L 8 AS 1730/06 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
8
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 14 AS 1368/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 AS 1730/06 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 29. März 2006 aufgehoben und der Antrag der Antragstellerinnen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 30. November 2005 abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten sind im Antrags- und Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die gemäß den §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig und begründet. Die Voraussetzungen für eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 30.11.2005 sind nicht erfüllt. Mit dem angefochtenen Bescheid hat die Antragsgegnerin ihren Bewilligungsbescheid vom 08.12.2004, mit dem sie der Antragstellerin zu 1 und ihrer am 1988 geborenen Tochter, der Antragstellerin zu 2, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum 31.05.2005 in Höhe von monatlich 857,24 EUR bewilligt hatte, teilweise aufgehoben und von den Antragstellerinnen in diesem Zeitraum zuviel gezahlte Leistungen in Höhe von insgesamt 1.192,85 EUR zurückgefordert.

Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Der Senat ist anders als das SG der Ansicht, dass der Widerspruch der Antragstellerinnen gegen den Bescheid vom 30.11.2005 nicht bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hat. Zwar haben nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG Widerspruch und Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt jedoch in den durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG). Ein solcher Fall ist hier gegeben. Nach § 39 Nr. 1 SGB II haben Widerspruch und Klage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Da Widerspruch und Klage nur aufschiebende Wirkung besitzen können, wenn Entscheidungen der Leistungsträger mit einem bloßen Anfechtungsbegehren angegangen werden, kommen lediglich Aufhebungsentscheidungen nach den §§ 45ff SGB X i.V.m. § 40 SGB II und Entscheidungen über die Absenkung und den Wegfall von bereits bewilligtem Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld gemäß den §§ 31, 32 SGB II in Betracht (Beschluss des Senats vom 20.03.2006 aaO; Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, § 39 RdNr. 12; ebenso der 7. Senat des LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 12.04.2006 - L 7 AS 1196/06 ER-B -).

Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs aufgrund von § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG ist anhand einer Interessenabwägung zu beurteilen. Die öffentlichen Interessen am sofortigen Vollzug des Verwaltungsakts und die privaten Interessen an der Aussetzung der Vollziehung sind gegeneinander abzuwägen (Krodel, Der sozialgerichtliche Rechtsschutz in Anfechtungssachen, NZS 2001, 449, 453). Dabei ist zu beachten, dass das Gesetz mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung in § 39 SGB II dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides Vorrang vor dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub der Vollziehung einräumt (kritisch hierzu Eicher aaO § 39 RdNr. 3). Diese typisierend zu Lasten des Einzelnen ausgestaltete Interessenabwägung (Eicher aaO RdNr. 2) kann aber im Einzelfall auch zu Gunsten des Betroffenen ausfallen. Die konkreten gegeneinander abzuwägenden Interessen ergeben sich in der Regel aus den konkreten Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, dem konkreten Vollziehungsinteresse und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung (Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 1. Aufl. 2005, RdNr. 195). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur einstweiligen Anordnung entwickelten Grundsätze anzuwenden (Krodel aaO RdNr. 205). Danach sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung zu Gunsten des Antragstellers nicht erginge, die Klage später aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, der Klage aber der Erfolg zu versagen wäre (st. Rspr des BVerfG; vgl. BVerfG NJW 2003, 2598, 2599 m.w.N.). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich zudem aus Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht. Ist während des Hauptsacheverfahrens das Existenzminimum nicht gedeckt, kann diese Beeinträchtigung nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen rückwirkend gewährt werden (BVerfG 12.05.2005 NVwZ 2005, 927, 928)

Im vorliegenden Fall ergibt die nach den oben dargestellten Grundsätzen vorzunehmende Abwägung, dass das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Bescheides vom 30.11.2005 das Interesse der Antragstellerinnen an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen diesen Bescheid überwiegt. Die Klage gegen den Bescheid vom 30.11.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.03.2006 hat keine Aussicht auf Erfolg.

Als Rechtsgrundlage des angegriffenen Rücknahmebescheides kommt § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 und 3, Abs. 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II und § 330 Abs. 2 SGB III in Betracht. Danach ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X) oder der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X).

Die Antragstellerinnen müssen sich vorhalten lassen, vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht zu haben. So hat die Antragstellerin zu 1 bei der Abgabe des Antragformulars am 17.11.2004 angegeben, dass die Antragstellerin zu 2 kein Einkommen erzielt, und sie hat ihre Angaben mit ihrer Unterschrift bestätigt. Diese Angaben waren aber unrichtig, weil die Antragstellerin zu 2 bereits seit 09.11.2004 einer Beschäftigung nachgeht, in der sie in der in der hier fraglichen Zeit monatlich 350,00 EUR (Januar 2005) bzw. 320,- EUR (Februar bis Mai 2005) brutto/netto verdient hat. Die Antragstellerinnen sind daher verpflichtet, zuviel erhaltene Leistungen zurückzuzahlen. Die Höhe des von der Antragsgegnerin festgesetzten Rückforderungsbetrages ist nicht zu beanstanden. Die Antragsgegnerin hat von dem monatlichen Einkommen der Antragstellerin zu 2 eine Werbungskostenpauschale in Höhe von 15,33 EUR (ein Sechzigstel der steuerrechtlichen Werbungskostenpauschale, vgl. § 3 Nr. 3 Buchst. a) Fallgruppe aa) der Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung - Alg II-V) sowie eine Versicherungspauschale von 30 EUR (vgl. § 3 Nr. 1 Alg II-V) abgezogen und von dem nach Abzug dieser Beträge verbleibenden monatlichen Einkommen der Antragstellerin zusätzlich einen Freibetrag von 15% dieses Betrages als nach § 30 Nr. 1 SGB III in der bis zum 30.09.2005 geltenden Fassung belassen. Diese Berechnung weicht nicht zu Ungunsten der Antragstellerinnen vom Gesetz ab. Die Antragstellerinnen haben keine höheren Werbungs- und Versicherungskosten geltend gemacht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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