobulinen in der Postpartalzeit vorlägen und derzeit keine Empfehlung für die prophylaktische Behandlung bei dieser Indikation gegeben werden könne. Darüber hinaus bestünden für die Bf. die vom MDK aufgezeigten alternativen Behandlungsmög-lichkeiten.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen und auf die beigezogene Verwaltungsakte der Bg. Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und teilweise begründet. Die Voraussetzungen für die von der Bf. begehrte einstweilige Anordnung für eine Kosten-übernahme der Bg. für eine Versorgung mit Immunglobulin liegen vor, wenngleich dem Begehren der Bf., soweit sie eine Versorgung für die gesamte Stilldauer begehrt, nicht un-eingeschränkt entsprochen werden konnte. Insoweit war die Kostenübernahme auf eine Dauer von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Entbindung der Bf. zu beschränken.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr be-steht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Einstweilige Anord-nungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Regelung in § 86b Abs. 2 SGG unterscheidet ebenso wie § 123 Verwaltungsgerichts-ordnung (VwGO) zwei Typen der einstweiligen Anordnung. Die Sicherungsanordnung nach Satz 1 soll der "Veränderung eines bestehenden Zustandes" vorbeugen, dient also einer Bewahrung des Status quo mit einem Unterlassungsgebot an den zu Verpflichtenden und scheidet hier aus. Vielmehr kommt nur die auf eine Veränderung des Status quo abzie-lende Regelungsanordnung in Betracht, weil das Begehren der Bf. auf ein Handeln der Bg. – die Übernahme der Behandlung mit Immunglobulin als Sachleistung – ausgerichtet ist. Hier ist grundsätzlich das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes erforderlich. Der Anordnungsanspruch bezieht sich auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird. Die er-forderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anord-nungsanspruch und den Anordnungsgrund begründen sollen, sind darzulegen und glaub-haft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Diese allgemeinen Anfor-derungen sind verfassungsrechtlich unbedenklich (Bundesverfassungsgericht – BVerfG -, 2. Senat, Beschluss vom 25.10.1988 – 2 BvR 745/88 = BVerfGE 79, 69).

Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens liegen in der Sicherung der Ent-scheidungsfähigkeit und der prozessualen Lage, um eine endgültige Rechtsverwirklichung im Hauptsacheprozess zu ermöglichen. Es will nicht anderes, als allein wegen der Zeitdi-mension der Rechtserkenntnis und der Rechtsdurchsetzung im Hauptsacheverfahren eine zukünftige oder gegenwärtige prozessuale Rechtsstellung vor zeitüberholenden Entwick-lungen zu sichern und irreparable Folgen auszuschließen und der Schaffung vollendeter Tatsachen vorbeugen, die auch dann nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wenn sich die angefochtene Verwaltungsentscheidung im Nachhinein als rechtswidrig erweist. Hingegen dient das vorläufige Rechtsschutzverfahren nicht dazu, gleichsam unter Umge-hung des für die Hauptsache zuständigen Gerichts und unter Abkürzung dieses Verfahrens, geltend gemachte materielle Rechtspositionen vorab zu realisieren.

Bei der Auslegung und Anwendung der Regelungen des vorläufigen Rechtsschutzes sind die Gerichte gehalten, der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen. Die Gewährleis-tung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG verlangt grundsätzlich die Mög-lichkeit eines Eilverfahrens, wenn ohne sie dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbe-reiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. BVerfGE 79, 69, 74; 93, 1, 14). Dies gilt sowohl für Anfechtungs- als auch für Vornahmesachen. Hierbei dürfen die Ent-scheidungen der Gerichte grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden.

Jedoch stellt Art. 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilver-fahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsache-verfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Je schwerer die Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind, um so weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition zurückgestellt werden. Art. 19 Abs. 4 GG verlangt auch bei Vornahmesa-chen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfGE 79, 69, 74; 94, 166, 216). Die Gerichte sind, wenn sie ihre Entscheidung nicht an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen, sondern an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientie-ren, in solchen Fällen gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, die Versagung vorläufi-gen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Dies bedeutet auch, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen muss, wenn dazu Anlass besteht (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 25.07.1996 – 1 BvR 638/96 = NVwZ 1997, 479).

