L 18 SB 114/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 5 SB 100/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 SB 114/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 06.07.2005 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Kläger das Merkzeichen RF zusteht.

Auf den am 07.10.2003 gestellten Neufeststellungsantrag des 1923 geborenen Klägers erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 12.12.2003 als Behinderungen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 90 an. 1. Verkürzung des linken Beines nach Teilresektion des linken Kniegelenkes und Versteifung desselben in Streckstellung; leichte Verbiegung der Lendenwirbelsäule; Verlust der 2. mit 5. Zehe links mit Teilverlust des 2., 3. und 4. Mittelfußknochens, Fehlstellung der linken Großzehe und Teil- bzw. völlige Versteifung der Mittelfuß- und Fußwurzelknochengelenke bei trophischen Hautdurchblutungsstörungen nach Granatsplitterverletzung. Bewegungseinschränkung in den linken Großzehen- und im linken unteren Sprunggelenk, Abknicken der Kniekehlenarterie links infolge der vorausgegangenen 2. Kniegelenksresektion (Einzel-GdB 70). Seelische Störung (Einzel-GdB 30) 3. Künstlicher Gelenkersatz der Hüfte links, Funktionsbehinderung des Hüftgelenks rechts, Knorpelschäden am Kniegelenk rechts (Einzel-GdB 20) 4. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen, muskuläre Verspannungen (Einzel-GdB 20) 5. Bluthochdruck (Einzel-GdB 10) 6. Fingerpolyarthrose beidseits, Tremor (Einzel-GdB 10). Weiter stellte der Beklagte das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G und 1.Klasse fest. Die Zuerkennung des - vom Kläger beantragten - Merkzeichens aG lehnte der Beklagte ab. Mit Schreiben ebenfalls vom 12.12.2003 bestätigte der Beklagte dem Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen für das sog. "Bayern-aG".

Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, dass ihm das Merkzeichen RF zustehe. Seit April 2001 sei er nicht mehr in der Lage, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Den Widerspruch wies der Beklagte nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme zurück (Widerspruchsbescheid vom 13.02.04). Die Gesundheitsstörung zu Nr 3 sei neu zu bezeichnen. Ergänzend sei eine arterielle Verschlusskrankheit des linken Beines zu berücksichtigen. Ein höherer GdB ergebe sich dadurch nicht. Das Merkzeichen RF könne nicht zuerkannt werden, da nach den vorliegenden Gesundheitsstörungen die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht grundsätzlich verwehrt sei.

Mit der dagegen zum Sozialgericht (SG) Bayreuth erhobenen Klage verfolgte der Kläger weiter die Zuerkennung des Merkzeichens RF. Die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen sei ihm aufgrund einer Blasenschwäche nicht möglich. Für den Toilettengang benötige er eine Sitzerhöhung und einen Haltegriff. Wegen der Versteifung des linken Knies könne er nur für kurze Zeit auf einen Stuhl sitzen. Auch bei Verwendung von Unterarmgehstützen sei er nicht in der Lage, länger als fünf Minuten zu laufen.

Das SG zog die Beschädigten- und die Schwerbehindertenakte des Beklagten bei und holte Befundberichte der behandelnden Ärzte ein. Sodann ernannte es den Internisten Dr.T. zum gerichtlichen Sachverständigen. Dr.T. erstellte das Gutachten vom 21.02.2005 nach ambulanter Untersuchung des Klägers im Rahmen eines Hausbesuches. Er kam zu dem Schluss, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF nicht erfüllt seien. Der Kläger könne mit Hilfe einer Begleitperson oder technischen Hilfsmitteln trotz seiner Gesundheitsstörungen an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen.

Die Beteiligten haben sich zum Gutachten des Dr.T. geäußert. Der Kläger hielt daran fest, dass er an öffentlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen könne. Entgegen den Ausführungen des Gutachters könne er nicht länger als wenige Minuten sitzen, ohne das linke Bein aufzulegen. Er benötige eine besonders eingerichtete Toilette; Behindertentoiletten seien aber nicht überall vorhanden. Dr.T. habe die Blasenschwäche nicht berücksichtigt. Der Beklagte verwies auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme, nach der sich der ärztliche Dienst für die Feststellung weiterer Behinderungen - ohne Erhöhung des Gesamt-GdB - und (nochmals) für die Zuerkennung des Merkzeichens "Bayern-aG" ausgesprochen habe.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 06.07.2005 abgewiesen. Es folge den Ausführungen des Sachverständigen Dr.T ... Zwar bestünden beim Kläger insbesondere im Bereich des Bewegungsapparates schwerwiegende Gesundheitsstörungen. Jedoch könne der Kläger mit einer Begleitperson und entsprechenden technischen Hilfsmitteln an öffentlichen Veranstaltungen in zumutbarer Weise teilnehmen.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers zum Bayer. Landessozialgericht (BayLSG). Er begehrt weiter die Zuerkennung des Merkzeichens RF. Wegen der Versteifung des linken Kniegelenkes in Streckstellung und der damit verbundenen Beschwerden sei er nicht mehr in der Lage, auf einem normalen Stuhl zu sitzen. In der Wohnung benutze er jetzt einen Rollstuhl. Er könne sich mit dem Rollstuhl zu einem Veranstaltungsort fahren lassen, wisse aber nicht, wie er dort die Treppen hochsteigen solle. Die Benutzung einer Toilette ohne Haltegriff und ausreichende Sitzerhöhung sei ihm nicht möglich, da sowohl das Hinsetzen als auch das Aufstehen starke Schmerzen verursache. Seine Blasenschwäche sei nicht ausreichend berücksichtigt worden (Hinweis auf einen Bericht des Urologen N.P. vom 09.09.2005). Dr.T. habe die bei ihm bestehende arterielle Verschlusskrankheit des linken Beines nicht erkannt.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 06.07.2005 aufzuheben und den Bescheid des Beklagten vom 12.12.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2004 abzuändern sowie den Beklagten zu verurteilen, bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Er hält daran fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens RF nicht vorliegen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten und Akten des BayLSG in dem Verfahren L 18 V 57/99 sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidung ergeht im Einverständnis mit den Beteiligten im schriftlichen Verfahren (§§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG), aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 12.12.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2004 ist rechtmäßig. Allein streitgegenständlich ist die Zuerkennung des Merkzeichens RF. Der Beklagte hat zutreffend entschieden, dass der Kläger hierfür die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht erfüllt.

