L 6 U 5231/03

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 2533/97
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 5231/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufungen des Klägers und der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. November 2003 abgeändert. Die Beklagte wird unter weiterer Abänderung des Bescheides vom 5. März 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 1997 verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE um 50 v. H. ab 1. März 1994 und um 70 v. H. ab 1. September 1998 zu gewähren.

Im Übrigen werden die Berufungen zurückgewiesen und die Klage abgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte dem Kläger eine höhere Rente zu gewähren hat.

Der 1961 geborene Kläger erlitt am 10. Oktober 1979 einen bei der Beklagten gesetzlich versicherten Arbeitsunfall, als er mit seinem Moped auf dem Weg zur Berufsschule verunglückte. Wegen seiner Hirnverletzungen wurde der Kläger stationär bis zum 29. Oktober 1979 in der Unfallchirurgischen Abteilung des Krankenhauses L. und bis zum 5. Februar 1980 im S. Rehabilitationskrankenhaus K. stationär behandelt. Zum damaligen Zeitpunkt befand sich der Kläger im 3. Lehrjahr seiner Ausbildung zum Mechaniker. Diese Ausbildung sowie die sich daran anschließende Ausbildung zum Radio- und Fernsehtechniker konnte er nicht beenden. Nach erfolgreichem Abschluss einer Qualifizierungsmaßnahme im Berufsförderungswerk S. zum Technischen Zeichner mit einem von der Industrie- und Handelskammer N. am 24. Juli 1985 erteilten Prüfungszeugnis bzgl. der Zusatzqualifikation für Computerunterstütztes Zeichnen (CAD) nahm der Kläger ab 1. September 1985 seine berufliche Tätigkeit in diesem Umschulungsberuf auf.

Mit Bescheid vom 23. Juli 1986 bewilligte die Beklagte eine Dauerrente ab 1. September 1985 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vom Hundert (v. H.) und stellte als Folgen des Arbeitsunfalls diskrete Reflexdifferenzen sowie eine diskrete Restherdstörung links subcortical, eine leichte Hirnleistungsschwäche und beeinträchtigte Merkfähigkeit, eine Umstellungserschwerung sowie eine gestörte optische Differenzierungsfähigkeit nach substanzieller Hirnschädigung fest. Diesem Bescheid lagen das hirnelektrische Zusatzgutachten von Dr. B. vom 17. Dezember 1985, das nervenärztliche Gutachten von Dr. R. vom 16. Januar 1986, das psychologische Zusatzgutachten der Dipl.-Psychologin B. vom 7. April 1986 sowie die abschließende Stellungnahme von Dr. R. vom 20. Mai 1986 zugrunde.

Am 12. August 1996 beantragte der Kläger wegen einer wesentlichen Verschlimmerung der Unfallfolgen die Erhöhung der MdE auf mindestens 80 v. H. Er legte das Attest des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Z. vom September 1996 vor. Dort hieß es, der Kläger habe sich im Februar 1994 erstmals in dessen nervenärztliche Behandlung begeben. Ganz im Vordergrund stünden seine massiven Antriebsdefizite, Umstellungserschwernisse, Unfähigkeit, kompliziertere neue Methodik im Arbeitsbereich zu erlernen, zunehmende Gereiztheit und Rückzug. Seit längerem hätten auch psychosomatische Beschwerden und Kopfschmerzen zugenommen. Versuche, den Kläger umzuschulen bzw. an seinem Arbeitsplatz zu halten, seien fehlgeschlagen. Jetzt stehe ganz im Vordergrund ein hirnorganisches Psychosyndrom, das an ein frontales Hirnsyndrom erinnere.

Die Beklagte holte das elektrophysiologische Zusatzgutachten von Dr. L. vom 20. Dezember 1996, das nervenfachärztliche Gutachten von Dr. R. vom 23. Januar 1997 und das computertomographische Zusatzgutachten von Dr. R. vom 27. Januar 1997 ein. Dr. R. führte in seinem nervenfachärztlichen Gutachten aus, über die bekannten und bereits anerkannten Störungen hinaus habe sich kein hirnorganisches Psychosyndrom feststellen lassen. Der Kläger habe u. a. ohne erkennbare Probleme über einen längeren Zeitraum über seine umfangreiche Vorgeschichte berichten können. Es sei deutlich geworden, dass seit 1991 immer wieder unbewältigte Krisen und Konfliktsituationen bestanden hätten. So sei es im Rahmen allgemein erhöhter Anforderungen in der Firma, bei der er von 1985 bis 1994 ganztätig gearbeitet habe, seit 1991 zu vermehrten Konflikten mit den Vorgesetzten und Krankmeldungen wegen Kopfschmerzen gekommen. Nach Angaben des Klägers sei 1991 seine Ehe aufgrund von Depressionen und Inaktivität geschieden worden. Im Ergebnis führte Dr. R. aus, unfallbedingt lägen organ-neurologisch klinisch unverändert die vorbeschriebenen diskreten Reflexdifferenzen, nach den Schilderungen des Klägers weiterhin die bereits anerkannte Hirnleistungsschwäche, die beeinträchtigte Merkfähigkeit, die Umstellungserschwerung sowie die gestörte Differenzierungsfähigkeit glaubhaft vor. Da sich im EEG keine Herdstörung mehr habe abgrenzen lassen und die Schädel-Computertomographie bis auf eine geringe Vergröberung des Hirnwindungsreliefs links fronto-temporal im Bereich der Inselrinde als möglichem Residualzustand nach Contusio cerebri altersentsprechend unauffällig gewesen sei, habe sich kein Korrelat für das von Dr. Z. zur Diskussion gestellte Frontalhirnsyndrom ergeben. Unfallunabhängig bestünden in der Konstitution des Klägers begründete Neigungen zu depressiven Reaktionen auf verschiedentliche Konfliktsituationen im beruflichen wie auch im privaten Bereich. Die vom Kläger geltend gemachte Verschlimmerung seiner Beschwerden stehe nicht im ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall, würdige man die Häufigkeit vaskulärer Kopfschmerzen und die Tatsache, dass viele Menschen auch ohne entschädigungspflichtigen Unfall in Stresssituationen unter Kopfschmerzen litten. Die Beschwerdezunahme des Klägers sei psychoreaktiv einzustufen, verursacht durch unbewältigte Konflikte. Die Problematik sei somit in der Persönlichkeit des Klägers und in seiner Reaktionsweise auf sein soziales Umfeld sowie der Verarbeitung unfallfremder Faktoren zu sehen. Hierbei spiele sicherlich auch noch eine Rolle, dass der Unfall beim Kläger bewusst oder unbewusst seinen im Vordergrund stehenden Bezugspunkt darstelle. Es entspreche der allgemeinen Erfahrung, dass abgesehen von einem cerebralen Anfallsleiden, welches beim Kläger nicht vorliege, keine Komplikationen nach Hirnverletzungen vom Ausmaß der Verletzung des Klägers aufträten. Gegen eine unfallbedingte Komplikation sprächen auch der Sachverhalt, dass der Kläger fast 9 Jahre lang vollschichtig beruflich tätig gewesen sei, die jetzige neurologische Befunderhebung und das gebesserte EEG. Somit sei beim Kläger eine unfallbedingte Verschlimmerung nicht anzunehmen. Es bestehe kein begründeter Anlass, von der bisherigen Einschätzung der MdE um 20 v. H. abzuweichen. Dieser Einschätzung stimmte der Facharzt für Chirurgie Dr. F. in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 11. Februar 1997 zu. Mit Bescheid vom 5. März 1997 lehnte die Beklagte den Antrag auf Rentenerhöhung ab.

