L 8 SB 4163/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 1423/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 4163/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. September 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) streitig.

Der am 1948 geborene Kläger stellte erstmals im Dezember 1999 einen Antrag auf Feststellung von Behinderungen. Daraufhin stellte das Versorgungsamt Heilbronn mit Bescheid vom 04.02.2000 degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, ein Schulter-Arm-Syndrom, eine Großzehengrundgelenksarthrose beidseits und einen Bluthochdruck als Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 20 seit 27.12.1999 fest. Die hiergegen eingelegten Rechtsbehelfe des Klägers blieben erfolglos.

Den streitgegenständlichen Neufeststellungsantrag stellte der Kläger am 25.02.2002. Er machte als weitere Erkrankungen mit daraus resultierenden Funktionseinschränkungen Gelenkschmerzen, Durchblutungsstörungen, Verdauungsstörungen, eine Neuropathie, einen Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) und eine Hauterkrankung geltend. Das Versorgungsamt Heilbronn befragte die behandelnden Ärzte des Klägers, ließ deren Angaben und Unterlagen durch den Ärztlichen Dienst auswerten und setzte mit Bescheid vom 15.08.2002 den GdB ab 25.02.2002 auf 30 fest. In der Begründung dieses Bescheides wurde ausgeführt, beim Kläger lägen folgende Funktionsbeeinträchtigungen vor: degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Schulter-Arm-Syndrom (Teil-GdB 20), Großzehendgrundgelenksarthrose (Teil-GdB 10), Bluthochdruck, funktionelle Kreislaufstörungen, Schwindel (Teil-GdB 10), Hauterkrankung (Teil-GdB 10) und Diabetes mellitus (mit Diät einstellbar), Fettstoffwechselstörung (Teil-GdB 10). Den am 27.08.2002 eingelegten Widerspruch des Klägers wies das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg mit Widerspruchsbescheid vom 23.05.2003 als unbegründet zurück.

Am 06.06.2003 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben mit dem Ziel, einen GdB von mindestens 50 anerkannt zu bekommen. Er leide bereits seit frühester Jugend an gewichtigen Erkrankungen. Als Beleg für sein Vorbringen hat er zahlreiche Arztberichte und Atteste vorgelegt, die vom SG zu den Akten genommen worden sind. Das SG hat von Amts wegen das nervenärztliche Zusatzgutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. vom 07.04.2004 und das orthopädische Gutachten des Orthopäden Dr. R. vom 28.04.2004 eingeholt. Dr. R. hat die Gesamt-Bewertung vorgenommen und einen GdB von 30 für sämtliche Behinderungen vorgeschlagen. Anschließend hat das SG auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein weiteres Gutachten beim Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B.-F. in Auftrag gegeben. Dieser hat in seinem Gutachten vom 28.01.2005 ausgeführt, die zahlreichen Einzelerkrankungen bedingten jeweils für sich betrachtet keine höhergradige Behinderung. In der Summe der Funktionseinschränkungen ergebe sich mittlerweile doch ein Behinderungsausmaß, das den Status ein Schwerbehinderten rechtfertige. Er halte deshalb einen Gesamt-GdB von 50 für angemessen. Der Beklagte hat daraufhin das Vergleichsangebot vom 13.05.2005 unterbreitet und einen Gesamt-GdB von 40 vorgeschlagen. In der mündlichen Verhandlung am 18.11.2005 hat der Beklagte anerkannt, dass der GdB 40 ab 25.02.2002 beträgt. Dieses Teilanerkenntnis hat der Kläger angenommen. Mit Urteil vom 14.09.2005, dem Kläger zugestellt am 18.11.2005, hat das SG die Klage abgewiesen.

Am 11.10.2005 hat der Kläger Berufung eingelegt. Er ist weiterhin der Ansicht, dass sein GdB nicht 40, sondern mindestens 50 beträgt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. September 2005 sowie den Bescheid des Beklagten vom 15. August 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Mai 2003 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 ab 25. Februar 2002 festzusetzen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Beklagte hält die Entscheidung des SG für richtig.