Das Merkzeichen RF ist in den Ausweis einzutragen, wenn der Schwerbehinderte die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt. Nach dem bis zum 31.03.2005 anzuwendenden § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 3 der Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 21.07.1992 (BayGVBl 1992, 254) und dem ab 01.04.2005 geltenden § 6 Abs 1 Satz 1 Nr 8 des Rundfunkgebührenstaatsvertrages idF der Bekanntmachung vom 27.07.2001 (BayGVBl 2001, 561; zuletzt geändert am 09.02.2005 - BayBVBl 2005, 27) werden von der Rundfunkgebührenpflicht u.a. befreit Behinderte, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist eine enge Auslegung von Gebührenbefreiungsvorschriften geboten (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 17 mwN). Danach wird dem Zweck der Befreiung von der Gebührenpflicht für den Rundfunk- und Fernsehempfang dann genügt, wenn der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch von Zusammenkünften politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art ausgeschlossen ist. Das ist regelmäßig der Fall, wenn er praktisch an das Haus gebunden ist und allenfalls an einer nicht nennenswerten Zahl von Veranstaltungen teilnehmen kann (vgl BSG aaO).

Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger nicht vor. Nach dem im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Gutachten des Dr.T. vom 21.02.2005 ist der Kläger nicht außerstande, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Der Kläger gehört auch nicht zu den in Nr 33 Abs 2 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 1996/2004 genannten behinderten Menschen, bei denen die gesundheitlichen Voraussetzungen als erfüllt angesehen werden. Der Senat hält die diesbezüglichen und auch im Übrigen die Ausführungen des SG für überzeugend und macht sich diese zu eigen (§ 153 Abs 2 SGG).

Der Kläger hat auch im Berufungsvorbringen selbst angegeben, dass er in der Lage ist, mit dem Rollstuhl zu öffentlichen Veranstaltungen zu gelangen. Solange aber ein Schwerbehinderter mit technischen Hilfsmitteln (wie etwa mit dem Rollstuhl) und mit Hilfe einer Begleitperson in zumutbarer Weise öffentliche Veranstaltungen aufsuchen kann, ist er von der Teilnahme am öffentlichen Geschehen nicht ausgeschlossen (vgl BSG SozR 3870 § 3 Nr 25). Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger einzelne Veranstaltungsorte nicht erreichen kann, weil dort Treppen überwunden werden müssen. Hierdurch wird der Kläger nicht allgemein von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Außerdem ist davon auszugehen, dass die Veranstaltungsorte in der Regel besondere Vorkehrungen für Rollstuhlfahrer aufweisen, wie Aufzug, Rampen oder für behinderte Menschen geeignete Toiletten.

Dass der Kläger Beschwerden bei der Benutzung der Toilette hat, führt nicht zur Anerkennung des Merkzeichens RF. Der behinderte Mensch muss objektiv gehindert sei, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Die Beschwerden stellen jedoch individuelle Verhältnisse des Klägers dar, die an sich nicht der Möglichkeit des Klägers entgegenstehen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Auch die vom Kläger geltend gemachte Blasenschwäche rechtfertigt nicht die Zuerkennung de Merkzeichens RF. Dr.T. konnte bei der Untersuchung des Klägers eine relevante Harninkontinenz nicht feststellen. Nach dem Bericht des Urologen N.P. vom 09.09.2005 besteht beim Kläger ein imperativer Harndrang mit Blasenentleerungsstörung. Allein aufgrund dieser Erkrankung ist der Kläger alledings nicht gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Denn dem Kläger ist es zuzumuten, Inkontinenzmaterial zu verwenden. Nach der Rechtsprechung des BSG ist es behinderten Menschen, die an einem unkontrollierten Harndrang leiden, zuzumuten, Windelhosen zu benutzen, die den Harn bis zu zwei Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen (SozR 3-3870 § 4 Nr 17 mwN). Dies verstößt weder gegen die Würde des Menschen (Art 1 Grundgesetz - GG -) noch gegen den Sozialstaatsgrundsatz des Art 20 Abs 1 GG (BSG aaO).

Der Senat sah sich nicht veranlasst, ein weiteres ärztliches Sachverständigengutachten einzuholen. Zwar bringt der Kläger vor, dass Dr.T. die beim ihm bestehende arterielle Verschlusskrankheit des linken Beines nicht erkannt habe. Dies ist jedoch nicht der Fall. Dr.T. hat in seinen Ausführungen darauf hingewiesen, dass der Beklagte im Widerspruchsverfahren das mittlerweile operierte Poplitea-Aneurysma, also die arterielle Verschlusskrankheit des linken Beines, als Gesundheitsstörung anerkannt habe. Zwar hat Dr.T. Folgerungen hieraus für die Zuerkennung des Merkzeichens RF nicht gezogen. Allerdings bedingt diese Erkrankung lediglich eine weitere Einschränkung der Gehfähigkeit ohne der Möglichkeit des Klägers entgegenzustehen, mit dem Rollstuhl öffentliche Veranstaltungen aufzusuchen.

Nach alledem ist die Entscheidung des SG nicht zu banstanden und daher die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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