Die Prüfung der Gerichte über die Verpflichtung der Krankenkasse zur vorläufigen Über-nahme der Kosten für die Versorgung mit einem Arzneimittel hat dabei Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG im Blick zu haben. In der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland ha-ben Leben und körperliche Unversehrtheit hohen Rang. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgt allgemein die Pflicht der staatlichen Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu stellen. Behördliche und gerichtliche Verfahren müssen der im Grundrecht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit enthaltenden grundlegenden objektiven Wertentscheidung (BVerfGE 39, 1, 41) gerecht werden (BVerfGE 53, 30, 55).

Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, an-ders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die auch später nicht mehr rückgän-gig gemacht werden können, ist bei einer Orientierung der Entscheidung an den Er-folgsaussichten nicht nur die Sach- und Rechtslage summarisch, sondern abschließend zu prüfen ist (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 19.03.2004 – 1 BvR 131/04 = NJW 2004, 3100, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 = NJW 2003, 1236 = NZS 2003, 253). Dabei dürfen die Anforderungen an die Glaubhaftmachung im Eilverfahren nicht überspannt werden. Die Anforderungen ha-ben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Antragsteller mit seinem Begehren verfolgt (BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NVwZ 2004, 95).

Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilver-fahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Be-schluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, NVwZ RR 2001, 694). Auch in diesem Fall sind die grund-rechtlichen Belange des Antragstellers in die Abwägung einzubeziehen.

Gemessen an diesen Maßstäben ist die Bg. im Wege der einstweiligen Anordnung zu einer Kostenübernahme für die Versorgung mit Immunglobulin ab dem Zeitpunkt der Entbin-dung der Bf. für die Dauer von sechs Monaten zu verpflichten. Die bei einem offenen Ausgang des Hauptsacheverfahrens erforderliche Folgenabwägung rechtfertigt den Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Vorliegend ist weder eine vollständige Aufklärung der komplizierten Sachlage noch eine sichere Prognose der Erfolgsaussichten im Eilverfahren möglich. Der in § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 SGB V normierte Anspruch des Versicherten auf Bereitstellung der für die Krankenbehandlung benötigten Arzneimittel unterliegt den Einschränkungen aus § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V. Er besteht nur für solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizi-nischen Erkenntnisse entspricht. Bei der Arzneimittelversorgung knüpft das Krankenversi-cherungsrecht an das Arzneimittelrecht an, das für Fertigarzneimittel - wie Immunglobuli-ne - eine staatliche Zulassung vorschreibt und deren Erteilung vom Nachweis der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Medikaments abhängig macht (§ 21 Abs. 2 AMG). Dies rechtfertigt, wie das BSG im Urteil vom 19.03.2002 (B 1 KR 37/00 R, a.a.O.) einge-hend begründet hat, die Vorgreiflichkeit der arzneimittelrechtlichen Zulassung für die An-wendung des Medikaments im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Ein Arz-neimittel darf dabei, auch wenn es zum Verkehr zugelassen ist, grundsätzlich nicht zu Las-ten der Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt. Wegen der Beschränkung auf die vom Hersteller genannten Anwendungsgebiete sagt die Zulassung nichts darüber aus, ob das betreffende Arzneimittel auch bei anderen Indikationen verträglich und angemessen wirksam ist. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Mittel bei einem Gebrauch außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebiets schädliche Wirkungen hat, die nach den Erkenntnissen der medizini-schen Wissenschaft über ein vertretbares Maß hinausgehen. Bei einer Erweiterung des Anwendungsgebiets müssen deshalb der Nutzen und das Risikopotential des Arzneimittels von Grund auf neu bewertet werden. Entsprechend verlangt das Arzneimittelrecht bei der Einbeziehung neuer Indikationen eine vollständige Neuzulassung.