Hiergegen erhob der Kläger am 20. März 1997 Widerspruch. Er führte ein hirnorganisches Psychosyndrom mit Spannungskopfschmerzen sowie erhebliche depressive Reaktionen auf das Unfallereignis zurück. Er habe ausschließlich wegen der Unfallfolgen Probleme im beruflichen Bereich mit der Folge bekommen, dass er seinen Arbeitsplatz verloren habe. Der Verlust dieses Arbeitsplatzes habe dann zu den weiteren Konfliktsituationen in seinem sozialen Umfeld geführt. Dr. F. führte in seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 22. April 1997 aus, die MdE betrage weiterhin 20 v. H. Es sei eher eine Verbesserung als eine Verschlimmerung eingetreten. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 1997 zurück.

Hiergegen richtete sich die am 28. Mai 1997 zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhobene Klage. Das SG holte die sachverständigen Zeugenauskünfte von Dr. Z. vom 19. August 1997 und vom Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. R. vom 25. September 1997 ein. Dr. Z. führte aus, der Kläger wirke insgesamt deutlich isoliert ohne wesentliche soziale Kontakte, sei wegen des hirnorganischen Psychosyndroms von der Ehefrau verlassen worden und sei teilweise überwertig fixiert auf seine existentielle Bedrohung und Verarmung. Seit 1994 stünden nicht objektivierbare neurologische oder elektrophysiologisch fassbare Ausfälle im Vordergrund, sondern ein ausgeprägtes hirnorganisches Psychosyndrom, das sich vor allem auf Konzentration, Antrieb, Durchhaltevermögen und Anpassungsvermögen auswirke. Auch die affektive Mitschwingungsfähigkeit sei stark eingeschränkt. Die Gedankengänge seien teils zwanghaft hypochondrisch, grüblerisch und überwiegend von Existenzängsten geprägt. Bei zunehmendem Druck am Arbeitsplatz und zunehmenden psychosomatischen Beschwerden sei der Kläger unfähig geworden, seinen CAD-Arbeitsplatz einzunehmen. Dr. R. führte aus, der Kläger leide an Kopfschmerzen und einer Gedächtnisschwäche als wiederkehrenden Beschwerden.

Das SG zog die im Rahmen einer Kündigungsschutzklage angefallenen Akten des Arbeitsgerichts Stuttgart (Az.: 14 Ca 2464/94) bei, in welchen u. a das Protokoll über den am 23. September 1994 geschlossenen Vergleich enthalten war. Darin waren sich der Kläger und sein ehemaliger Arbeitgeber darüber einig geworden, dass das Arbeitsverhältnis auf Veranlassung des Arbeitgebers aus betriebsbedingten Gründen unter Beachtung der gesetzlichen Kündigungsfrist zum 31. Dezember 1994 aufgehoben und eine Abfindung in Höhe von 26.600,00 DM zur Zahlung fällig werde.

Das SG zog weiter die in dem auf die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gerichteten Verfahren angefallenen Akten des SG (Az.: S 2 An 4757/96 bzw. S 5 RA 4757/96) und der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (Vers.Nr.: 23 131061 L022) bei, in welchen u. a. der ärztliche Entlassungsbericht der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. von den Kliniken S. vom 27. November 1995, das Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. vom 5. Juli 1996, die sachverständige Zeugenauskunft von Dr. Z. vom 20. August 1997, die nervenfachärztlichen Gutachten von Dr. G.-P. vom 3. April 1998 und Dr. S. vom 6. Oktober 1998 und die nervenärztliche Stellungnahme der Nervenärztin Dr. S. vom 28. Oktober 1998 enthalten waren. Dr. G.-P. diagnostizierte eine diskrete Linkssymptomatik sowie Hirnleistungsstörungen nach schwerem gedeckten Schädelhirntrauma, Spannungskopfschmerzen und eine sekundäre Anpassungsstörung nach Schädelhirntrauma. Möglicherweise infolge der schwierigen sozialen Umstände (Scheidung, Arbeitsplatzverlust) sei eine Fixierung auf die leichten Hirnleistungsstörungen und ein Rentenbegehren entstanden. Dr. S. diagnostizierte ein hirnorganisches Psychosyndrom mit Beeinträchtigung der kognitiven Leistungen, Affektivität und Antriebssphäre. Ferner habe sich als hinzugetretene psychoreaktive Störung eine chronifizierte somatoforme Schmerzstörung entwickelt. Es handle sich um Störungen von erheblichem Krankheitswert. Die geistigen und körperlichen Funktionen seien durch diese Gesundheitsstörungen erheblich beeinträchtigt. Dieser Zustand bestehe seit dem beruflichen Scheitern und Verlust des Arbeitsplatzes.