Der Senat hat die schriftliche sachverständige Zeugenaussage des behandelnden Internisten Dr. P. vom 30.03.3006 eingeholt und anschließend den Kläger darauf hingewiesen, dass und weshalb eine Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG beabsichtigt sei. Dem Kläger ist Gelegenheit zur Stellungnahme bis 31.07.2006 eingeräumt worden. Mit Fax seines Prozessbevollmächtigten vom 26.07.2006 hat der Kläger geltend gemacht, im letzten halben Jahr sei eine deutliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes eingetreten. Er möchte sich deshalb noch einmal bei seinem behandelnden Arzt vorstellen. Es sei ihm aber nicht möglich, einen Termin vor dem 31.07.2006 zu erhalten. Er beantrage daher, die ihm gesetzte Frist bis zum 29.09.2006 zu verlängern.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet.

Der Senat kann über die Berufung ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss entscheiden, da die Berufsrichter des Senats die Berufung einstimmig für unbegründet erachten und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halten. Der Vortrag des Klägers im Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 26.07.2006 erfordert es nicht, von einer Entscheidung durch Beschluss abzusehen oder die dem Kläger gewährte Frist, wie beantragt, bis 29.09.2006 zu verlängern. Der Kläger hat lediglich pauschal behauptet, dass sich sein Gesundheitszustand seit einem halben Jahr deutlich verschlechtert habe. Er hat nicht dargelegt, wie sich diese Verschlechterung auswirkt und welche körperlichen oder geistigen Funktionen von der Verschlechterung betroffen sind. Für diesen Vortrag bedarf es keiner medizinischen Sachkunde. Hierzu kann sich der Kläger auch äußern, ohne sich zuvor bei seinem behandelnden Arzt vorgestellt zu haben.

Der Beklagte wird seit 01.01.2005 wirksam durch das Regierungspräsidium Stuttgart (Abteilung 10) vertreten. Nach § 71 Abs. 5 SGG wird in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts das Land durch das Landesversorgungsamt oder durch die Stelle, der dessen Aufgaben übertragen worden sind, vertreten. In Baden-Württemberg sind die Aufgaben des Landesversorgungsamts durch Art 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Reform der Verwaltungsstruktur, zur Justizreform und zur Erweiterung des kommunalen Handlungsspielraums (Verwaltungsstruktur-Reformgesetz -VRG) vom 01.07.2004 (GBl S. 469) mit Wirkung ab 01.01.2005 (Art 187 VRG) auf das Regierungspräsidium Stuttgart übergegangen.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine wesentliche Änderung im Hinblick auf den GdB gegenüber einer vorausgegangenen Feststellung liegt nur dann vor, wenn im Vergleich zu den den GdB bestimmenden Funktionsausfällen, wie sie der letzten Feststellung des GdB tatsächlich zugrunde gelegen haben, insgesamt eine Änderung eingetreten ist, die einen um wenigstens 10 geänderten Gesamt GdB bedingt. Dabei ist die Bewertung nicht völlig neu, wie bei der Erstentscheidung, vorzunehmen. Vielmehr ist zur Feststellung der Änderung ein Vergleich mit den für die letzte bindend gewordene Feststellung der Behinderung oder eines Nachteilsausgleichs maßgebenden Befunden und behinderungsbedingten Funktionseinbußen anzustellen. Eine ursprünglich falsche Entscheidung kann dabei grundsätzlich nicht korrigiert werden, da die Bestandskraft zu beachten ist. Sie ist lediglich in dem Maße durchbrochen, wie eine nachträgliche Veränderung eingetreten ist. Dabei kann sich ergeben, dass das Zusammenwirken der Funktionsausfälle im Ergebnis trotz einer gewissen Verschlimmerung unverändert geblieben ist. Rechtsverbindlich anerkannt bleibt nur die festgestellte Behinderung mit ihren tatsächlichen Auswirkungen, wie sie im letzten Bescheid in den Gesamt GdB eingeflossen, aber nicht als einzelne (Teil )GdB gesondert festgesetzt worden sind. Auch der Gesamt GdB ist nur insofern verbindlich, als er im Sinne des § 48 Abs. 3 SGB X bestandsgeschützt ist, nicht aber in der Weise, dass beim Hinzutreten neuer Behinderungen der darauf entfallende Teil GdB dem bisherigen Gesamt GdB nach den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" 2004 (AHP) hinzuzurechnen ist (vgl. BSG SozR 1300 § 48 Nr. 29). Die Verwaltung ist nach § 48 SGB X berechtigt, eine Änderung zugunsten und eine Änderung zuungunsten des Behinderten in einem Bescheid festzustellen und im Ergebnis eine Änderung zu versagen, wenn sich beide Änderungen gegenseitig aufheben (BSG SozR 3-3870 § 3 Nr 5).

