L 13 SB 57/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 34 SB 1999/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 57/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juni 2004 wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid vom 15. Dezember 2004 wird abgewiesen. Der Beklagte hat der Klägerin ein Fünftel der Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 für die Zeit von August 2000 bis Juni 2002.

Die 1943 geborene Klägerin beantragte im April 2001bei dem Beklagten die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft wegen Migräne mit starken Schmerzen, Sehausfällen, Wirbelsäulen- und Gelenkbeschwerden, Rheuma, Autoimmunerkrankung, Makuladegeneration und starker Konzentrationsschwäche. Der Beklagte zog den Entlassungsbericht der Reha - Klinik DH vom 1. März 2000 bei und holte Befundberichte der behandelnden Ärzte ein. Die Fachärztin für Neurologie B gab eine Behandlung von Februar 1997 bis August 1998 an; damals habe sich der Verdacht einer cerebrovaskulären Insuffizienz nicht bestätigt. Die Internistin Dr. J teilte in ihrem Bericht vom 15. Oktober 2001, dem eine Vielzahl von Untersuchungsbefunden beigefügt war, eine erstmalige Behandlung der Klägerin im August 2000 mit. Sie habe u.a. die Diagnose einer beginnenden Kollagenose (Erkrankung des Bindegewebes), noch undifferenziert, am ehesten Verdacht Lupus erythematodes visceralis (Autoimmunkrankheit der Haut und inneren Organe) mit Sicca-Syndrom mit Arthralgien und zum Teil Hand- und Fußschwellungen und cerebralen Veränderungen gestellt. Auf der Grundlage einer gutachtlichen Stellungnahme des Arztes D erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 12. Dezember 2001 als Behinderungen, deren verwaltungsinterne Einzel-GdB- Bewertung sich aus den Klammerzusätzen ergibt,

a. Cervical- und Lumbalsyndrom bei Fehlhaltung und Bandscheibenschaden mit rezidivierenden Wurzelreizzuständen, Polyarthralgien, beginnende Kollagenose (30) b. Hirnleistungsminderung, Schwindel bei Arteria carotis.-Stenose rechts und Gefäßsklerose (20) c. Migräneleiden (10)

mit einem GdB von 40 für die Zeit ab August 2000 an.

Den dagegen eingelegten Widerspruch wies er durch Widerspruchsbescheid vom 12. September 2002 zurück.

Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin Befundberichte von Dr. J, der Fachärztin für Orthopädie Dr. Sch, der Fachärztin für Allgemeinmedizin A, der Augenärztin Dr. St und der Neurologin Bolze eingeholt. Dr. J gab in ihrem Befundbericht vom 3. Februar 2003 als neue Leiden ein Knickungssyndrom der rechten Halsschlagader, eine Hypercholesterinaemie sowie eine am 3. Februar 2003 festgestellte stärkere Proteinurie, die auf eine deutliche Nierenfunktionsstörung hindeute, an. Die Veränderungen im Gesundheitszustand der Klägerin seien allmählich erfolgt. Es handele sich um Funktionsbeeinträchtigungen noch mittlerer Stärke. Die Allgemeinmedizinerin A teilte in ihrem Befundbericht vom 29. Juni 2003 eine deutliche Verschlechterungstendenz seit 2001 mit. Dem Befundbericht war u.a. ein Bericht des Dialysezentrums "" vom 5. Mai 2003 beigefügt, in dem eine noch normale Nierenfunktion beschrieben wird.

Auf der Grundlage dieser Befunde hat der Beklagte mit Bescheid vom 20. November 2003 einen GdB von 60 ab Januar 2003 wegen folgender Funktionseinschränkungen anerkannt:

a. Hirnleistungsminderung, Schwindel bei Gefäßsklerose (30) b. Somatisierungsstörungen (30) c. Cervikal- und Lumbalsyndrom bei Fehlhaltung und Bandscheibenschaden mit rezidivierenden Wurzelreizzuständen, Polyarthralgien, beginnende Kollagenose (30) d. Nierenleiden (30) e. Sehbehinderung (20) f. Hypotonie (10).

