L 10 U 4178/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 7 U 2203/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 4178/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 30. August 2005 und der Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 2003 aufgehoben.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Weitergewährung einer Verletztenrente wegen den Folgen eines Arbeitsunfalls.

Der am 1957 geborene Kläger rutschte am 30. August 2000 bei seiner Tätigkeit als Arbeiter der Firma A. AG von einem 50 cm hohen Transportwagen hinab und zog sich eine dislozierte laterale Tibiakopffraktur links und eine fissurale Radiusfraktur distal links zu. Die Beklagte holte das erste Rentengutachten bei Dr. T. , Chefarzt der Abteilung für Unfallchirurgie des Klinikums am P. , ein (Minderung der Erwerbsfähigkeit [MdE] 20 v. H. bis zum Ende des ersten Unfalljahrs, danach voraussichtlich noch 0 v. H.), dem sie sich jedoch auf Grund der Stellungnahme ihres Beratungsarztes Prof. Dr. R. nicht anschloss, sondern mit Bescheid vom 28. Mai 2001 und Widerspruchsbescheid vom 19. September 2001 die Gewährung einer Verletztenrente ablehnte. Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Heilbronn (S 7 U 2471/01) wurde das Gutachten von Prof. Dr. I. , Chefarzt Orthopädie I der Orthopädischen Klinik M. , eingeholt. Darin wurden als Unfallfolgen eine beginnende bis mäßige laterale Gonarthrose links mit muskulär kompensierbarer medialer Kollateralbandinsuffizienz, eine Bewegungseinschränkung für Streckung und Beugung geringen bis mittleren Grades sowie der dringende Verdacht auf eine Knorpelschädigung im lateralen Kniegelenkskompartiment aufgrund der klinischen und radiologischen Untersuchungen angenommen und eine MdE um 20 v. H. vorgeschlagen; Folgen der Radiusfraktur bestanden nicht mehr. Mit Urteil vom 29. Oktober 2002 verurteilte das Sozialgericht unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide die Beklagte, dem Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v. H. zu gewähren. In Ausführung dieses Urteils gewährte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 19. Dezember 2002 eine Verletztenrente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE um 20 v. H. ab 22. Januar 2001.

Dr. T. erstattete im Auftrag der Beklagten das zweite Rentengutachten (Untersuchungstag 17. März 2003). Als Unfallfolgen beschrieb er ein linksseitiges Hinken, eine endgradige Bewegungseinschränkung im linken Kniegelenk mit Streckhemmung um etwa 5°, eine deutliche Minderung der Muskulatur im Bereich des linken Oberschenkels im Sinne des Schonschwundes sowie eine mit leichter Dislokation im Sinne einer vermehrten Dorsalabsenkung abgeheilte Fraktur des lateralen Tibiakopfes. Er schätzte die MdE auf 20 v. H., korrigierte dies jedoch nach einem Einwand der Beklagten auf 10 v. H.

Nach Anhörung des Klägers entzog die Beklagte mit Bescheid vom 28. Mai 2003 und Widerspruchsbescheid vom 6. August 2003 die Rente als vorläufige Entschädigung mit Ablauf des Monats Mai 2003 und lehnte die Gewährung einer Rente auf unbestimmte Zeit ab.

Der Kläger hat hiergegen am 25. August 2003 Klage bei dem Sozialgericht Heilbronn erhoben. Dieses hat ein Gutachten bei Prof. Dr. B. , Ärztlicher Direktor der V. Klinik Bad R. , eingeholt (Untersuchungstag 10. März 2004). Als Unfallfolgen hat er eine lateral betonte Gonarthrose links mit muskulär kompensierbarer medialer Seitenbandlockerung und Fehlstellung im lateralen Tibiaplateau, eine endgradige Bewegungseinschränkung sowohl in der Streckung als auch in der Beugung und einen Verdacht auf eine Knorpelschädigung zumindest im lateralen Kniegelenksbereich festgestellt, die eine MdE um 20 v. H. bedingten. Eine genauere Beurteilung der Situation am Knorpel des linken Kniegelenkes wäre anhand einer Kernspintomografie oder nach Durchführung einer Kniegelenkspiegelung möglich. Die Radiusfraktur war knöchern konsolidiert und ohne Funktionseinschränkungen ausgeheilt.

Mit Urteil vom 30. August 2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Behinderung der Beugung bzw. Streckung des Kniegelenkes sei nur endgradig, die Innenbandinstabilität des linken Kniegelenkes muskulär kompensierbar, die Fußsohlen seien seitengleich beschwielt. Von dem leichten Hinken links und der beginnenden Gonarthrose - ihr Vorhandensein unterstellt - gingen keine weitergehenden Funktionseinschränkungen aus. Ein Schmerzsyndrom oder Schmerzen, die über die üblicherweise vorhandenen hinausgingen, fehlten. Insgesamt seien die Unfallfolgen nicht mit einer MdE um 20 v. H. zu bewerten.

