L 2 U 5798/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 1 U 293/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 U 5798/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Stuttgart vom 26. November 2004 verurteilt, der Klägerin 12.015,67 Euro zu zahlen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Der Streitwert wird auf 12.015,67 Euro festgesetzt

Tatbestand:

Die Klägerin macht gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung von Kosten in Höhe von 23.500,60 DM geltend, die anlässlich der Wiedererkrankung des Beigeladenen am 21. September 1998 entstanden sind; Klägerin und Beklagte streiten lediglich darüber ob für den Unfall vom 5. Januar 1988 wegen § 777 Nr. 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) die Klägerin zuständig ist.

Der Beigeladene ist am 5. Januar 1988 bei Bauarbeiten am Dachgeschoss des bei einem Brand am 22. August 1987 stark beschädigten Wohnhauses (Dachgeschoss komplett abgebrannt, Wasserschäden durch Löschen), das zum landwirtschaftlichen Betrieb seines Vaters gehörte, verunglückt. Er zog sich dabei eine Luxation der linken Schulter zu, als er von einem herunterstürzenden schweren Dachbalken getroffen wurde. Weitere Schulterluxationen am linken Schultergelenk zog sich der Beigeladene am 18. März 1993 sowie am 21. September 1998 zu. Am 18. März 1993 ist der Beigeladene bei Estricharbeiten auf dem Balkon ausgerutscht und auf die linke Hand des ausgestreckten Armes gefallen (s. Unfallanzeige der S. und P. GmbH vom 25. März 1993, Bl. 1 u. 2 d. Verw.-Akten der Beklagten). Die Beklagte übernahm die Behandlungskosten. Am 21. September 1998 erfolgte die Luxation, als der Beigeladene bei einer privaten Verrichtung den linken Arm hinter dem Kopf anhob. Die Behandlungskosten übernahm die Klägerin, die von der behandelnden O. Klinik gGmbH R.-Krankenhaus L. für zuständig gehalten und angeschrieben wurde, weil die Klägerin für den Unfall vom 5. Januar 1988 zuständig gewesen sei und dieser Unfall mit dem jetzigen Befund in Zusammenhang stehe. Am 8. Dezember 1998 erfolgte wegen habitueller Schulterluxation links eine Operation nach Putti-Platt der linken Schulter.

Die Klägerin bezahlte für die Behandlungen und Arztbriefe sowie für die Begutachtung insgesamt 6066,85 DM (vgl. Bl. R1 bis R9 der Verw.-Akte), für einen weiteren Arztbrief vom 2. März 1999 16,50 DM (Bl. 38 d. Verw.-Akte) und Verletztengeld für die Zeit vom 10. Oktober 1998 bis 2. Mai 1999 in Höhe von 17.417,25 DM. Insgesamt bezahlte die Klägerin 23.500,60 DM, was einem Betrag von 12.015,67 Euro entspricht.

Die Ermittlungen der Klägerin zum Unfall vom 5. Januar 1988 ergaben, dass bei dem Brand das Wirtschaftsgebäude mit dem Stall komplett und das Wohnhaus stark beschädigt worden sind. Mit dem Wiederaufbau des Wohnhauses hat die Familie des Beigeladenen in Eigenregie sofort begonnen und die Schäden am Dach nach und nach behoben. Im Winter 1987/1988 erfolgte der Innenausbau durch Ersetzen der brandgeschädigten Balken; dabei geschah der Unfall des Beigeladenen am 5. Januar 1988; etwa im März 1988 wurde mit dem kompletten Aufbau des Wirtschaftsgebäudes begonnen, der im November 1988 abgeschlossen wurde. Bei der Sanierung des Wohnhauses sind keine Fremdfirmen beschäftigt gewesen, sondern der Beigeladene, der von Beruf Maurer ist, sowie dessen 2 ältere Brüder sowie ein Onkel, der von Beruf Zimmermann war, und der Vater als landwirtschaftlicher Unternehmer sowie die Mutter. Maschinen und Geräte, die für die Baumaßnahmen notwendig waren, zum Beispiel Betonrüttler, Schaltafeln, große Schraubzwinken und Gerüst, hat der Beigeladene von seiner Firma ausleihen können. Die Ermittlungen der Beklagten ergaben, dass bei der Wiederherstellung des Wohnhauses - das nicht landwirtschaftlichen Zwecken diene (so die Aussage Kling vom 10. Oktober 2000) - insgesamt 6 Personen mitgearbeitet hätten und in der Landwirtschaft 7 Personen tätig gewesen seien und dass Eigenleistungen in Höhe von 10.000,- DM erbracht worden seien.