Das Sozialgericht hat die weiterhin auf die Feststellung eines GdB von 50 ab August 2000 gerichtete Klage durch Urteil vom 18. Juni 2004 abgewiesen. Der Beklagte habe zu Recht einen höheren GdB als 40 erst ab Januar 2003 anerkannt. Aus dem Reha-Entlassungsbericht und dem Befundbericht von Dr. Jahn ergebe sich nicht, dass bereits im August 2000 aufgrund der Kollagenosen Behinderungen bestanden hätten, die einen höheren Einzel-GdB als den für das orthopädisch-rheumatische Leiden festgestellten GdB von 30 rechtfertigten. Dr. Jhabe eine allmähliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes mitgeteilt. Nach den Vorgaben der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (Anhaltspunkte)2004 S. 112 seien bei Kollagenosen auch die Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und die Beteiligung weiterer Organe zu berücksichtigen. Die Nierenfunktionsstörung sei erstmals im Februar 2003 festgestellt worden. Die Sehbehinderung habe sich –wie den Befundberichten zu entnehmen sei – im Laufe des Verfahrens verschlechtert, weil Dr. St erstmals für Januar 2003 eine Gesichtsfeldeinschränkung mitgeteilt habe. Es sei auch nicht erkennbar, dass die Klägerin bereits vor 2002 an einer Hirnleistungsschwäche stärkeren Ausmaßes gelitten habe. Bei Anerkennung eines neurologisch-psychiatrischen Einzel-GdB von 30 ab Juli 2002, eines Einzel-GdB von 30 wegen der orthopädischen Leiden, eines GdB von 20 wegen der Sehbehinderung ab Dezember 2002 und eines Einzel- GdB von 30 aufgrund des Nierenleidens ab Januar 2003 könne für die Zeit ab August 2000 kein höherer GdB als 40 festgestellt werden.

Gegen das ihr am 27. August 2004 zugestellte Urteil richtet sich die bereits am 18. Juni 2004 2003 eingelegte Berufung der Klägerin. Sie macht geltend, dass nicht alle Funktionsstörungen richtig bewertet worden seien. Die Sehbehinderung werde nur anhand messbarer Daten erfasst, ohne die seit 1997 bestehenden totalen Sehausfälle im Mittelbereich zu berücksichtigen. Der durch die Autoimmunkrankheit verursachte sehr schlechte Allgemeinzustand, der sich in der Form einer Erschöpfung, starken Sonnenallergie, Übelkeit und Schwindel, anfallsartigen starken Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen und Hautproblemen äußere, habe mindestens seit August 2000 bestanden.

Der Beklagte hat mit Bescheid vom 15. Dezember 2004 einen GdB von 50 ab Juli 2002 anerkannt. Dem liegt eine nervenärztliche Stellungnahme von Dr. Sch vom 23. November 2004 zugrunde, der darauf verweist, dass ab diesem Zeitpunkt die Hirnleistungsstörung und die Somatisierungsstörungen mit einem GdB von 40 auf nervenfachärztlichem Gebiet zu bewerten seien und zusammen mit dem Leiden zu c. einen GdB von 50 bedingten.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juni 2004 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 12. Dezember 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2002 sowie die Bescheide vom 20. November 2003 und 15. Dezember 2004 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, sie als schwerbehinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 ab August 2000 anzuerkennen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 15. Dezember 2004 abzuweisen.

Der Senat hat einen Befundbericht des Praxisnachfolgers der die Klägerin vom 8. Januar 1999 an behandelnden Allgemeinmedizinerin und eine ergänzende Stellungnahme von Dr. St eingeholt.

Der Beklagte hat die Klägerin durch den Augenarzt Dr. D begutachten lassen, der in seinem Gutachten vom 17. Dezember 2005 zu dem Ergebnis gelangt ist, bei der Klägerin lägen intermittierend subjektive Sehstörungen, Weitsichtigkeit, Astigmatismus sowie Altersichtigkeit und eine geringe Maculadegeneration beidseits vor. Aufgrund der anamnestischen Angaben und des Untersuchungsbefundes seien die Sehstörungen am ehesten im Rahmen einer Augenmigräne oder als psychogene Sehstörungen anzusehen, auf augenärztlichem Gebiet komme kein GdB zur Anerkennung.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Verwiesen wird außerdem auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der Schwerbehindertenakte des Beklagten, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz des Ausbleibens der Klägerin im Termin entscheiden, da die Klägerin in der Terminsmitteilung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war, § 110 Abs. 1 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Berufung ist unbegründet.

Nach §§ 2 Abs.1, 69 Abs.1 Sätze 3,4 des ab 1. Juli 2001 geltenden Sozialgesetzbuches, Neuntes Buch (SGB IX), sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Gesundheitsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Anhaltspunkte) in der Fassung des Jahres 2004 ( deren Vorgänger die Anhaltspunkte 1996 waren) zu bewerten, die als antizipierte Sachverständigengutachten mit normähnlicher Qualität gelten.

Der Senat ist nach dem Gesamtergebnis der Ermittlungen zu dem Ergebnis gelangt, dass das Ausmaß der bei der Klägerin bestehenden Behinderungen für den Zeitraum von August 2000 bis Juni 2002 keinen höheren GdB als 40 bedingt.