Auf Antrag des Behinderten stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den daraus resultierenden GdB fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung, nach Zehnergraden abgestuft, festgestellt (§ 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX). Die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG festgelegten Maßstäbe gelten entsprechend (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX), so dass auch hier AHP heranzuziehen sind.

Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt ungeeignet (vgl. Nr. 19 Abs. 1 der AHP). In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (Nr. 19 Abs. 3 der AHP). Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Nr. 19 Abs. 4 der AHP). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der AHP in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3 3879 § 4 Nr. 5).

Das SG hat zutreffend entschieden, dass der GdB des Klägers lediglich 40 beträgt. Ein höherer GdB liegt auch zur Überzeugung des Senats nicht vor. Zwar bestehen beim Kläger eine Reihe gesundheitlicher Einschränkungen, die zu zahlreichen Diagnosen in Arztbriefen geführt haben. Diese Gesundheitsstörungen führen auch zu gewissen Einschränkungen körperlicher Funktionen, aber nicht in einem Ausmaß, das die Annahme der Schwerbehinderteneigenschaft rechtfertigt. Die vom SG gehörten Sachverständigen Dr. R. und Dr. B.-F. stimmen darin überein, dass die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule einen Teil-GdB von 20 bedingt. Übereinstimmung zwischen Dr. S. und Dr. B.-F. besteht auch darin, dass die vertebrobasiläre Durchblutungsstörungen mit Schwindelzuständen ebenfalls einen GdB von 20 rechtfertigen. Ein Unterschied besteht lediglich insofern, als Dr. B.-F. für den Morbus Raynaud einen GdB von 20 annimmt, während Dr. R. nur von einem GdB von 10 ausgeht. Dies rechtfertigt es, den GdB von 30 auf 40 anzuheben. Eine höhere Einstufung lässt sich damit nicht begründen. Denn die übrigen Beeinträchtigung rechtfertigen nach wiederum übereinstimmender Auffassung aller Sachverständigen nur Teilgrade von 10 und führen deshalb zu keiner Anhebung des Gesamt-GdB. So hat der behandelnde Arzt Dr. P. auf die Frage des Senats, welche Körperfunktionen beim Kläger beeinträchtigt seien ausgeführt, dass häufiges Bücken, der Gebrauch der Arme und Hände in unphysiologischer Stellung sowie längeres Stehen mit Kopf- und Blickwendung nach oben sowie nach unten extrem eingeschränkt seien und zur Auslösung von Schwindelattacken führten. Hierzu ist anzumerken, dass Beschwerden bei besonderen Belastungen (häufiges Bücken, Arbeiten in Nässe und Kälte) sowie unphysiologischer Gebrauch der Arme und Hände auch bei gesunden Menschen nicht ungewöhnlich sind, daher nicht nennenswert von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und deshalb die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wenn überhaupt nur gering beeinträchtigen. Ein GdB von 50 lässt sich jedenfalls mit Einschränkungen dieser Art nicht begründen.

Der Sachverhalt ist nach Ansicht des Senats vollständig aufgeklärt. Weitere Ermittlungen werden nicht für erforderlich gehalten. Der Senat weicht nicht von den Feststellungen der gerichtlichen Sachverständigen ab. Er hält lediglich die Auffassung von Dr. B.-F., dass sich in der Summe der Funktionseinschränkungen mittlerweile doch ein Behinderungsausmaß ergebe, das den Status ein Schwerbehinderten rechtfertige, nicht für überzeugend. Die Einholung eines weiteren Gutachtens ist deshalb aber nicht angezeigt, weil Dr. B.-F. mit seiner Einschätzung die AHP nicht genügend beachtet. Diese sehen - wie dargelegt - vor, dass ein Einzel-GdB von 10 in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führt und selbst bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 es vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Nr. 19 Abs. 4 der AHP). Vor dem Hintergrund, dass beim Kläger keine einzige stärkere Behinderung vorliegt, die einen GdB von wenigstens 30 rechtfertigt, hält der Senat im vorliegenden Fall die Anhebung eines Einzel-GdB von 20 auf 40 für völlig ausreichend, um der Gesamtbehinderung des Klägers gerecht zu werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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