Die Klägerin beauftragte Chefarzt Dr. S. mit der Erstattung eines Gutachtens. In seinem Gutachten vom 7. Oktober 1999 kam er zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Ereignis vom 21. September 1998 nicht um einen Unfall, sondern um mittelbare Folgen der Unfallereignisse vom 5. Januar 1988 und 18. März 1993 handele. Es lasse sich schwer beurteilen, ob das Ereignis vom 21. September 1998 Folge der Luxation vom 5. Januar 1988 oder vom 18. März 1993 sei. Die Beklagte beauftragte Dr. W. mit der Erstattung eines Gutachtens, der unter dem 24. Oktober 2002 die Auffassung vertrat, das Ereignis vom 18. März 1993 sei nicht geeignet gewesen, ein gesundes Schultergelenk zu luxieren. Art und Ausmaß des am 18. März 1993 aufgetreten Körperschadens sei wesentlich durch die traumatische Schulterluxation 1988 verursacht worden. Bei dem Ereignis vom 21. September 1998 handele es sich um eine mittelbare Folge des Unfalls vom 5. Januar 1988.

Die Klägerin machte gegenüber der Beklagten mit Schreiben vom 17. Juli 2000 die Erstattung der von ihr bezahlten 23.500,60 DM geltend, da § 777 Nr. 3 RVO hier nicht entgegen stünde. Die Beklagte lehnte die Erstattung ab und verwies auf die Zuständigkeit der Klägerin.

Am 17. Januar 2002 hat die Klägerin zum Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage erhoben und vorgetragen, dass die Voraussetzungen des § 777 Nr. 3 RVO nicht gegeben seien. Erst durch das Ereignis vom 21. September 1998 sei eine Prüfung der Zuständigkeit erfolgt. Die durchgeführten Bauarbeiten würden den Rahmen des § 777 Nr. 3 RVO eindeutig überschreiten. Die Beklagte hat vorgetragen, die wiederholt aufgetretenen Schulterluxationen links seien Folge des Unfalls vom 5. Januar 1988, für den die Zuständigkeit der Klägerin gegeben sei. Mit Urteil vom 26. November 2004 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Arbeiten hätten sich im Rahmen des § 777 Nr. 3 RVO gehalten.

Gegen das der Klägerin am 10. Dezember 2004 zugestellte Urteil hat sie am 23. Dezember 2004 Berufung eingelegt und in der Folge insbesondere damit begründet, dass unter Berücksichtigung des Urteils des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (LSG) vom 8. November 1984 - L 10 Ub 558/84 - § 777 Nr. 3 RVO nicht erfüllt sei.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 3. Dezember 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr 23.500,60 DM zu erstatten.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat die Beteiligten im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 19. Mai 2006 angehört. Der Beigeladene hat mitgeteilt, dass er anlässlich des Unfalls im Jahre 1988 kein Verletztengeld und keine Verletztenrente von der Klägerin erhalten habe. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten und der Klägerin sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

Nach 105 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - SGB X - ist der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 102 Abs. 1 SGB X vorliegen, soweit der zuständige Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Gem. § 102 Abs. 1 SGB X ist der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein Leistungsträger auf Grund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat. Gem. § 109 Satz 2 SGB X in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung sind auf Anforderung Auslagen zu erstatten, wenn sie im Einzelfall 200 DM übersteigen.