Bei der von der Bf. begehrten Versorgung mit Immunglobulin handelt es sich um eine zu-lassungsüberschreitende Anwendung. Die von der zuständigen Bundesoberbehörde erteil-ten Zulassungen für verschiedene Präparate erstrecken sich nicht auf die Therapie bei Mul-tipler Sklerose. Dieser Mangel der fehlenden Zulassung des Arzneimittels kann, nach dem Urteil des BSG vom 19.03.2002 (B 1 KR 37/00 R, a.a.O.) nur in eng begrenzten Ausnah-mefällen behoben werden, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu be-friedigender Bedarf an der Arzneitherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind. Die Verord-nung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet kommt deshalb nach den von der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben nur in Betracht, wenn es sich (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3) aufgrund der Datenlage die begründete Aus-sicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder pal-liativ) erzielt werden kann. Damit Letzteres angenommen werden kann, müssen For-schungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden,

- wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Er-gebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirk-samkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder - außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen An-wendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulas-sen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.

Eine Erfolgsaussicht für das Begehren der Bf. ist hier nicht schon deswegen ausgeschlos-sen, weil das BSG mit Urteil vom 19.03.2002 (B 1 KR 37/00 R, a.a.O.) diese Vorausset-zungen für die Anwendung von Immunglobulinen bei Multipler Sklerose verneint hat. So-weit darin aufgrund des vom Paul-Ehrlich-Instituts veröffentlichten Ergebnisses eines in-ternationalen Symposiums vom 21.11.2001 von einem fehlenden wissenschaftlichen Kon-sens ausgegangen worden ist, betrifft dies die primär chronisch-progrediente Verlaufsform, nicht aber die hier bei der Bf. vorliegende schubweise Erkrankung.

Ob die nach Maßgabe der Rechtsprechung des BSG für eine zulassungsüberschreitende Anwendung erforderlichen Voraussetzungen bei der schubweisen Verlaufsform der MS für eine Behandlung nach der Entbindung und in der Stillzeit vorliegen, lässt sich hier mit Blick auf die bis zum voraussichtlichen Entbindungstermin am 05.09.2005 verbleibende Zeit nicht klären. Hierzu bedarf es der Beiziehung und Auswertung verschiedener sach-kundiger Stellungnahmen. Das Landessozialgericht Berlin hat mit Urteil vom 02.04.2003 (L 9 KR 70/00) die Klage einer Versicherten mit einer schubförmig verlaufenden MS we-gen einer Kostenerstattung für Immunglobulin (Octagam) für eine Behandlung bis Januar 2003 abgewiesen. Die Voraussetzungen für eine zulassungsüberschreitnde Anwendung wurden als nicht erfüllt erkannt. Insbesondere fehle es an einem Konsens der die MS be-handelnden Ärzte in Bezug auf Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Einsatzes von Im-munglobulin. Zur Begründung hat sich das Landessozialgericht Berlin auf die Rahmen-empfehlung der MS-Therapie Konsensus Gruppe zur Immunmodulatorischen Stufenthera-pie der MS von 1999, die auf der österreichischen Immunglobulin-Studie von Fazekas u.a. von 1997, der israelischen Studie von Achrion u.a. von 1998 sowie der dänischen Studie von Sörensen u.a. von 1998 beruhe, bezogen. Darin sei zwar betont, dass die Wirksamkeit von Immunglobulinen für die Schubreduktion durch mindestens eine randomisierte kon-trollierte klinische Studie mit einer sogenannten Klasse 1 Evidenz nachgewiesen sei. Zugleich sei aber darauf hingewiesen worden, dass dies nicht für die Postpartalzeit gelte, weil die insoweit festgestellte Schubreduktion dem natürlichen Krankheitsverlauf entspre-chen dürfte. Darüber hinaus sei eine Überprüfung in klinischen Studien für notwendig er-achtet worden. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den im Dezember 2000 und März 2002 herausgegebenen Ergänzungen zu der Rahmenempfehlung von 1999. Auch mit den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie von April 2002 sei ein Konsens nicht belegt. Dabei sei die Verabreichung zur Schubprophylaxe während der Schwangerschaft und der Stillperiode unter Berufung auf eine Studie von Goodin u.a. von 2002 sogar nur als "möglicherweise effektiv" eingestuft worden. In den Leitlinien der Bundesärztekammer zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten (Stand September 2002) sei aus-geführt, dass eine Bestätigung der Reduktion der Schubrate durch weitere multizentrische Studien noch ausstehe. In der Konsensusempfehlung zur Diagnostik und Therapie des Ar-beitskreises Multiple Sklerose Berlin e.V. (Stand 02.11.2002) sei darauf hingewiesen wor-den, dass es sich bei der Immunglobulinbehandlung um eine nachrangige Basistherapie handele, die ihrerseits mit bestimmten Risiken behaftet sei. In der Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts vom 31.01.2003 heiße es, dass die derzeitig vorliegenden Studien und Fallberichte zum Nachweis der Wirksamkeit und der Sicherheit noch nicht ausreichen würden und noch viele ungelöste Fragen bestünden.

