S 1 AS 3867/05 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Heilbronn (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 1 AS 3867/05 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 AS 369/06 ER-B
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12.4.2006

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Heilbronn vom 12. Dezember 2005 abgeändert und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 11. Oktober 2005 angeordnet, soweit darin der Antragsteller zur Erstattung von 799,- EUR verpflichtet wird. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Von den außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Antrags- und Beschwerdeverfahren trägt die Antragsgegnerin die Hälfte.

Gründe:

I.

Mit Bescheid vom 11.10.2005 hob die Antragsgegnerin eine frühere Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch - Zweites Buch - (SGB II) für die Zeit ab 01.01.2005 auf und forderte vom Antragsteller die für Januar 2005 bereits erbrachten Leistungen in Höhe von 799,00 EUR zurück. Der Antragsteller erstrebt nun die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruchs.

Der am ... geborene, ledige Antragsteller - von Beruf Grafikdesigner - bezog zuletzt bis 05.07.2003 Arbeitslosengeld. Er ist als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt. Am 22.12.2004 beantragte er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Im Antragsformular mit der Überschrift "Zusatzblatt 3 zur Feststellung des zu berücksichtigenden Vermögens" machte er auch Angaben zu den drei Lebensversicherungen, die er bei zwei Versicherungsgesellschaften abgeschlossen hatte. Bei allen drei Versicherungen gab er mit Stand Juli 2003 den Auszahlungsbetrag bei Rückkauf an und bei zwei Versicherungen machte er auch Angaben zu den bisher eingezahlten Beiträgen und zur Höhe der Versicherungssumme. Mit Schreiben vom 27.12.2004 teilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit, über seinen Antrag könne noch nicht entschieden werden, weil noch Unterlagen fehlten. Wörtlich hieß es in dem Schreiben: "Bitte schicken Sie uns eine Kopie ihrer Lebensversicherung mit aktuellem Rückkaufswert. Bitte reichen Sie uns die noch erforderlichen Unterlagen bis zum 31.12.2004 nach. Bitte schicken Sie die Unterlagen mit der Post." Der Antragsteller kam dieser Aufforderung mit Schreiben vom 30.12.2004 nach. Er legte Mitteilungen der DEVK Versicherungen und der Schweizerischen Rentenanstalt Swiss Life vor, nach denen sich die Rückkaufswerte der zwei Lebensversicherungen einschließlich Überschussguthaben bei der DEVK zum 01.01.2005 auf 7.164,19 EUR bzw. 16.085,47 EUR und der Rückkaufswert der Lebensversicherung bei der schweizerischen Rentenanstalt Swisslife einschließlich Überschussguthaben und Schlussdividenden zum 31.12.2004 auf 16.507,62 EUR beliefen. Anschließend bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit Bescheid vom 18.01.2005 für die Zeit vom 01.01.2005 bis 31.03.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 799,00 EUR. In dem Bescheid wurde der Antragsteller aufgefordert, komplett für alle drei Lebensversicherungen den bisher einbezahlten Betrag vorzulegen. Außerdem fehle der Rückkaufswert einer Lebensversicherung bei der DEVK.

Daraufhin legte der Antragsteller weitere Mitteilungen seiner Versicherungen vor, aus denen sich ergibt, dass sich die eingezahlten Beiträge bei der Swisslife zum 03.02.2005 auf 10.787,10 EUR und bei den DEVK-Versicherungen zum 01.01.2005 auf 11.985,40 EUR und 4.273,92 EUR beliefen. Nach Eingang dieser Mitteilungen stellte die Antragsgegnerin die Zahlung der mit Bescheid vom 18.01.2005 bewilligten Leistungen ab Februar 2005 ein; der dem Antragsteller für den Monat Januar 2005 zuerkannte Betrag von 799,- EUR war bereits zur Auszahlung gelangt.