Zu Recht hat das Sozialgericht ausgeführt, dass die Funktionseinschränkungen durch die Kollagenosen für die Zeit bis Januar 2003 bereits durch einen GdB von 30 im Rahmen des Cervikal- und Lumbalsyndroms berücksichtigt seien. Nach Nr. 26.18, S. 112 der Anhaltspunkte 2004 sind u.a. bei Kollagenosen unter Beachtung der Krankheitsentwicklung neben der strukturellen und funktionellen Einbuße die Aktivität mit ihren Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und die Beteiligung weiterer Organe zu berücksichtigen. Eine deutliche Verminderung der Händekraft hat Dr. J erst für den 30. Januar 2003 festgestellt, während sie im Befundbericht vom 15. Oktober 2001 nur eine leicht verminderte Händekraft links angegeben hat. Die von Dr. J angegebene permanente Schwellung der Hände und Füße im Jahr 2000 ist anhand des zugleich mitgeteilten Befundes, dass zur Zeit keine Händeschwellung bestehe, nicht objektiviert. Organbeteiligungen sind erstmals im Februar 2003 durch die Proteinurie objektiviert worden. Eine Einschränkung der Nierenfunktion wurde sogar noch im Mai 2003 in dem Bericht des Dialysezentrums verneint.

Zu Recht hat der Beklagte die Hirnleistungsstörung erst ab Juli 2002 mit einem GdB von 30 bewertet, weil erstmals zu diesem Zeitpunkt eine Leistungseinschränkung durch die Hirnleistungsdiagnostik vom 5. Juli 2002 objektiviert wurde.

Die weiteren, von der Klägerin geltend gemachten Funktionseinschränkungen, die der Beklagte ab Dezember 2002 beziehungsweise ab Januar 2003 anerkannt hat, können nicht für die Zeit ab August 2000 berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für das Nierenleiden, auf dessen Vorliegen die erstmals im Februar 2003 festgestellte Proteinurie hinweist. Dafür, dass das Leiden, wie von der Klägerin geltend gemacht, schon im August 2000 bestanden haben sollte, ergibt sich unter Berücksichtigung der Vielzahl von erhobenen Befunden kein Anhaltspunkt. Vielmehr hat Dr. J in ihrem Befundbericht vom 3. Februar 2003 gerade darauf hingewiesen, dass die Proteinurie neu festgestellt sei. Abgesehen davon ist den Befundberichten kein gleich bleibend schlechter Gesundheitszustand ab August 2000 zu entnehmen. Sowohl Dr. J als auch die Allgemeinmedizinerin A schildern übereinstimmend eine Verschlechterung im Laufe der Behandlung. So gibt Dr. J eine leichte Verschlechterung der Gelenkbeschwerden und einen progredienten Verlauf an. Die Allgemeinmedizinerin Ageht sogar von einer deutlichen Verschlechterungstendenz seit 2001 aus.

Auch ist auf der Grundlage des augenärztlichen Gutachtens kein GdB für eine Sehbehinderung zu berücksichtigen, da die von der Klägerin geltend gemachten Sehstörungen nicht objektiviert werden konnten und als Teil der Somatisierungsstörung Berücksichtigung finden.

Nach alledem entspricht die Bildung des für die einzelnen Zeitabschnitte unterschiedlichen Gesamt-GdB, wie er durch die Bescheide vom 12. Dezember 2001 und vom 15. Dezember 2004 vorgenommen worden ist, der Vorschrift des § 69 Abs.3 SGB IX. Danach ist dann, wenn mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vorliegen, der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen.

Die Vorschrift stellt klar, dass der Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen oder Behinderungen unabhängig davon, ob sie in einem oder mehreren medizinischen Fachbereichen vorliegen, nicht durch bloße Zusammenrechnung der für jede Funktionsbeeinträchtigung oder Behinderung nach den Tabellen in den Anhaltspunkten festzustellenden oder festgestellten Einzel-GdB zu bilden ist, sondern durch eine Gesamtbeurteilung. In der Regel ist von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, um dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft größer wird. Dabei führen grundsätzlich leichte Funktionsbeeinträchtigungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtauswirkung, die bei dem Gesamt-GdB berücksichtigt werden könnte. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Anhaltspunkte 2004, Nr. 19 S. 24 bis 26 und BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 9).

Ausgehend von einem GdB von 30 für die Somatisierungsstörung und 20 für die Hirnleistungsminderung resultiert hieraus noch kein GdB von 40 für das nervenärztliche Fachgebiet, weil sich diese Behinderungen überschneiden. Erst durch die Erhöhung des Einzel-GdB auf 30 ab Juli 2002 für die dann verstärkte Hirnleistungsminderung ist ein GdB von 40 für die Behinderungen zu a. und b. anzunehmen. Für die Zeit von August 2000 bis Juni 2002 trägt eine Erhöhung des Gesamt-GdB auf 40 der Tatsache Rechnung, dass einerseits die Auswirkungen der orthopädischen Leiden davon unabhängig sind, also grundsätzlich nicht erhöhend wirken, andererseits die Leistungsbeeinträchtigungen der orthopädischen Leiden durch die Somatisierungsstörung verstärkt erlebt werden, so dass eine Erhöhung des Gesamt-GdBs diese Wechselwirkung der Behinderungskomplexe berücksichtigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Berufung zu einem geringen Umfang Erfolg hatte. Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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