Demgegenüber hat das Landessozialgericht Schleswig-Holstein mit Urteil vom 08.10.2002 (L 1 KR 5/02 = NZS 2003, 431) die beklagte Krankenkasse zu einer Kostenerstattung für die Behandlung mit Immunglobulin 7 S verurteilt, wobei der Entscheidung allerdings nicht sicher zu entnehmen ist, in welchem Zeitraum die Behandlung der Versicherten erfolgte. Zur Begründung hat sich das Landessozialgericht Schleswig-Holstein auf das eingeholte Gutachten eines Mitglieds des ärztlichen Beirats des Bundesverbandes der Deutschen Multiple Sklerosegesellschaft und Vorsitzenden des Landesverbandes Schleswig-Holstein bezogen. Der Sachverständige habe ausgeführt, die Einschätzung der Arbeitsgruppe M5 "Arzneimittel" der Gemeinschaft der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung von April 2001 zu Risiken von Immunglobulin sei mit Blick auf die Veröffentlichung von Frau Prof. Dr. Haas aus dem Jahre 2001, nach der Immunglobuline bei Kinderwunsch, Schwangerschaft und Stillzeit kein Risikopotential beinhalteten, nicht zu teilen. Die Studie von Fazekas u.a. in Österreich habe für die schubförmig verlaufende MS eine Wirkungs-weise bestätigt. Das Ergebnis sei auch nicht umstritten. Seine Einschätzung werde durch das Konsensuspapier der Deutschen Multiple Sklerosegesellschaft (Der Nervenarzt 1999, 371 und 2000, 150) gestützt. Die Gesellschaft habe darin Therapieempfehlungen für Im-munglobuline bei der schubförmigen Verlaufsform ausgesprochen und dies vor allem für den Fall bekräftigt, dass gegen Interferone oder andere Medikamente Kontraindikationen bestünden. Dem habe sich auch die Deutsche Gesellschaft für Neurologie angeschlossen.

Das Sozialgericht Berlin hat mit Urteil vom 12.05.2005 (S 81 KR 323/99) eine Kosten-übernahme bei einem Versicherten mit schubförmig verlaufender MS für eine Behandlung ab dem 12.04.2005 ausgesprochen. Zur Begründung hat es sich auf die Stellungnahme der Leiterin des Fachgebiets Mono- und polykonale Antikörper am Paul-Ehrlich-Institut vom 05.04.2005 bezogen. Danach sei vor kurzem eine randomisierte, placebo-kontrollierte, doppelblinde Studie über den Einsatz von Immunglobulin in der frühen MS, also nach dem ersten entmarkenden Ereignis, publiziert worden, die zeige, dass die Verabreichung signi-fikant die Wahrscheinlichkeit eines neuen Schubes reduziere. Eine weitere Studie habe bestätigt, dass durch die Behandlung die Schubrate bei Schwangeren reduziert werde. Eine dritte, vor kurzem veröffentlichte Studie, bei der allerdings - ebenso wie bei den beiden anderen Studien – nicht bekannt ist, welches Immunglobulin verwendet worden ist, habe ebenfalls eine signifikante Reduktion der Schubrate bestätigt. Prof. Dr. Marx habe in sei-nem Gutachten ebenfalls angegeben, dass in Deutschland Konsens über die Wirksamkeit des Einsatzes von Immunglobulin bei MS bestehe.