Am 09.05.2005 hörte die Antragsgegnerin den Antragteller zur beabsichtigten Rücknahme der Bewilligung ab 01.01.2005 und zur Rückforderung der für Januar 2005 erbrachten Leistungen in Höhe von 799,00 EUR an. Er habe aufgrund eines Fehlers Arbeitslosengeld II in Höhe von 799,00 EUR erhalten, obwohl ihm keine Leistungen zustünden. Die Rückkaufswerte der Lebensversicherungen hätten ihnen nicht vorgelegen, sodass sie nicht hätten erkennen können, dass der Auszahlbetrag von 17.123,71 EUR als Vermögen zu bewerten sei. Der Antragsteller habe die Überzahlung zwar nicht verursacht, hätte jedoch erkennen können, dass die Voraussetzungen für die Leistung nicht vorgelegen hätten. Der Antragsteller brachte hierzu vor, ihm stünden Leistungen nach dem SGB II zu. Überdies habe er nicht erkennen können, dass er angeblich nicht berechtigt gewesen sei, Leistungen zu erhalten. Außerdem verfüge er über keine Einnahmen, sodass er den verlangten Betrag nicht erstatten könne.

Mit Bescheid vom 11.10.2005 hob die Antragsgegnerin die Bewilligung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit ab 01.01.2005 in Höhe von monatlich 799,00 EUR ganz auf. Der Antragsteller verfüge über Vermögenswerte in Höhe von 17.123,71 EUR, sodass er nicht hilfebedürftig sei. Aufgrund der bei Antragstellung nur teilweise eingereichten Unterlagen und unter Zuhilfenahme des ihm ausgehändigten Merkblatts hätte er erkennen können, dass ihm die Leistungen nicht zugestanden hätten.

Dagegen legte der Antragsteller am 18.10.2005 Widerspruch ein. Mit einem weiteren Schreiben vom 20.10.2005 bat er um Mitteilung, ob die Antragsgegnerin vom Einzug der Forderung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens Abstand nehme. Dies lehnte die Antragsgegnerin ab.

Am 28.11.2005 beantragte der Antragsteller beim Sozialgericht Heilbronn (SG) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Rücknahmebescheid vom 11.10.2005. Unter Hinweis auf die Zahlungsaufforderung vom 12.10.2005 machte er geltend, der hier streitige Erstattungsanspruch falle nicht unter die Regelung des § 39 SGB II, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheide, keine aufschiebende Wirkung haben.

Mit Beschluss vom 12.12.2005 lehnte das SG den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid vom 11.10.2005 ab. Der Widerspruch habe keine aufschiebende Wirkung. Die von der Antragsgegnerin durch Verwaltungsakt getroffene Regelung, nach der der Antragsteller die überzahlte Leistung zu erstatten habe, werde von § 39 Ziff. 1 SGB II erfasst. Unter einem Verwaltungsakt, der "über Leistungen der Grundsicherung ..." entscheide, sei auch ein Rücknahme- und Erstattungsbescheid zu verstehen. Die Vorschrift sehe keine Differenzierungen nach der zeitlichen Wirkung, der Leistungsart oder nach der Eingriffsgrundlage vor. Ob im vorliegenden Fall die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen ist, bestimme sich daher nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Es bestünden jedoch keine ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides, sodass der Antrag unbegründet sei. Es sei für den Antragsteller erkennbar gewesen, dass die mit Bescheid vom 18.01.2005 zu Unrecht erfolgte Bewilligung von Alg II darauf beruht habe, dass die vorgelegten Unterlagen nicht vollständig gewesen seien, sodass für die Antragsgegnerin nicht ersichtlich gewesen sei, dass dem Antragsteller die Verwertung der Lebensversicherungen zumindest teilweise wirtschaftlich zumutbar gewesen sei. Im Bescheid vom 18.01.2005 sei der Antragsteller nämlich aufgefordert worden, hinsichtlich der drei Versicherungen die Höhe seiner bisherigen Einzahlungen nachzuweisen. Er habe damit nicht darauf vertrauen können, dass ihm die bewilligte Leistung ungeachtet des Inhalts der angeforderten Unterlagen zustehen würde. Ob der Antragsteller auch die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung hätte erkennen müssen, könne dahingestellt bleiben. Hierfür sprächen allerdings die Ausführungen im Merkblatt "Grundsicherung für Arbeitsuchende" zum zu berücksichtigenden Vermögen. Der Beschluss wurde dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers am 14.12.2005 zugestellt.