Sodann holte das SG das testpsychologische Zusatzgutachten von Dr. W. vom 14. Mai 1999, das neuroradiologische Zusatzgutachten von Dr. B. vom 20. Mai 1999 und das nervenärztliche Gutachten von Dr. H. vom Oktober 1999 ein. Dr. H. führte aus, beim Kläger liege ein leicht- bis mäßiggradiges organisches Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma vor, wobei es sich um eine psychische Behinderung mit Krankheitswert handle. Die zu erwähnende sensitive und querulatorische Fehlentwicklung besitze noch keinen Krankheitswert an sich. Unter Anlegung eines strengen Maßstabes und bei kritischer Würdigung lasse sich ausschließen, dass diese Behinderung vorgetäuscht werde. Eine Aggravation der Symptome erscheine jedoch wahrscheinlich. So habe der Kläger während der psychologischen Testung ein deutliches demonstratives Verhalten gezeigt und in der Untersuchungssituation hauptsächlich Versorgungswünsche als Motiv für den Rentenwunsch angegeben, allerdings auch eindeutige Leistungsminderungen in den betreffenden Testabschnitten gezeigt, jedoch nicht in den für den Kläger nicht sofort ersichtlichen allgemeinen Abschnitten der psychologischen Testung. Hinsichtlich des organischen Psychosyndroms könne jedoch davon ausgegangen werden, dass die Symptome nicht nur gelegentlich zu beobachten seien und nicht aus eigener Willensanstrengung bzw. mit zumutbarer ärztlicher Behandlung sogleich oder bald überwunden werden könnten. Es sei ebenfalls nicht davon auszugehen, dass sie bei der Gewährung einer Rente ohne Weiteres abklängen oder verschwänden. Es erscheine wahrscheinlich, dass der festgestellte Zustand zumindest seit 1983 bestehe. Neu hinzugekommen sei zwar eine sensitive und querulatorische Entwicklung, die jedoch nicht an sich die Erwerbsfähigkeit mindere. Hinsichtlich der aufgrund des organischen Psychosyndroms bedingten Leistungsminderungen könne derzeit nicht von einer wesentlichen Verschlechterung im Vergleich zu dem 1986 vorgelegenen Befund ausgegangen werden. Eine wesentliche Änderung der Unfallfolgen könne somit nicht festgestellt werden.

Das SG holte ein weiteres psychiatrisches Fachgutachten von Dr. S. vom 17. Juni 2003 ein. Dr. S. beschrieb ein leicht bis mäßiggradiges hirnorganisches Psychosyndrom mit umschriebenen stärkeren neuropsychologischen Minderleistungen, dem eindeutig Krankheits- und Behinderungswert zukomme. Zudem habe sich eine neurotisch imponierende Persönlichkeitsstörung mit deutlicher affektiver Nivellierung und depressiven, teils hypochondrisch, teils querulatorisch wirkenden Zügen entwickelt, die mit einer Neigung zu Spannungskopfschmerzen und nicht weiter klärbaren somatoformen Schmerzzuständen verbunden sei. Auch diese Störung habe deutlichen Krankheitswert. Simulation und Aggravation lägen nicht vor. Der Sachverständige führte auch aus, es seien neue Unfallfolgen hinzugetreten. Im Zusammenhang mit der am Arbeitsplatz eingetretenen, hirnleistungsbedingten Überforderung, die schließlich im Arbeitsplatzverlust resultiert habe, der damit verbundenen Erschöpfung und länger dauernden depressiven Verstimmung sei es zu einer Persönlichkeitsveränderung gekommen, die als solche wiederum mit erheblicher Reduzierung der Leistungsfähigkeit des Klägers verbunden sei. Da sich eine entsprechende prämorbide neurotische Persönlichkeitskonfiguration nicht habe finden lassen, auch der Leistungswille und Mangel an Klagsamkeit des Klägers in den verschiedenen Schulungsmaßnahmen keine Hinweise auf eine neurotische Verweigerungshaltung geboten habe, sei diese Störung mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit als unfallbedingt und nicht als persönlichkeitsinhärent bei Trauma als Gelegenheitsursache anzusehen. Eine MdE um 75 v. H. sei daher anzunehmen. Die Änderung im Sinne einer zunehmenden Erschöpfung bestehe vermutlich in allmählich zunehmendem Maße bereits seit Anfang der 90-er Jahre, scheine glaubhaft ab 1994 in Gestalt einer damals vorrangig als depressiv imponierenden Verstimmung deutlich gewesen zu sein und sei 1998 in vollem Umfang der Persönlichkeitsstörung erhebbar. Es fänden sich deutliche Hinweise auf die jetzt festzustellende Beeinträchtigung und ihr Ausmaß bereits in den Darstellungen von Dr. S. und Dr. H., d. h. 1998 und 1999. Es sei also anzunehmen, dass die jetzige Beeinträchtigung zumindest seit 1998 bestehe, wenn sie für die Zeit seit 1995 bis dahin lediglich vermutet werden könne, da eine genauere gutachterliche Auseinandersetzung mit der Frage der Relevanz der Persönlichkeitsproblematik vor 1998 nicht stattgefunden habe. Aus dem Bericht der S. Klinik 1995 würden zwar die später relevanten Befunde schon sichtbar, sie seien aber damals noch nicht so verhärtet gewesen, als dass sie nicht im Rahmen einer längeren Behandlung in der therapeutischen Situation für den Kläger willentlich und mit therapeutischer Hilfe noch zum Teil beherrschbar und hinterfragbar gewesen wären. Am ehesten scheine vertretbar, in der Zeit zwischen 1994 und 1998 für die MdE einen gemittelten Wert von 50 v. H. und ab 1998 eine MdE um 75 v. H. anzunehmen.