Diese Urteile, die sich mit abweichenden Ergebnissen zum Teil auf die gleichen Veröffent-lichungen, aber auch auf neuere Erkenntnisse beziehen, machen deutlich, dass eine sichere Beurteilung des von der Bf. geltend gemachten Anspruchs nur mit weiteren umfangreichen Ermittlungen, insbesondere der Beiziehung und eigenen Auswertung der in den vorge-nannten Entscheidungen genannten zahlreichen Stellungnahmen, Gutachten wie auch der Therapie-Leitlinien der verschiedenen Fachgesellschaften unter Berücksichtigung des ak-tuellen medizinischen Erkenntnisstandes möglich ist. Diese Aufklärung kann im Eilver-fahren mit Blick auf die hier gegebene Notwendigkeit einer kurzfristigen Entscheidung vor dem voraussichtlichen Entbindungstermin am 05.09.2005 nicht geleistet werden.

Entgegen der Auffassung der Bg. scheitert der geltend gemachte Anspruch auf eine Kos-tenübernahme aber nicht schon wegen anderer Behandlungsalternativen und auch nicht an der vom MDK im Gutachten vom 18.03.2005 angegebenen Risikoeinschätzung der ameri-kanischen Zulassungsbehörde. Maßstab für die Beurteilung ist das Rechtsschutzziel, das die Bf. mit ihrem Begehren verfolgt. Dieses ist gerade auf die Behandlung für die Zeit nach der Entbindung und während der Stillzeit gerichtet. Die zugelassenen Arzneimittel sind hierbei unstreitig kontraindiziert, so dass eine andere Therapie nicht zur Verfügung steht. Das Begehren der Bf., ihr Kind stillen zu wollen, ist auch nicht von vornherein und im Ganzen unbeachtlich. Stillen ist die natürliche Art der Ernährung eines Kleinkindes. Insoweit ist allgemein anerkannt, dass das Stillen gesundheitliche Vorteile für Mutter und Kind bringt. Die Muttermilch schützt den Säugling vor Erkrankungen, insbesondere Infek-tionen. Der intensive Körperkontakt fördert die Entwicklung des Kindes. Soweit möglich, wird empfohlen, den Säugling in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen. Auch die gegen eine Immunglobulin-Therapie in der Stillzeit vorgebrachten Bedenken schließen den geltend gemachten Anspruch nicht von vornherein aus. In dem von der Bf. vorgelegten evidenzbasierten Konsens zum Einsatz von i.v. Immunglobulinen in der Neurologie (Der Nervenarzt 2004, 801) ist ausgeführt, zur Reduktion von Schüben nach der Entbindung lägen mittlerweile zwei nicht kontrollierte Studien vor. Von Orvieto et al. sei die Wirkung einer sofort nach der Entbindung eingeleiteten Therapie auf 14 Patientinnen untersucht worden, von denen alle innerhalb der nachfolgenden sechs Monate schubfrei geblieben seien. Prof. Dr. Haas hat die Wirksamkeit nach der Entbindung bei einer Gruppe von 43 Patientinnen untersucht, die im Vergleich zur historischen Kontrolle aus der PRIMS-Studie 33 % weniger Krankheitsschübe erlitten hätten. In der Schlussfolgerung ist festgehalten, die Daten zum peripartalen Einsatz zusammen mit den positiven Ergebnissen der vier bei schubförmigen Verlauf durchgeführten Studien rechtfertigten den Einsatz von Immunglo-bulin bei Müttern, die stillen wollen, postpartal unter Berücksichtigung der unter der schubförmigen MS genannten Empfehlungen (Grad-C-Empfehlung = wirksam, Reserve-mittel der 2. oder 3. Wahl). Ob die Ergebnisse der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (online publiziert am 24.06.2004) erwähnten laufenden Studie inzwischen vorliegen, ist nicht ersichtlich, so dass auch insofern weiterer Ermittlungsbedarf besteht. Bei alledem ist das Begehren der Bf. in der Hauptsache jedenfalls nicht offensichtlich unbegründet. Mit Blick auf die Veröffentlichung des evidenzbasierten Konsens zum Einsatz von i.v. Im-munglobulinen in der Neurologie besteht vielmehr zumindest eine hinreichende Er-folgsaussicht, wenngleich auch dieser Konsens einer kritischen Nachprüfung gegenüber den aktuellen Empfehlungen anderer Konsensus-Gruppen bedarf.