Am 13.01.2006 hat der Antragsteller Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat. Er nimmt Bezug auf sein bisheriges Vorbringen und macht unter Hinweis auf eine Entscheidung des Sozialgerichts Magdeburg (Beschluss vom 27.10.2005 - S 28 AS 543/05 ER) geltend, grundsätzlich hätten Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung, weshalb die Ausnahmevorschrift des § 39 SGB II eng auszulegen sei. Ferner teilt der Antragsteller mit, er habe am 20.02.2006 - der Widerspruchsbescheid sei am 01.02.2006 ergangen - Klage beim SG erhoben.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. Oktober 2005 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten erster und zweiter Instanz einschließlich der Akten S 8 AS 2354/05 und die Akten der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

Die gemäß den §§ 172 Abs. 1, 173 SGG form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und teilweise begründet. Die Voraussetzungen für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 11.10.2005 sind erfüllt, soweit der Antragsteller in diesem Bescheid verpflichtet wird, die für den Monat Januar 2005 erhaltene Leistung in Höhe von 799,- EUR zu erstatten. Der Anordnung der aufschiebenden Wirkung auch der (zwischenzeitlich erhobenen) Klage bedarf es nicht. Die Wirkung der gerichtlich angeordneten aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs tritt rückwirkend ab Erlass des mit dem Widerspruch angefochtenen Bescheides ein und endet in den Fällen, in denen Klage erhoben wird, erst mit Eintritt der Unanfechtbarkeit der Hauptsacheentscheidung (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2005 § 86b RdNr. 19; Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003 § 80 RdNr. 171).

Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen.

Der Senat ist ebenso wie das SG der Ansicht, dass der Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid vom 11.10.2005 nicht bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hat. Zwar haben nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG Widerspruch und Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt jedoch in den durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG). Ein solcher Fall ist hier gegeben. Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Klage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Da Widerspruch und Klage nur aufschiebende Wirkung besitzen können, wenn Entscheidungen der Leistungsträger mit einem bloßen Anfechtungsbegehren angegangen werden, kommen lediglich Aufhebungsentscheidungen nach den §§ 45ff SGB X i.V.m. § 40 SGB II und Entscheidungen über die Absenkung und den Wegfall von bereits bewilligtem Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld gemäß den §§ 31, 32 SGB II in Betracht (Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 39 RdNr. 12).

Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs aufgrund von § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG ist anhand einer Interessenabwägung zu beurteilen. Die öffentlichen Interessen am sofortigen Vollzug des Verwaltungsakts und die privaten Interessen an der Aussetzung der Vollziehung sind gegeneinander abzuwägen (Krodel, Der sozialgerichtliche Rechtsschutz in Anfechtungssachen, NZS 2001, 449, 453). Dabei ist zu beachten, dass das Gesetz mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung in § 39 SGB II dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides Vorrang vor dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub der Vollziehung einräumt (kritisch hierzu Eicher aaO § 39 RdNr. 3). Diese typisierend zu Lasten des Einzelnen ausgestaltete Interessenabwägung (Eicher aaO RdNr. 2) kann aber im Einzelfall auch zu Gunsten des Betroffenen ausfallen. Die konkreten gegeneinander abzuwägenden Interessen ergeben sich in der Regel aus den konkreten Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, dem konkreten Vollziehungsinteresse und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung (Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 1. Aufl. 2005, RdNr. 195). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur einstweiligen Anordnung entwickelten Grundsätze anzuwenden (Krodel aaO RdNr. 205). Danach sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung zu Gunsten des Antragstellers nicht erginge, die Klage später aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, der Klage aber der Erfolg zu versagen wäre (st. Rspr des BVerfG; vgl. BVerfG NJW 2003, 2598, 2599 m.w.N.). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich zudem aus Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es - wie hier - im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht. Ist während des Hauptsacheverfahrens das Existenzminimum nicht gedeckt, kann diese Beeinträchtigung nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen rückwirkend gewährt werden (BVerfG 12.05.2005 NVwZ 2005, 927, 928)

Im vorliegenden Fall ergibt die nach den oben dargestellten Grundsätzen vorzunehmende Abwägung, dass das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 11.10.2005 überwiegt, soweit der Antragsteller durch diesen Bescheid zur Rückzahlung der für den Monat Januar erfolgten Leistung in Höhe von 799,- EUR verpflichtet wird. Im Übrigen überwiegt das Interesse der Antragsgegnerin an der Vollziehung des Bescheides, d.h. das Interesse daran, die für die Monate Februar und März 2005 bereits bewilligten Leistungen vorläufig nicht ausbezahlen zu müssen.