Hierzu führte die Beklagte aus, Dr. S. habe ausgeführt, es könne nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Unfall vom Kläger nur als Anlass genommen werde, um innere Konflikte, die auch aus unfallfremden Ursachen resultieren könnten, zu kompensieren und sich finanziell abzusichern. Darüber hinaus komme Dr. H. zu dem Schluss, dass die neurotische Fehlverarbeitung zum Begutachtungszeitpunkt beim Kläger noch keinen Krankheitswert gehabt habe. Es fehle daher am rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Neurose. Solle dieser jedoch angenommen werden, könne die Höhe der hieraus resultierenden MdE nicht nachvollzogen werden, zumal die Untersuchung durch Dr. H. im Jahr 1999 und damit 2 Jahre vor der Begutachtung durch Dr. S. im Jahr 2001 erfolgt sei und dieser zum damaligen Zeitpunkt noch keine höhere MdE als 20 v. H., insbesondere auch nicht für zurückliegende Zeiträume, als gegeben angesehen habe.

Mit Urteil vom 18. November 2003 verurteilte das SG die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 5. März 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 1997, dem Kläger Verletztenrente entsprechend einer MdE in Höhe von 50 v. H. ab 1. Januar 1992 und in Höhe von 70 v. H. ab 1. Januar 1999 zu gewähren und wies die Klage im Übrigen ab. Das Urteil wurde dem Kläger am 10. Dezember 2003 und der Beklagten am 12. Dezember 2003 zugestellt.

Die Beklagte hat am 22. Dezember 2003 gegen das Urteil des SG Berufung eingelegt. Eine wesentliche Verschlimmerung der anerkannten Unfallfolgen habe im Rahmen der umfangreichen Befunderhebung nicht festgestellt werden können. Im Wesentlichen begründe Dr. S. die Entwicklung des Klägers mit dem Arbeitsplatzverlust. Dieser sei darauf zurückzuführen, dass der Kläger den Anforderungen aufgrund der Unfallfolgen nicht mehr gewachsen gewesen sei. Dass hier Abmahnungen, deren Grund unbekannt sei, und ein Arbeitsgerichtsprozess zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geführt hätten, lasse Dr. S. außer Betracht. Weiter habe es außerdem nach dem Unfallgeschehen Belastungen im Lebenslauf des Klägers, wie Scheidung, Verlust der Mutter und Tod der Freundin, gegeben. All diese Aspekte seien nicht gewürdigt geworden.

Der Kläger hat am 18. Dezember 2003 Berufung gegen das Urteil des SG eingelegt. Er hat den die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. August 1998 bewilligenden Bescheid vom 20. Januar 2005 vorgelegt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. November 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß gefasst),

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, das Urteil des SG vom 18. November 2003 abzuändern, den Bescheid vom 5. März 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 1997 weiter abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine höhere Verletztenrente zu gewähren.

Der Senat hat das nervenärztliche Fachgutachten von Prof. Dr. Dr. W. vom 11. Januar 2005 eingeholt. Der Sachverständige hat auf nervenärztlichem Fachgebiet eine inzwischen erheblich chronifizierte depressiv-hypochondrisch-querulatorische Entwicklung auf dem Boden einer multifokalen Hirnkontusion mit organischer Wesensänderung und leichter Hirnleistungsschwäche beschrieben. Er habe keine vernünftigen Zweifel, dass diese Gesundheitsstörungen Folgen des Arbeitsunfalls seien. Weder könne er irgendwelche prämorbiden Konflikte erkennen, die für diese Entwicklung vordergründig wären, noch spreche der Sachverhalt, dass der Kläger fast 9 Jahre lang vollschichtig beruflich tätig gewesen sei, gegen diese Annahme. Aus der Biographie lasse sich unschwer nachvollziehen, dass der Kläger damals zwar beruflich leistungsfähig gewesen sei, dies jedoch unfallbedingt stets am Rande des für ihn Machbaren, sodass auftretende Probleme und Konflikte dann von ihm - gleichermaßen unfallbedingt - nicht adäquat hätten verarbeitet werden können. Eine Verschlimmerung sei dergestalt zu erkennen, dass sich auf die bestehende Wesensänderung Hirnleistungsschwäche, eine zusätzliche psychische Störung aufgepfropft habe, welche jedoch durch die unfallbedingte Gesundheitsstörung des Klägers getriggert worden sei. Mit Wahrscheinlichkeit betrage die MdE aktuell 70 v. H. Inwieweit diese in dieser Ausprägung bereits 1996 bestanden habe, lasse sich nicht schlüssig beurteilen. Aufgrund der Beschreibung in dem damaligen Gutachten könne man jedoch zumindest den Eindruck gewinnen, dass die Chronifizierung zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit fortgeschritten gewesen sei, sodass die damalige MdE noch mit 50 bis 60 v. H. zu beziffern gewesen sei und sich erst in den letzten Jahren eine weitere stufenweise Verschlimmerung ergeben habe.

Der Senat hat die weiteren im Rahmen des auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung gerichteten Verfahrens angefallenen medizinischen Unterlagen sowie die Akten des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (Az. L 13 RA 1194/00), insbesondere den Arztbrief von Prof. Dr. T./Dr. Dr. N./Dr. K. von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des B.-Hospitals S. vom 10. Juni 2002, den Arztbrief von Dr. C./Dr. R. vom Klinikum K.-L. gGmbH vom 3. April 2003, die sachverständigen Zeugenauskünfte des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. vom 13. Mai 2003, 28. August 2003 und 14. Mai 2004 sowie die nervenärztliche Stellungnahme von Dr. S. vom 11. Juni 2004 beigezogen.

Der Senat hat auch einen Auszug aus der Leistungskartei der IKK Baden-Württemberg für den Zeitraum vom 6. November 1978 bis zum 31. August 1985 eingeholt. Telefonisch hat die IKK Baden-Württemberg mitgeteilt, weitere Leistungskarten könnten nicht übermittelt werden.

