L 22 KN 17/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 6 KN 185/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 22 KN 17/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 07. April 2004 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 11. April 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2002 verurteilt, der Klägerin Erziehungsrente ab 01. Juli 1993 zu gewähren. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Rechtszüge zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit zwischen den Beteiligten ist, ob die Klägerin, die von der Beklagten Erziehungsrente ab 01. Januar 1996 bezieht, einen Zahlungsanspruch auch für den Zeitraum vom 01. Juli 1993 bis zum 31. Dezember 1995 hat; ausschlaggebend ist, ob die vierjährige Ausschlussfrist des § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch SGB X auch auf Ansprüche aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch Anwendung findet.

Die 1965 geborene Klägerin ist die Mutter der am 09. Januar 1987 ehelich geborenen K W. Die Ehe der Klägerin mit dem am 1993 gestorbenen Vater des Kindes wurde 1991 geschieden.

Die Klägerin beantragte am 24. Oktober 2000 bei der Gemeinsamen Auskunfts- und Beratungsstelle der damaligen BfA, der damaligen LVA Brandenburg und der Beklagten in Cottbus Erziehungsrente ab 1993. Bei der Antragstellung verwies sie auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch: Der geschiedene Ehemann sei 1993 verstorben.

Am 03. Juni 1993 hatte die Klägerin bei der A und B Stelle Cottbus Halbwaisenrente für ihre Tochter aus der Versicherung des geschiedenen Ehemannes, des Vaters der Tochter, beantragt und dabei angegeben, die Ehe sei nach dem 30. Juni 1977 geschieden worden. Die Klägerin beantwortete auch die im Antragsformular enthaltene Frage nach etwaigen anderen Leistungen an sie. Der Antrag ist entgegengenommen und an die Beklagte geleitet worden. Diese forderte weitere Unterlagen an, die am 21. Juni 1993 bei der Beklagten eingingen.

Die Beklagte gewährte die Halbwaisenrente, irgendwelche Hinweise auf Anträge der Klägerin bezüglich einer Erziehungsrente oder auf entsprechende Hinweise der Beklagten sind in den Verwaltungsakten nicht vermerkt. Erst bei einem Gespräch am 24. Oktober 2000 in der A und B Stelle Cottbus über Kontenklärung hat die Klägerin nach ihrem Vorbringen von der Möglichkeit einer Erziehungsrente erfahren und den jetzt streitigen Rentenantrag gestellt.

Die Beklagte bewilligte zunächst mit Bescheid vom 11. April 2001 die Erziehungsrente ab 01. Oktober 1999 und erkannte im Widerspruchsverfahren ihre Verpflichtung zur Zahlung der Rente ab 01. Januar 1996 an. Für die Zeit vom 01. Juli 1993 bis zum 31. Dezember 1995 jedoch wies sie den Widerspruch zurück und begründete dies damit, dass zwar eine Verletzung der Beratungspflicht vorgelegen habe, so dass der Klägerin ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zur Seite stehe, sie also so zu stellen sei, als ob sie bereits im Juni 1993 den Antrag auf Erziehungsrente gestellt hätte. Für den Zeitraum vor dem 01. Januar 1996 jedoch seien die Ansprüche in entsprechender Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X ausgeschlossen.

Hiergegen hat die Klägerin am 26. August 2002 Klage beim Sozialgericht Cottbus erhoben und zur Begründung vorgetragen, da sie keine Schuld an der Nichtzahlung träfe, begehre sie die Erziehungsrente von der ursprünglichen Antragstellung an.

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,

die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 11. April 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2002 zu verurteilen, ihr Erziehungsrente ab 01. Juli 1993 zu zahlen.

Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat sich hierzu auf die Ausführungen in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid berufen.

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 07. April 2004 die Klage abgewiesen und der Klägerin Verschuldenskosten auferlegt.

Sodann hat das Sozialgericht auf die seiner Auffassung nach zutreffende Begründung im Widerspruchsbescheid Bezug genommen und die Auffassung vertreten, § 44 SGB X enthalte eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, deshalb könne eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht erfolgen.

Da die Klägerin hierauf in der mündlichen Verhandlung hingewiesen worden sei und den Rechtsstreit fortgesetzt habe, seien ihr Verschuldenskosten nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz SGG aufzuerlegen gewesen.

Gegen dieses der Klägerin am 16. April 2004 zugestellte Urteil richtet sich deren Berufung vom 07. Mai 2004, mit der die Klägerin sinngemäß beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 07. April 2004 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11. April 2001 und Änderung des Widerspruchsbescheides vom 31. Juli 2002 zu verurteilen, ihr Erziehungsrente ab 01. Juli 1993 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie begründet dies damit, dass ihr zwar die einschlägige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bekannt sei, die zuständige Arbeitsgruppe des Verbandes deutscher Rentenversicherungsträger (VdR) jedoch dieser Rechtsprechung nicht folgen wolle.

Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Leistungsakten der Beklagten betreffend die Klägerin () sowie den verstorbenen Kurt Winkler () Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht erhoben, somit insgesamt zulässig. Der Senat konnte gemäß § 124 Sozialgerichtsgesetz SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

Die Berufung ist auch begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf die begehrte Erziehungsrente ab 01. Juli 1993, so dass der entgegenstehende Widerspruchsbescheid und das Urteil des Sozialgerichts entsprechend zu ändern waren.