Die Klage gegen den Bescheid vom 11.10.2005 hat nach summarischer Prüfung des aktenkundigen Sachverhalts eine gewisse Aussicht auf Erfolg. Als Rechtsgrundlage des angegriffenen Rücknahmebescheides kommt § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3, Abs. 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II und § 330 Abs. 2 SGB III in Betracht. Danach ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X) oder der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X).

Dem Antragsteller kann nicht vorgeworfen werden, unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht zu haben. Zwar hat er im Antragsformular die Frage nach den eingezahlten Beiträgen bei einer der drei Lebensversicherungen nicht beantwortet. Nachdem die Antragsgegnerin ihn aber mit Schreiben vom 27.12.2004 nur noch zu den aktuellen Rückkaufswerten befragt und er diese Anfrage vollständig beantwortet hat, kann dem Antragsteller nicht mehr vorgehalten werden, in wesentlicher Beziehung vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige Angaben gemacht zu haben. Aus dem Schreiben vom 27.12.2004 lässt sich vielmehr der Schluss ziehen, dass für die Entscheidung über den Antrag nur noch die angeforderten - und vom Antragsteller auch vorgelegten - Unterlagen benötigt werden.

Dafür, dass der Antragsteller die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom 18.01.2005 gekannt hat, gibt es keine Anhaltspunkte. Auch im angefochtenen Bescheid wird nicht von einer positiven Kenntnis des Antragstellers ausgegangen. Dem Antragsteller kann nach Lage der Dinge aber auch nicht vorgeworfen werden, er habe infolge grober Fahrlässigkeit die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides nicht gekannt.

Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss ( BSGE 42, 184 , 187 = SozR 4100 § 152 Nr 3; BSGE 62, 32 , 35 = SozR 4100 § 71 Nr. 2); dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff: BSGE 35, 108 , 112; 44, 264, 273 = SozR 5870 § 13 Nr 20). Bezugspunkt für das grobfahrlässige Nichtwissen ist schon nach dem Wortlaut des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes - also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde. Allerdings können "Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung", auch wenn sie nicht Bezugspunkt des grobfahrlässigen Nichtwissens sind (BVerwG Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr 24; vgl auch BSGE 62, 103 , 106 = SozR 1300 § 48 Nr 39), Anhaltspunkt für den Begünstigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen. Voraussetzung dafür ist aber, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 45). Zwar besteht eine Obliegenheit, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. Allerdings ist ein Antragsteller, der zutreffende Angaben gemacht hat, im Allgemeinen nicht zu Gunsten der Fachbehörde gehalten, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Der Antragsteller darf davon ausgehen, dass eine Fachbehörde nach den für die Leistung erheblichen Tatsachen fragt und seine wahrheitsgemäßen Angaben zutreffend umsetzt (vgl BVerwGE 92, 81, 84). Das gilt auch, soweit Antragsteller über ihre Rechte und Pflichten durch Merkblätter aufgeklärt werden, die abstrakte Erläuterungen über Voraussetzungen von Ansprüchen und deren Bemessung enthalten. Andernfalls würde Begünstigten durch Merkblätter das Risiko für die sachgerechte Berücksichtigung von eindeutigen Tatsachen durch eine Fachbehörde aufgebürdet. Auch bei der Berücksichtigung der Vielfalt von Aufgaben und der Vielzahl der zu bearbeitenden Vorgänge ist es aber gerade die Aufgabe der Fachbehörde, wahrheitsgemäße tatsächliche Angaben von Antragstellern rechtlich einwandfrei umzusetzen (vgl. BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 45).