Der Senat hat des weiteren die Schwerbehindertenakten des Versorgungsamts Stuttgart (Az.: 264915) und die im Rahmen auf die Feststellung des GdB angefallenen Akten des SG (Az.: S 2 SB 1407/03 und S 21 SB 2541/05), insbesondere das Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W. vom 12. Dezember 2005, beigezogen. Aus den Schwerbehindertenakten geht u. a. hervor, dass das VA zuletzt in Ausführung eines während des Verfahrens vor dem SG geschlossenen Vergleichs mit Bescheid vom 15. Oktober 2004 den Grad der Behinderung (GdB) mit 80 ab 19. Februar 2001 unter Berücksichtigung einer Hirnleistungsschwäche, eines hirnorganischen Psychosyndroms, einer inkompletten Halbseitenlähmung rechts und einer seelischen Störung festgestellt hat.

Schließlich hat der Senat die Leistungsakte der Bundesagentur für Arbeit (Stamm-Nr.: 427193) beigezogen, in welcher u. a. das arbeitsamtsärztliche Gutachten von Dr. S. vom 20. Februar 1996 und der diesem Gutachten zugrunde liegende Befundbogen vom 5. Februar 1996, der Arztbrief von Dr. Z. vom 9. März 1994 sowie das arbeitsamtsärztliche Gutachten von Dr. A.-M. vom 28. Juni 2001 und der diesem Gutachten zugrunde liegende Befundbogen vom 28. Juni 2001 enthalten waren. Aus der in den Akten enthaltenen Stellungnahme der ehemaligen Arbeitgeberin des Klägers geht hervor, dass die Kündigung vom 23. September 1994 wegen Auftragsmangel erfolgt sei. Aus den Akten der Bundesagentur für Arbeit ergibt sich u. a., dass die Bundesagentur für Arbeit mit Bescheid vom 14. Februar 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 2001, bestätigt durch Gerichtsbescheid des SG vom 6. September 2001 und aufgehoben durch Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. September 2002 wegen nicht ordnungsgemäß ergangener Meldeaufforderung, eine Säumniszeit vom 8. bis zum 21. Februar 2001, festgestellt hat, da der Kläger sich immer wieder bei seiner Lebensgefährtin im S. aufgehalten habe.

Auf Frage des Senats hat die R. GmbH unter dem 27. Oktober 2005 mitgeteilt, der Kläger sei dort vom 2. September 1985 bis zum 31. Dezember 1994 als Technischer Zeichner berufstätig gewesen. Wegen eigenmächtiger unerlaubter Abwesenheit vom Arbeitsplatz sei es zu Abmahnungen vom 16. Dezember 1993 und 20. Januar 1994 gekommen. Die Kündigung habe auf dem drastischen Auftragsrückgang bei manuellen Konstruktionsarbeiten beruht. Unter dem 5. April 2006 ist mitgeteilt worden, dass keine Auskünfte zur Entwicklung der Arbeitsleistung des Klägers mehr gegeben werden könnten.

Die Beklagte hat sich zu den beigezogenen Rentenakten dahingehend geäußert, den Unterlagen sei zu entnehmen, dass die wiederholten negativen Bescheide hinsichtlich des Rentenverfahrens zu einer Verstärkung und Stabilisierung der querulatorischen Persönlichkeitszüge und letztlich zu einer neurotischen Fehlverarbeitung geführt hätten. Diese Entwicklung sei im Wesentlichen dem Persönlichkeitsbild des Klägers zuzuordnen und nicht durch den Unfallversicherungsträger zu entschädigen. Außerdem sei der Kläger bis Ende 1994 vollschichtig beschäftigt gewesen. Im Jahre 1995 habe sich eine einjährige Krankschreibung angeschlossen. Danach sei der Kläger wohl arbeitslos gewesen. Insofern lasse sich auch eine Verschlimmerung ab 1. Januar 1992 nicht begründen. Gehe man von einer unfallbedingten Verschlimmerung aus und berücksichtige dabei eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit, so würde eine Neufeststellung der Verletztenrente erst nach Abschluss der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit, evtl. mit Beginn der Erwerbsunfähigkeitsrente am 1. August 1998 in Frage kommen. Zu den beigezogenen Schwerbehindertenakten hat die Beklagte ausgeführt, dass der Kläger zwar angegeben habe, keinerlei Kontakt zur Außenwelt zu haben. Andererseits ergebe sich aus dem Gutachten von Dr. W., dass eine Tochter mit deren Mutter in der P. lebten und der Kläger bis mindestens 2001 eine Lebensgefährtin im S. gehabt habe. Insgesamt ergebe sich ein sehr widersprüchliches Bild mit zweckgerichteten Angaben bis hin zur Aggravation, wobei sich der Kläger immer wieder auf das Unfallereignis und seine Folgen berufe und dies für sämtliche Missgeschicke seines Lebens verantwortlich mache. Die vielfach beschriebene Persönlichkeitsveränderung sei nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit Unfallfolge.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten und der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten, der beigezogenen Akten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaften und nach § 151 SGG zulässigen Berufungen sind jeweils teilweise begründet.

Der Kläger hat Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE um 50 v. H. erst ab 1. März 1994 (und nicht schon ab 1. Januar 1992) und um 70 v. H. schon ab 1. September 1998 (und nicht erst ab 1. Januar 1999).

Denn gegenüber dem Bescheid vom 23. Juli 1986 ist eine wesentliche Verschlimmerung im Sinne des § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) eingetreten. Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Er soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt (§ 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 SGB X). Die Frage, ob eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten ist, richtet sich gemäß §§ 214 Abs. 3 Satz 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) nach § 73 SGB VII. Ändern sich aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen die Voraussetzungen für die Höhe einer Rente nach ihrer Feststellung, wird die Rente in neuer Höhe nach Ablauf des Monats geleistet, in dem die Änderung wirksam geworden ist (§ 73 Abs. 1 SGB VII). Bei der Feststellung der MdE ist eine Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X nur wesentlich, wenn sie mehr als 5 v. H. beträgt; bei Renten auf unbestimmte Zeit muss die Veränderung der MdE länger als drei Monate andauern (§ 73 Abs. 3 SGB VII).

Die Frage, ob eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten ist, richtet sich gemäß §§ 212 und 214 Abs. 3 SGB VII nach der im Zeitpunkt des Versicherungsfalls geltenden Reichsversicherungsordnung (RVO).