Ist danach eine sichere Prognose über den geltend gemachten Anspruch nicht möglich, rechtfertigt die sonach gebotene Folgenabwägung den Erlass der einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, so bedeutete dies für die Bf. den endgültigen Verlust des geltend gemachten Anspruches, weil er mit einem etwaigen Obsiegen in der Hauptsache nicht mehr realisiert werden könnte. Das Begehren der Bf. auf eine Versor-gung mit Immunglobulin nach der Entbindung des Kindes ist maßgeblich durch den Zeit-ablauf geprägt und kann nicht mehr nachgeholt werden. Zudem kann nicht außer Acht ge-lassen werden, dass während der ersten drei Monate nach der Geburt des Kindes für das Auftreten von Krankheitsschüben unstreitig ein erhöhtes Risiko besteht. Das Auftreten eines Krankheitsschubes abzuwarten, um sodann mit entsprechender Therapie zu reagie-ren, ist der Bf. mit Blick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zumutbar. Bei einem auftreten-den Krankheitsschub ist nicht absehbar, in welchem Umfang neurologische Symptome, insbesondere Lähmungen, eintreten, und ob und in welchem Umfang diese reversibel sind. Das Abwarten akuter Krankheitserscheinungen, die irreversibel gesundheitliche Beein-trächtigungen hinterlassen können, stellt ein nicht zumutbares Risiko dar. Ergeht die einstweilige Anordnung, hat die Klage in der Hauptsache dagegen später keinen Erfolg, liegt der Nachteil der Bg. in der Realisierbarkeit eines Erstattungsanspruchs der für die Arzneimitteltherapie aufgewendeten Kosten. Zwar ist nicht zu verkennen, dass bei einer etwaigen dauerhaften Mittellosigkeit des betroffenen Versicherten dies letztlich ebenso die Schaffung vollendeter Tatsachen bedeuten kann. Bei der Abwägung der entgegenstehen-den Interessen, die von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Erhaltung der Gesundheit der Bf. einerseits gegenüber den finanziellen Interessen der Solidargemeinschaft der Versicherten an einer systemkonformen Verwendung der beitragsfinanzierten Mittel andererseits, wiegen im konkreten Fall die Belange der Bf. ersichtlich schwerer, zumal auch eine Versorgung mit zugelassenen Arzneimitteln in etwa die gleichen, wenn nicht noch höhere Kosten verursachen würde. Eine Nichtversorgung mit dem begehrten Medikament während der ersten Stillzeit könnte bei einem dadurch bedingten Krankheitsschub sogar dauerhaft höhere Kosten verursachen.

Wegen des Inhalts der zu treffenden Entscheidung war von § 938 Zivilprozeßordnung (ZPO) i.V.m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG Gebrauch zu machen. Danach bestimmt das Ge-richt nach freiem Ermessen, welche Anordnungen zur Erreichung des Zweckes erforder-lich sind. Bei seinem Gestaltungsermessen nach § 938 ZPO ist das Gericht nicht an das materielle Recht gebunden. Es kann daher auch Anordnungen treffen, die im materiellen Recht nicht vorgesehen sind (Eyermann/Happ, VwGO, 11. Aufl., § 123 Rdnr. 64). Mit Blick auf die auf einer Folgenabwägung beruhenden einstweiligen Anordnung, die aber zugleich hinsichtlich der Erfüllung des Sachleistungsanspruchs zu einer faktischen Vor-wegnahme der Hauptsache führt, war eine Begrenzung der Regelung für eine Kostenüber-nahme nach ihrem zeitlichem Umfang geboten. Insoweit kann es nicht Ziel einer einstwei-ligen Anordnung sein, der Bf. von vornherein eine unbegrenzte Versorgung mit Im-munglobulin für Dauer der gesamten Stillzeit, die in Abhängigkeit von ihrer individuellen Entscheidung ein Jahr oder noch länger andauern könnte, zu gewährleisten, zumal für ein solch umfängliches Begehren auch in der Hauptsache keine Erfolgsaussichten zu erkennen sind. Bei der Festlegung des Anordnungsinhalts hat sich der Senat an den übereinstimmen-den ärztlichen Bewertungen orientiert, wonach in den ersten drei Monaten nach der Ent-bindung ein erhöhtes Risiko für Krankheitsschübe besteht und von der Nationalen Still-kommission am Bundesinstitut für Risikobewertung (Berlin) eine Stilldauer von sechs Monaten empfohlen wird.