Der Antragsteller hat - wie dargelegt - wahrheitsgemäße Angaben gemacht und durfte daher grundsätzlich auf eine korrekte Umsetzung seiner Angaben vertrauen. Hinzu kommt, dass die Frage der Verwertbarkeit von Lebensversicherungen als Vermögen im Gesetz nicht gesondert geregelt und auch nicht durch einfachste und ganz nahe liegende Überlegungen zu beantworten ist. Vielmehr ist zu klären, ob es sich um geldwerte Ansprüche handelt, die der Altersvorsorge dienen (§ 11 Abs. 2 Nr. 3 SGB II) oder um Rechte, deren Verwertung möglicherweise offensichtlich unwirtschaftlich ist oder für den Betroffenen eine besondere Härte bedeuten würde (§ 11 Abs. 3 Nr. 6 SGB II). Gegen eine grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides spricht ferner, dass die Antragsgegnerin den Antragsteller nach der am 22.12.2004 erfolgten Antragstellung mit Schreiben vom 27.12.2004 lediglich um die Übersendung einer Kopie seiner Lebensversicherung mit aktuellem Rückkaufswert (und nicht auch einschließlich Einzahlbetrag) gebeten hat. Nachdem der Antragsteller dem durch Übersendung entsprechender Mitteilungen der Versicherungsunternehmen hinsichtlich aller drei Lebensversicherungen nachgekommen war, erließ die Antragsgegnerin den Bewilligungsbescheid für die Zeit vom 01.01. bis 31.03.2005, obwohl die Höhe der eingezahlten Beträge und damit die Frage der Zumutbarkeit der Verwertung der Versicherungen noch nicht geklärt war. Die Antragsgegnerin traf also "voreilig" eine Bewilligungsentscheidung, die aus Sicht des Antragstellers nicht "augenfällig" rechtswidrig war. Dass er im Bewilligungsbescheid darum gebeten wurde, die bisherigen Einzahlungsbeträge hinsichtlich aller drei Lebensversicherungen vorzulegen, konnte der Antragsteller nach dem bisherigen Verlauf lediglich als ein Verlangen der Antragsgegnerin um ergänzende Angaben bzw. Unterlagen verstehen, von denen aber die Berechtigung der beantragten Leistungen nicht mehr abhängig war. Der Antragsteller konnte nicht davon ausgehen, dass ihm die Antragsgegnerin Leistungen bewilligt, ohne das vollständige Vorliegen der Voraussetzungen für die bewilligte Leistung geprüft zu haben. Dass der Antragsteller die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dürfte bei diesem Verfahrensablauf jedenfalls kaum gesagt werden können. Die Ausführungen im entsprechenden Merkblatt zur Berücksichtigung von Vermögen sind angesichts des konkretisierenden Schreibens der Antragsgegnerin vom 27.12.2004 und des konkreten Inhalts des Bewilligungsbescheides nicht geeignet, die Unkenntnis des Antragstellers von der Rechtswidrigkeit dieses Bescheides als grob fahrlässig zu qualifizieren.

Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass eine weitere Aufklärung des Sachverhalts zu einer anderen Beurteilung der Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens führt. Daher hält der Senat es für sachgerecht, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nur teilweise anzuordnen. So fällt auf, dass der Antragsteller nach seinen eigenen Angaben bei der Antragstellung im Dezember 2004 nur bis 05.07.2003 Arbeitslosengeld bezogen hat. Es ist nicht ersichtlich, ob er anschließend wieder gearbeitet hat oder ob er andere Leistungen bezogen hat. Denkbar ist aber auch, dass er Arbeitslosenhilfe nur deshalb nicht erhalten hat, weil er wegen seiner Lebensversicherungen nicht bedürftig war. Sollte dies der Fall sein, könnte die Frage, ob er die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides grob fahrlässig nicht erkannt hat, möglicherweise anders zu beurteilen sein.

Das Interesse des Antragstellers an der Auszahlung der Leistungen für die Monate Februar und März 2005 ist trotz der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren geringer zu bewerten als das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Aufhebungsbescheides. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass im Rahmen des einstweiligen Rechtschutzverfahrens in erster Linie auf eine aktuelle und nicht auf eine in der Vergangenheit vorhandene Bedürftigkeit abzustellen ist. Dem Antragsteller kann daher zugemutet werden, die Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten. Auch hat sich der Antragsteller mit seinem einstweiligen Rechtsschutzbegehren vornehmlich gegen die Einziehung des für Januar 2005 bereits ausbezahlten Betrages gewandt.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Dabei wurde berücksichtigt, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nur teilweise angeordnet wurde.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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