Der Verletzte erhält eine Rente, wenn die zu entschädigende MdE über die 13. Woche (§ 580 Abs. 1 RVO) nach dem Arbeitsunfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist (§ 580 Abs. 1 Satz 1 und § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO). Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 548 Abs. 1 Satz 1 RVO). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, d. h. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (BSG, Urteil vom 4. August 1955 - 2 RU 62/54 - BSGE 1, 174, 178; BSG, Urteil vom 14. November 1984 - 9b RU 38/84 - SozR 2200 § 581 Nr. 22).

Als Folge eines Unfalls sind Gesundheitsstörungen nur zu berücksichtigen, wenn das Unfallereignis wie auch das Vorliegen der konkreten Beeinträchtigung bzw. Gesundheitsstörung jeweils bewiesen und die Beeinträchtigung mit Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Für die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der hierbei eingetretenen Schädigung und der Gesundheitsstörung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Schädigung und die eingetretene Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, welcher nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, ist grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit, ausreichend, aber auch erforderlich (BSG, Urteil vom 30. April 1985 - 2 RU 43/84 - BSGE 58, 80, 82; BSG, Urteil vom 20. Januar 1987 - 2 RU 27/86 - BSGE 61, 127, 129; BSG, Urteil vom 27. Juni 2000 - B 2 U 29/99 R - HVBG-Info 2000, 2811). Hinreichende Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, sodass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSG, Urteil vom 2. Februar 1978 - 8 RU 66/77 - BSGE 45, 285, 286). Ein Kausalzusammenhang ist insbesondere nicht schon dann wahrscheinlich, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist. Kommen mehrere Ursachen in Betracht, so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt - in gleichem Maße - wesentlich beigetragen haben (BSG, Urteil vom 28. Juni 1988 - 2/9b RU 28/87 - BSGE 63, 277, 278). Kommt dagegen einer der Bedingungen gegenüber der oder den anderen Bedingung/en eine überwiegende Bedeutung zu, so ist sie allein wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinne (BSG, Urteil vom 30. Juni 1960 - 2 RU 86/56 - SozR § 542 Nr. 27; BSG, Urteil vom 1. Dezember 1960 - 5 RKn 66/59 - SozR § 542 Nr. 32). Insoweit ist eine wertende Gegenüberstellung der ursächlichen Faktoren erforderlich (BSG, Urteil vom 29. März 1963 - 2 RU 75/61 - BSGE 19, 52, 53; BSG, Urteil vom 31. Oktober 1969 - 2 RU 40/67 - BSGE 30, 121, 123; BSG, Urteil vom 20. Januar 1977 - 8 RU 52/76 - BSGE 43, 110, 112). Lässt sich ein Zusammenhang nicht wahrscheinlich machen, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der materiellen Beweislast zu Lasten des Versicherten (BSG, Urteil vom 24. Oktober 1957 - 10 RV 945/55 - BSGE 6, 70, 72; BSG, Urteil vom 27. Juni 1991 - 2 RU 31/90 - SozR 3-2200 § 548 Nr. 11 S. 33). Dieselben Kausalitätserwägungen gelten auch bei Reaktionen auf psychischem Gebiet. In diesem Fall ist zu prüfen, ob das Unfallereignis und seine Auswirkungen auf psychischem Gebiet ihrer Eigenart und Stärke nach unersetzlich waren oder ob die Anlage so leicht ansprechbar war, dass sie gegenüber den psychischen Auswirkungen des Unfallereignisses die rechtlich allein wesentliche Ursache war. Von Bedeutung sind dabei unter anderem die Schwere des Unfallereignisses, ob eine latente "Anlage" bestand und ob sich diese bereits in Symptomen manifestiert hat. Ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang ist in der Regel zu verneinen, wenn die psychische Reaktion in Zusammenhang mit persönlichen Lebenskonflikten steht oder wenn sie wesentlich die Folge wunschbedingter Vorstellungen ist (BSG, Urteil vom 18. Dezember 1962 - 2 RU 189/59 - SozR § 542 Nr. 61; BSG, Urteil vom 20. August 1963 - 11 RV 808/61 - SozR § 162 SGG Nr. 174).

Beim Kläger liegt auf nervenärztlichem Fachgebiet eine erheblich chronifizierte depressiv-hypochondrisch-querulatorische Entwicklung auf dem Boden einer multifokalen Hirnkontusion mit organischer Wesensänderung und leichter Hirnleistungsschwäche vor. Insoweit folgt der Senat der von Prof. Dr. Dr. W. in seinem Gutachten vom 11. Januar 2005 gestellten Diagnose. Sie steht im Übrigen im Einklang mit dem von Dr. S. in dessen Gutachten vom 17. Juni 2003 beschriebenen mäßiggradigen hirnorganischen Psychosyndrom mit stärkeren neuropsychologischen Minderleistungen, neurotisch imponierender Persönlichkeitsstörung mit deutlicher affektiver Nivellierung und depressiven, teils hypochondrisch, teils querulatorisch wirkenden Zügen.

Unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze steht es für den Senat auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit fest, dass das Unfallereignis vom 10. Oktober 1979 wesentliche Ursache für diese Gesundheitsstörungen ist. Dies ergibt sich für den Senat aus den ausführlichen und in sich schlüssigen Gutachten von Prof. Dr. Dr. W. und Dr. S ...

Prof. Dr. Dr. W. hat darauf hingewiesen, dass für die Entwicklung des Klägers auf psychiatrischem Fachgebiet vordergründige prämorbide Konflikte nicht erkennbar seien. Auch ergibt sich aus dem Gutachten von Dr. S., dass der Kläger eine weitgehend unproblematische Jugend gehabt hat, in der er ohne überdurchschnittliche Schwierigkeiten die Schule durchlaufen hat, und nichts Ungewöhnliches in den familiären Beziehungen und Abläufen vorlag.

Für den Senat nachvollziehbar hat Prof. Dr. Dr. W. auch dargelegt, warum der Umstand, dass der Kläger nach dem Unfallereignis erfolgreich eine Qualifizierungsmaßnahme zum Technischen Zeichner durchlaufen und von September 1985 bis Dezember 1994 seiner beruflichen Tätigkeit als Technischer Zeichner nachgehen konnte, nicht gegen einen Unfallzusammenhang spricht.