Der Kläger hat gegen das ihm am 6. September 2005 zugestellte Urteil am 5. Oktober 2005 Berufung eingelegt, da eine MdE um mindestens 20 v. H. vorliege.

Prof. Dr. B. hat seine Einschätzung der MdE in einer vom Senat eingeholten ergänzenden Stellungnahme bestätigt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 30. August 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 28. Mai 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 6. August 2003 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die ergänzenden Ausführungen von Prof. Dr. B. für nicht überzeugend.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats sowie der beigezogenen Akten des Verfahrens S 7 U 2471/01 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Weitergewährung seiner Verletztenrente.

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung der ihm ursprünglich bewilligten vorläufigen Rente und begehrt die Gewährung einer Dauerrente. Hierfür ist die Anfechtungsklage die zutreffende Klageart, denn mit Aufhebung des angefochtenen Entziehungsbescheides würde die vorläufig gewährte Rente nach Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall schon kraft Gesetzes zur Dauerrente (vgl. § 62 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VII -; Ricke in Kasseler Kommentar, § 62 SGB VII, Rdnr. 10).

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern.

Versicherungsfälle sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit).

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Unstreitig ist als Unfallfolge eine endgradige Bewegungseinschränkung bei der Streckung/Beugung des linken Knies (0-5-135; Einschränkung um 5°) mit muskulär kompensierbaren Bandverhältnissen verblieben. Hierfür ist noch keine MdE anzunehmen; eine solche um 10 v. H. wird erst bei stärkeren Einschränkungen der Beweglichkeit (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, S. 724: 0-0-120) oder nicht kompensierbarer Seitenbandinstabilität (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 685) angenommen.

Allerdings kommt die beginnende Gonarthrose hinzu. Sie ist nach dem Gutachten von Prof. Dr. B. röntgenologisch gesichert (deutliches Absinken des lateralen Tibiaplateaus). Hieraus und aus den vom Kläger vorgebrachte Beschwerden hat Prof. Dr. B. nachvollziehbar auf fortgeschrittene Knorpelschäden am lateralen Tibiaplateau sowie der korrespondierenden Gelenksfläche des lateralen Femurkondylus geschlossen. Warum er in seinem Gutachten nur eine Verdachtsdiagnose gestellt hat, vermag der Senat angesichts der deutlichen Anzeichen nicht nachvollziehen. Erklärbar ist dies nur dadurch, dass sich Prof. Dr. B. angesichts eines fehlenden Nachweises durch Arthroskopie oder Kernspintomographie nicht vollständig hat festlegen wollen. Dies entspricht dem Gutachten von Prof. Dr. I. , der einen "dringenden Verdacht auf eine Knorpelschädigung" annahm. Eine Kernspintomografie oder eine Kniegelenkspiegelung, von Prof. Dr. B. lediglich im Hinblick auf die Beurteilung des Ausmaßes der Knorpelschädigung angeregt, hält der Senat zur Sicherung der Diagnose aber nicht für notwendig. Dr. T. äußerte sich im zweiten Rentengutachten hierzu nicht.

Entscheidend kommt es nicht auf die genaue Diagnose, sondern die funktionellen Einschränkungen an. Wie vom Kläger gegenüber Prof. Dr. B. geschildert, tritt bei einer Belastung des linken Beins nach 15 Minuten eine Schwellung auf. Es kommt zu erheblichen Schmerzen, die erst nach dem Hochlagern des Beins abklingen. Eine Arthrose wird je nach Funktionsbehinderung mit einem MdE-Satz 10 bis 30 v. H. bewertet (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O.). Die mit der Arthrose verbundene Beschwerdesymptomatik wird durch das leichte Schonhinken und die mit 1 cm zwar geringfügige, aber doch vorhandene Umfangdifferenz der beiden unteren Extremitäten dokumentiert. Auch Dr. T. bezeichnete im zweiten Rentengutachten die Minderung der Muskulatur im Bereich des linken Oberschenkels als "deutlich sichtbar". Der Ansicht der Beklagten, die Arthrose habe bisher zu keinen Funktionseinschränkungen geführt, kann daher nicht gefolgt werden.

Insgesamt ist die MdE daher um 20 v. H. einzuschätzen, um den Unfallfolgen gerecht zu werden.

Auf die Berufung des Klägers ist das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und der Klage stattzugeben.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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