Die Klägerin hat, wie auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist, einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch gegen die Beklagte darauf, so gestellt zu werden, als hätte sie den maßgeblichen Antrag auf die Erziehungsrente bereits im Juni 1993 gestellt, da sie damals von Mitarbeitern der Beklagten falsch bzw. unvollständig beraten worden war. Diese Fehlberatung war auch ursächlich dafür, dass die Klägerin die Leistungen nicht erhalten hat, da wie sich auch in der Zukunft gezeigt hat die Klägerin bei richtiger Beratung ihren Anspruch weiter verfolgt hätte und ihr die streitige Leistung ab Juli 1993 gewährt worden wäre.

Es liegt der Fall der unterlassenen Spontanberatung vor, was auch von der Beklagten nicht bestritten wird. Zwar hat die Klägerin, der drei Jahre nach der Wende hiervon offenbar nichts bekannt war, nicht um Beratung wegen einer Leistung an sie selbst gebeten, sondern nur eine solche für die Tochter beantragt. Doch eine derartige Leistung war eine nahe liegende, jedem Vernünftigen einleuchtende Gestaltungsmöglichkeit, auf die von der A und B Stelle, die von der Beklagten mitbetrieben wird, hingewiesen werden musste. Dies zeigt schon das dort verwendete Formular, das auch für Renten an geschiedene Ehegatten gilt und in dem unter Ziffer 11.4 nach einer der Anspruchsvoraussetzungen hierfür gefragt wird, nämlich, ob die Ehe nach dem 30. Juni 1977 aufgelöst wurde (vgl. § 47 Abs. 1 Ziffer 1 SGB VI). Auch die Frage unter Ziffer 13 bezieht sich erkennbar auf eine Leistung an die Klägerin selbst (vgl. § 97 SGB VI). Daher bestand, obwohl die Klägerin die Beklagte nicht in eigener Sache, sondern als gesetzliche Vertreterin ihrer Tochter aufgesucht hatte, ein Anspruch auf Spontanberatung der Klägerin auch in Bezug auf die ihr selbst zustehende Erziehungsrente.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der Anspruch auch nicht für die Zeit vor dem 01. Januar 1996 ausgeschlossen. Denn der materiell-rechtliche (einzel )anspruchsvernichtende Einwand der Nachleistungsbegrenzung auf vier Jahre konkretisiert auch in der Rentenversicherung keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz und ist nicht analogiefähig (BSG, SozR 3 2600 § 99 Nr. 5). Diese Auffassung des 4. Senats hat dieser in seinem Urteil vom 06. März 2003 (B 4 RA 38/02 R) nochmals bestätigt und dargelegt, dass der (einzel )anspruchsvernichtende Vierjahreseinwand aus § 44 Abs. 4 SGB X keinen allgemeinen Rechtsgedanken enthalte, der im Rentenversicherungsrecht ohnehin nicht anwendbar wäre. Denn, so führt das BSG aus, der Einwand aus § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X gelte in allen Erstfeststellungsverfahren nicht. Zu den Erstfeststellungsverfahren gehören auch solche Erstfeststellungen, die aufgrund eines rentenversicherungsrechtlichen Herstellungsanspruchs getroffen werden müssen. Der Einwand aus § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X ist nur anwendbar, wenn ein rechtswidrig nicht begünstigender Verwaltungsakt oder ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung rückwirkend für mehr als vier Jahre, weil sonst die Bindungswirkung des alten Verwaltungsaktes ohnehin entgegenstünde, nach § 44 Abs. 1 oder 2 oder nach § 48 Abs. 1 SGB X aufgehoben worden ist. Auch der 13. Senat des BSG (BSGE 79, 177, 179) habe dies mit umfangreicher Begründung klargestellt: "Wo § 44 Abs. 4 und § 48 Abs. 4 SGB X tatbestandsmäßig nicht hinreichen, gilt nach wie vor § 45 SGB I." Dem sei, wie der 4. Senat des BSG bereits betont habe, nichts hinzuzufügen.

Dies entspricht auch Sinn und Zweck der Regelung: Denn wer einen Verwaltungsakt erhält und diesen zunächst bestandskräftig werden lässt, obwohl er rechtliche Möglichkeiten hat, dies zu verhindern das ist der Fall des § 44 SGB X , ist weniger schutzbedürftig als derjenige, der aufgrund fehlerhafter Beratung durch den Leistungsträger keine Kenntnis von etwaigen Ansprüchen hat.

Der hier erkennende Senat teilt diese Auffassung, so dass es auf die Frage einer angeblichen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wie sie das Sozialgericht angenommen hat, nicht ankommt.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG. Für die Kostenauferlegung des Sozialgerichts nach § 192 SGG gibt es bei Obsiegen der Klägerin keine Veranlassung, auch sie konnte keinen Bestand haben.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen. Dass die Beklagte in Übereinstimmung mit dem VdR der gefestigten Rechtsprechung des BSG nicht folgen will, macht in Anbetracht der ständigen Rechtsprechung des BSG die zugrunde liegende Frage weder klärungsbedürftig noch verleiht sie ihr grundsätzliche Bedeutung.
Rechtskraft
Aus
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