Nach Eintritt eines Arbeitsunfalles hat der Träger der Unfallversicherung die in § 547 RVO vorgesehenen Leistungen zu gewähren. Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten erleidet (§ 548 RVO). Unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehen auch landwirtschaftliche Tätigkeiten, wobei der landwirtschaftliche Unternehmer kraft Gesetzes versichert ist (§§ 776 ff., 539 Abs. 1 Nr. 5 RVO). Als Teile des landwirtschaftlichen Unternehmens gelten auch laufende Ausbesserungen an Gebäuden, die dem Unternehmen der Landwirtschaft dienen, Bodenkultur- und andere Bauarbeiten für den Wirtschaftsbetrieb, besonders das Herstellen oder Unterhalten von Wegen, Deichen, Dämmen, Kanälen und Wasserläufen für diesen Zweck, wenn ein landwirtschaftlicher Unternehmer die Arbeiten auf seinen Grundstücken oder für sein eigenes landwirtschaftliches Unternehmen auf fremden Grundstücken ausführt, ohne sie anderen Unternehmern zu übertragen (§ 777 Nr. 3 RVO).

Hiernach hat die unzuständige Klägerin Sozialleistungen erbracht, denn für den Unfall 1988 war die Beklagte zuständig. § 777 Nr. 3 RVO weist lediglich laufende Ausbesserungen an Gebäuden dem landwirtschaftlichen Risikobereich zu. Bei dem Brand am 22. August 1987 wurde aber das Wohnhaus stark beschädigt und das Wirtschaftsgebäude mit Stall komplett vernichtet. Dieses wieder aufzubauen geht über eine laufende Ausbesserung hinaus. Unter laufenden Ausbesserungen sind Ausbesserungen zu verstehen, die wegen der gewöhnlichen Abnutzung notwendig werden, nicht jedoch der Wiederaufbau. Die Bauarbeiten fallen auch nicht unter den Begriff der "anderen Bauarbeiten". Der Senat folgt der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach nur solche andere Bauarbeiten für den Wirtschaftsbetrieb als Teil des landwirtschaftlichen Unternehmens anzusehen sind, welche im Rahmen dieses Wirtschaftsbetriebes liegen (BSGE 17, 148, 149). Danach ist für die Abgrenzung maßgeblich, ob der Umfang der Bauarbeiten angesichts der Größe des Wirtschaftsbetriebes dessen Rahmen sprengt, wobei das Verhältnis zwischen Umfang der Bauarbeiten und Größe des Wirtschaftsbetriebes, die Art der Ausführung und das Verhältnis der mit eigenen und fremden Arbeitskräften auszuführenden Arbeiten bedeutsam sind (BSGE 35, 144, 145). Der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft soll nämlich nach Sinn und Zweck des Gesetzes das dem landwirtschaftlichen Unternehmen an sich fremde Unfallrisiko für Bauarbeiten nur aufgebürdet werden, wenn es sich um die Ausführungen von Bauarbeiten in verhältnismäßig geringem Umfang handelt, die nach bäuerlicher Übung in einem solchen landwirtschaftlichen Betrieb eigenhändig oder mit eigenen Wirtschaftsarbeitern ausgeführt werden (BSGE 35, 144, 146). Die Errichtung größerer Gebäude oder wesentlicher Gebäudeteile kann daher nicht der landwirtschaftlichen Unfallversicherung zugerechnet werden, und zwar auch dann nicht, wenn der Unternehmer selbst über Fachkenntnisse verfügt oder sich der Fachkenntnisse anderer bedienen kann (BSGE 17, 148, 151). Auch wenn für den Wiederaufbau des Wohnhauses nicht mehr Personen beteiligt waren als in Spitzenzeiten in der Landwirtschaft - worauf das SG entscheidend abgestellt hat - ergibt sich für den Senat, dass es sich bei dem Bauprojekt um ein einmaliges großes Bauvorhaben handelte, da der Brand am 22.08.1987 starke Beschädigungen hinterlassen hat und es diese zu kompensieren galt. So hat der Beigeladene unter Verwendung unbezahlten Urlaubs nicht nur beim Wiederaufbau des Wohnhauses geholfen, sondern auch bei sämtlichen Malerarbeiten und Verputzen des Stalles, Streichen der Bretter für die Halle und Isolierung der Stalldecke; letzteres hat alleine 2 Wochen in Anspruch genommen, wie er am 27. Juni 2000 unbestritten ausgeführt hat. Hieran ändert auch nichts, dass die landwirtschaftliche Fläche ca. 23 Hektar betrug. Hinzu kommt, dass von einer Fremdfirma Baumaschinen ausgeliehen und wie ein gewerblicher Unternehmer eingesetzt worden sind, was das LSG in seiner Entscheidung vom 8. November 1984, L 10 Ub 558/84 - zutreffend berücksichtigt hat. Hätten diese Hilfsmittel nicht zur Verfügung gestanden, hätte es einen weitaus größeren Zeitaufwandes bedurft bzw. wäre das Vorhaben durch Eigeninitiative gar nicht zu bewerkstelligen gewesen. Allein ein Abstellen auf die Arbeiten für das Wohngebäude, wofür sich die Beklagte und das SG ausgesprochen haben, widerspricht dem durch den Brand verursachten, einheitlich zu bewertenden Lebenssachverhalt; zudem wären Arbeiten an einem reinen Wohnhaus nicht landwirtschaftlich versichert (s. Kasseler Kommentar, § 124 SGB VII Rdnr. 15 zur Nachfolgeregelung).