Zum Einen erfolgte die Qualifizierungsmaßnahme im Berufsförderungswerk S. und somit in einem Rahmen, in welchem der Kläger besonders gefördert wurde. Zum Anderen hat der Kläger gegenüber den Gutachtern einleuchtend dargelegt, er sei beruflich zunehmend unter Druck geraten, da er die von ihm verlangte Leistung nicht mehr habe vollständig erbringen können. Der Senat hat keine Anhaltspunkte, an diesen Angaben zu zweifeln. In diesem Zusammenhang folgt der Senat Prof. Dr. Dr. W. auch darin, dass der Kläger unfallbedingt stets am Rande des für ihn Machbaren gearbeitet habe. Erste Anhaltspunkte für eine verminderte Stresstoleranz des Klägers ergeben sich nach Ansicht des Senats aus der arbeitsmedizinischen Stellungnahme von Dr. H. vom 9. Mai 1983 und der ärztlichen Stellungnahme von Dipl.-Psych. R. vom 19. Mai 1983. Dr. H. hat unter anderem ausgeführt, als Hirnorganiker benötige der Kläger ein ruhiges, ausgeglichenes Arbeitsklima ohne Nacht- oder Wechselschicht und mit der Möglichkeit zu regelmäßigen Pausen. Dipl.-Psych. R. hat ausgeführt, die längerfristige Belastbarkeit des Klägers sei behinderungsbedingt störbar. Man dürfe den Kläger keinesfalls bis an die oberste Grenze fordern, sonst habe er keine Reserven mehr und es wiederhole sich das Schicksal seines vorgeschalteten Schulbesuchs, dass er wieder scheitere. Dr. S. hat auch zu Recht auf die psychologische Testbeurteilung der Dipl.-Psych. B. vom 7. April 1986 hingewiesen, welche im individuellen Leistungsprofil stark abgefallene Leistungsbeeinträchtigungen, eine beeinträchtigte Merkfähigkeit und eine Umstellungserschwerung umschrieb. Es waren also im Jahre 1986 weitere Anzeichen erkennbar, die eine verminderte Leistungsfähigkeit aufgrund der Hirnleistungsschwäche nachvollziehbar machen. Folgerichtig hat die Beklagte damals mit Bescheid vom 23. Juli 1986 diese Leistungseinschränkungen als Unfallfolgen anerkannt. Auch hat Dr. S. für den Senat gut nachvollziehbar dargelegt, dass die am 11. Mai 1999 durch Dipl.-Psych. W. erfolgte Testung die bereits von Dipl.-Psych. B. beschriebenen neuropsychologischen Leistungsdefizite untermauert habe. Daraus ergibt sich für den Senat nachvollziehbar ein - trotz guter weiterer Teilleistungsfähigkeiten - schädigungsbedingtes beständig erhöhtes Anstrengungserfordernis mit hieraus resultierender allmählicher Erschöpfung und Überforderung. Für wesentlich erachtet der Senat auch die von Dr. B. in seinem radiologischen Gutachten vom 20. Mai 1999 dargestellten MRT-Befunde. Sie weisen, was Dr. S. zutreffend dargelegt hat, darauf hin, dass der Unfall eine gravierendere hirnorganische Schädigung bedingt hat, als bislang angenommen wurde. Aus all dem ergibt sich - den Ausführungen von Dr. S. folgend - das Bild einer im Rahmen objektiv zunehmender Leistungsanforderungen nachlassenden Leistungsfähigkeit und zunehmenden Erschöpfung mit einer sich allmählich entwickelnden depressiven Verstimmung, die im späteren Kampf um Anerkennung der Schädigungsfolgen und in Reflexion der misslichen Lebensentwicklung in teils hypochondrische, teils psychosomatische Schmerzbeschwerden überging und woraus sich eine zunehmende Überzeugung, von Ärzten und anderen Fachleuten falsch behandelt und damit geschädigt worden zu sein, entwickelte. Dr. S. hat hieraus zu Recht den Schluss gezogen, dass der Kläger, bei welchem - wie oben bereits dargelegt - keine prämorbiden Neurosebestandteile vorgelegen haben, deutliche Schädigungsfolgen in Gestalt neuropsychologischer Defizite erlitten hat, die vor allem in Gestalt verringerter Leistungs-, Konzentrations-, optischer Diskriminierungs- und Umstellungsfähigkeit bestehen.

Die Einschätzung, dass der Kläger unfallbedingt nicht mehr den Anforderungen seines Arbeitsplatzes gerecht geworden ist, steht auch nicht im Widerspruch dazu, dass es zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses letztlich wegen eines Auftragsrückgangs gekommen ist. Denn gerade in Fällen des Auftragsrückgangs und damit notwendig gewordener Stelleneinsparungen verfolgt ein Arbeitgeber in aller Regel das Ziel, sich leistungsschwächerer Arbeitnehmer zu entledigen. Soweit die R. GmbH mitgeteilt hat, wegen eigenmächtiger unerlaubter Abwesenheit vom Arbeitsplatz sei es zu Abmahnungen gekommen, weist der Senat darauf hin, dass diese Abwesenheit vom Arbeitsplatz gerade auf den vermehrten Arbeitsstress des Klägers zurückzuführen sind und diese Abmahnungen mithin kein Indiz dafür sind, dass die Angaben des Klägers zu seiner beruflichen Leistungsfähigkeit nicht zutreffen. Denn nach den Angaben des Klägers haben die Abmahnungen darauf beruht, dass er wegen ärztlicher Untersuchungen vom Dienst ferngeblieben ist oder Pausen eingelegt hat, wenn er sich nicht richtig hat konzentrieren können.