Zwei weitere Aspekte bleiben als bedeutsam hervorzuheben. Eine Versorgung der Bf. mit Immunglobulin für die Zeit nach der Entbindung setzt im Rahmen der ambulanten Behand-lung eine vertragsärztliche Verordnung voraus. Auch bei einer zulassungsüberschreiten-den Anwendung, die auch dem (Vertrags-)Arzt weder arzneimittelrechtlich noch berufs-rechtlich verboten ist (BSG, Urteil vom 19.03.2002, B 1 KR 37/00 R, a.a.O.), hat der Ver-tragsarzt mit einer ärztlichen Verordnung auf Kassenrezept (§ 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V) die eigene Verantwortung mit dem Risiko der Haftung für daraus entstehende Gesundheits-schäden bei der Behandlung zu übernehmen. Bei einer stationären Entbindung in einem zugelassenen Krankenhaus (§ 108 SGB V) ist eine ärztliche Anordnung eines Kranken-hausarztes zur Übernahme der ärztlichen Verantwortung ebenso notwendig. Diese Ent-scheidungen werden die behandelnden Ärzte nach der Entbindung aufgrund des aktuellen Gesundheitszustands der Bf. unter Abwägung etwaiger Folgen für das Kind, ggf. auch nach Rücksprache mit einem in der MS-Therapie erfahrenen Zentrum, unter Aufklärung der Bf. sorgfältig zu treffen haben. Die im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anord-nung ausgesprochene Verpflichtung der Bg. zu einer Kostenübernahme berührt die ärztli-chen Sorgfaltspflichten der behandelnden Ärzte nicht.

Der Bf. ist zu verdeutlichen, dass sie aus dem Erlass der einstweiligen Anordnung keine sichere Rechtsposition für einen erfolgreichen Ausgang der Hauptsacheverfahrens ableiten kann. Der Ausgang des Klageverfahrens ist - wie oben dargelegt - offen und von weiteren Ermittlungen abhängig. Bei einer rechtskräftigen Abweisung der Klage in der Hauptsache wird die Bf. zudem der Bg. die von ihr auf der Grundlage der einstweiligen Anordnung aufgewendeten Kosten für die Immunglobulin-Therapie zu erstatten haben. Dies ist die Konsequenz aus dem besonderen Charakter des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens. Ein Beschluss in dem Verfahren der einstweiligen Anordnung steht unter dem Vorbehalt der Hauptsacheentscheidung. Dies folgt schon aus dem Umstand, dass es sich bei der einstwei-ligen Anordnung nur um eine vorläufige Regelung handelt und damit gerade keine Ent-scheidung darüber getroffen wird, ob die Bg. letztlich für die Kosten aufzukommen hat. Die dem im Verfahren der einstweiligen Anordnung obsiegenden Antragsteller vorläufig eingeräumte Rechtsposition entfällt rückwirkend, ohne dass das in der Entscheidung aus-drücklich gesagt sein müsste, wenn der Antragsteller im Hauptsacheverfahren unterliegt. Dem entsprechend bestimmt § 945 ZPO i.V.m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG, dass der Betei-ligte, der die Anordnung erwirkt hat – hier die Bf. –, dem Gegner – hier der Bg. – zum Ersatz des Schadens verpflichtet ist, der aus der Vollziehung der Anordnung entsteht, wenn sich die einstweilige Anordnung von Anfang als ungerechtfertigt erweist. Eine einstweilige Anordnung ist stets von Anfang an ungerechtfertigt, wenn sie durch eine gegenteilige Hauptsacheentscheidung gegenstandslos wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und Abs. 4 SGG. Die Kostenquotelung beruht auf dem Umstand der zeitlichen Befristung der einstweiligen Anordnung, die inso-weit hinter dem Begehren der Bf. auf eine Behandlung während der gesamten, zeitlich nicht begrenzten Stillzeit zurückbleibt.

Diese Entscheidung ist endgültig (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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