Nach alledem kommt der Senat zu der Auffassung, dass nach § 777 Nr. 3 RVO nicht die Klägerin für den Unfall vom 5. Januar 1988 zuständig war, sondern die Beklagte. Der Beigeladene stand hiernach - gem. § 539 Abs. 2 RVO - unter Unfallversicherungsschutz, was von der Beklagten nicht bestritten wurde. Da die Beklagte auch zuständig war für das Unfallereignis vom 18. März 1993 und die am 21. September 1998 erneut aufgetretenen Gesundheitsstörungen auch nach dem Gutachten des Dr. S. auf diesen beiden Unfällen beruhen - das Anheben des Armes hinter den Kopf ist bloße Gelegenheitsursache - (nach dem Gutachten des Dr. Wenig beruht der Schaden allein auf dem Unfall von 1988), war die Beklagte zuständiger Leistungsträger. Die Beklagte hat nicht selbst geleistet, weshalb der Anspruch auf Erstattung der - unbestritten zu Recht geleisteten - Behandlungskosten sowie der Verletztengeldzahlung gemäß § 105 Abs. 1 SGB X besteht, da Anhaltspunkte für den Willen der Klägerin, die Leistungen nur vorläufig zu erbringen, nicht nach außen erkennbar waren (vgl. hierzu Kasseler Kommentar, § 102 SGB X Rdnr. 17) - wie die Beklagte zu Recht ausgeführt hat. Erstattung der Kosten für die Arztbriefe und das orthopädische Gutachten kann gem. § 109 Satz 2 SGB X verlangt werden, da allein die Kosten des Gutachtens mit 295,60 DM die Grenze von 200 DM übersteigt.

Der Anspruch der Klägerin ist auch nicht gem. §§ 111, 113 SGB X ausgeschlossen oder verjährt; Anhaltspunkte für eine rechtsmissbräuchliche Rechtsausübung bzw. für einen Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben bestehen entgegen der Auffassung der Beklagten nicht. Ob dies auch gelten würde, wenn die Klägerin Kosten erstattet verlangt, die unmittelbar nach dem Unfall 1988 entstanden sind, braucht hier nicht entschieden zu werden. Da die geltend gemachte Forderung von 23.500,60 DM 12.015,67 Euro entspricht, war hierauf zu erkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VWGO.

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 52 Abs. 3, 72 Nr. 1 Gerichtskostengesetz in der Fassung ab 1. Juli 2004.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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