Für eine depressive Reaktion auf seine Scheidung als vorrangige Ursache für seine Leistungsdefizite gibt es nach Ansicht des Senats keine konkreten und schlüssigen Hinweise, wie Dr. S. zutreffend ausgeführt hat. Demgegenüber bestanden die hirnorganisch bedingten Leistungsdefizite zweifelsfrei. Hinzu kam - und auch insoweit folgt der Senat den nachvollziehbaren Ausführungen von Dr. S. - im Hinblick auf die Begutachtungen und die finanziell und sozial drastisch verschlechterte Lebenssituation eine zunehmende Verbitterung des Klägers, welche verbunden mit der Entwicklung einer somatoformen Schmerzstörung und verschiedener psychosomatischer Reaktionen das Bild des Klägers abrunden.

Nach alledem ist es unter Bewertung aller Befunde und Einschätzungen erheblich wahrscheinlicher, dass die schädigungsbedingten Hirnleistungsdefizite im Zusammenhang mit der beruflichen Überforderung und dem daraus resultierendem Versagen zu dem jetzt als persönlichkeitsgestört imponierenden Bild geführt haben, als dass sich eine unfallunabhängige, in Kindheit und Jugend angelegte neurotische Grundsituation oder allein durch Scheidung und/oder Arbeitsplatzbedingungen bedingte und damit unfallunabhängige Neurose eingestellt hätte und das Unfallereignis lediglich eine nicht wesentliche Gelegenheitsursache dargestellt hätte.

Auch hinsichtlich der Einschätzung der MdE folgt der Senat im Wesentlichen den Gutachten von Prof. Dr. Dr. W. und Dr. S ...

So hat Dr. S. ausgeführt, die zunehmende Erschöpfung bestehe in zunehmendem Maße bereits seit Anfang der 90-er Jahre und scheine glaubhaft ab 1994 in Gestalt der damals vorrangig als depressiv imponierenden Verstimmung deutlich gewesen zu sein. Er hat es daher für vertretbar gehalten, in der Zeit zwischen 1994 und 1998 eine MdE um 50 v. H. anzunehmen. Dem folgt der Senat unter Berücksichtigung des Arztbriefs von Dr. Z. vom 9. März 1994, in welchem dieser ausgeführt hat, der Kläger habe "seit einem Jahr" einen ständig zunehmenden Druck auf dem Kopf, teilweise Hinterkopfschmerzen, sei vergesslicher geworden und würde mehr Fehler machen. Ausweislich der sachverständigen Zeugenauskunft von Dr. Z. vom 19. August 1997 wurde der Kläger von ihm erstmals am 28. Februar 1994 nervenärztlich behandelt. Hieraus schließt der Senat, dass der Leidensdruck des Klägers erst im Februar 1994 derart groß wurde, dass er sich veranlasst sah, sich in nervenärztliche Behandlung zu begeben. Mithin ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass genügend Anhaltspunkte für die Annahme einer Änderung der wesentlichen Verhältnisse im Sinne einer MdE-Erhöhung auf 50 v. H. nicht - wie vom SG angenommen - bereits vor dem 1. Januar 1992, sondern erst ab dem 28. Februar 1994 vorliegen.

Der Senat folgt auch den Ausführungen von Dr. S., die zunehmende Erschöpfung sei (aufgrund der Untersuchungsbefunde von Dr. S.) ab 1998 in vollem Umfang der Persönlichkeitsstörung zuordenbar. Er hat daher ab 1998 eine MdE um 75 v. H. angenommen. Auch diese Einschätzung kann der Senat unter Berücksichtigung des Gutachtens von Dr. S. vom 6. Oktober 1998 nachvollziehen. Denn in diesem Gutachten wurde die Persönlichkeitsstörung erstmals in vollem Umfang erhoben. Demgegenüber haben die Kliniken S. im Entlassungsbericht vom 27. November 1995 den Kläger noch für fähig erachtet, vollschichtig arbeiten zu können. Auch Dr. M. sah in seinem Gutachten vom 5. Juli 1996 den Kläger noch als fähig an, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt halbschichtig auszuüben. Zur selben Einschätzung gelangte Dr. Z. in seiner sachverständigen Zeugenauskunft vom 19. August 1997. Da auch Dr. G.-P. in ihrem Gutachten vom 3. April 1998 den Kläger noch für fähig erachtete, vollschichtig einsatzfähig zu sein, ist erstmals Dr. S. in ihrem auf den am 22. Juli und 4. August 1998 durchgeführten Untersuchungen beruhenden Gutachten vom 6. Oktober 1998 zu der für den Senat nachvollziehbaren Einschätzung gelangt, der Kläger könne selbst leichte Tätigkeiten nur noch unter 2 Stunden täglich verrichten. Mithin ist der Senat davon überzeugt, dass Anhaltspunkte für die Annahme einer wesentlichen Veränderung der Verhältnisse im Sinne einer MdE-Erhöhung auf 70 v. H. nicht - wie vom SG angenommen - erst ab 1. Januar 1999, sondern bereits ab 4. August 1998 vorliegen. Soweit demgegenüber Dr. H. in seinem Gutachten vom 25. Oktober 1999 davon ausgegangen ist, das Leistungsvermögen im Erwerbsleben sei nur leicht bis mäßiggradig vermindert, folgt der Senat dieser Einschätzung nicht. Denn Dr. H. hat zu Unrecht die Ansicht vertreten, die neurotische Entwicklung mit querulatorischem und sensitivem Gepräge habe keinen eigenen Krankheitswert, da "letztlich das wichtigste Kriterium des subjektiven Leidens unter den Folgen" nicht erfüllt werde. Gerade dies ist aber im Hinblick auf die Gutachten von Dr. S. und Prof. Dr. Dr. W. entsprechend den obigen Ausführungen des Senats der Fall.

Nach alledem hat der Kläger gemäß § 73 Abs. 1 SGB VII unter Abänderung des Bescheides vom 23. Juli 1986 und Aufhebung des Bescheides vom 5. März 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 1997 einen Anspruch auf eine Verletztenrente nach einer MdE um 50 v. H. ab 1. März 1994 und um 70 v. H. ab 1. September 1998.

Soweit das SG eine MdE um 50 v. H. bereits ab 1. Januar 1992 angenommen hat, war die Berufung der Beklagten erfolgreich. Soweit das SG eine MdE um 70 v. H. erst ab 1. Januar 1999 angenommen hat, war die Berufung des Klägers erfolgreich.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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