L 15 SB 73/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 7 SB 1520/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SB 73/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Rechtsstreit über die Berufung der Klägerin (L 15 SB 124/05) ist durch die Berufungsrücknahme vom 29.11.2005 erledigt.
II. Außergerichtliche Kosten im Rahmen der Fortsetzung des Verfahrens vor dem Bayerischen Landessozialgericht sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Beendigung des Berufungsverfahrens durch Berufungsrücknahme am 29.11.2005 bzw. um einen höheren Grad der Behinderung (GdB) als 60 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nach dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX).

Mit Gerichtsbescheid vom 02.08.2005 wies das Sozialgericht München die Klage gegen den Bescheid vom 18.06.2004 (der Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 13.02.2004 wurde abgelehnt, der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19.11.2004 zurückgewiesen) ab. Dieser Gerichtsbescheid wurde der Klägerin ausweislich des Zustellungsnachweises der Deutschen Post am 12.08.2005 zugestellt.

Mit Schreiben vom 29.08.2005 an das Bayerische Landesversorgungsamt, bei dem es am 02.09.2005 einging, legte die Klägerin gegen diesen Gerichtsbescheid Berufung ein; diese ging am 10.10.2005 beim Bayer. Landessozialgericht ein.

Im Erörterungstermin vom 29.11.2005 wurde die Klägerin darauf hingewiesen, ihr Schreiben vom 29.08.2005 an das Landesversorgungsamt sei nicht geeignet, die Berufungsfrist zu wahren. Auf Vorhalt, warum sie zum Hinweis des Gerichts vom 28.10.2005 bislang nicht Stellung genommen habe, erklärte sie: "Dies kann ich nicht sagen, möglicherweise habe ich dieses Schreiben nicht erhalten, bei mir verschwinden auch z.B. Kontoauszüge und andere Schriftsätze." Nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage, in deren Verlauf die Klägerin ihre gesundheitlichen Schwierigkeiten schilderte, erklärte die Klägerin: "Ich nehme die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 02.08.2005 zurück, gegenüber dem Beklagten beantrage ich die Neufeststellung meines GdB sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "G"; zur Begründung verweise ich auf mein heutiges Vorbringen."

Mit Schreiben vom 25.04.2006 erhob sie "Einspruch" gegen die Berufungsrücknahme und bat sinngemäß, das Berufungsverfahren fortzuführen. Mit Verfügung vom 09.05.2006 wurde das Berufungsverfahren L 15 SB 124/05 unter dem neuen Az.: L 15 SB 73/06 fortgeführt.

Der Beklagte teilte mit Schreiben vom 01.06.2006 unter Hinweis auf das gerichtliche Schreiben vom 19.04.2006 mit, das Berufungsverfahren sei beendet, eine Einspruchsmöglichkeit bestehe insoweit nicht; das im Erörterungstermin vom 29.11.2005 beantragte Neustellungsverfahren laufe derzeit, habe sich jedoch wegen des erneut in Lauf gesetzten Gerichtsverfahrens verzögert.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, den Beklagten unter Abänderung des Gerichtsbescheides vom 02.08.2005 sowie des Bescheides vom 18.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2004 zu verurteilen, für sie einen höheren GdB als 60 festzustellen und ihr das Merkzeichen "G" zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt, festzustellen, dass der Rechtsstreit über die Berufung der Klägerin (L 15 SB 124/05) durch die Berufungsrücknahme vom 29.11.2005 erledigt ist.

Zum Verfahren wurden beigezogen die Akten des Sozialgerichts München S 7 SB 1520/04 sowie die Schwerbehindertenakten.

Bezüglich des weiteren Sachverhalts in den Verfahren des Beklagten und des Sozialgerichts wird gemäß § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und § 540 der Zivilprozessordnung (ZPO) auf den Tatbestand des angefochtenen Gerichtsbescheides und die dort angeführten Beweismittel, hinsichtlich des Sachverhalts im Berufungsverfahren auf die Schriftsätze der Beteiligten und den Inhalt der Berufungsakten nach § 136 Abs.2 SGG Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Obwohl die Klägerin in dem Erörterungstermin vom 29.11.2005 ihre Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 02.08.2005 zurücknahm, wodurch nach § 156 Abs.2 SGG der Verlust des Rechtsmittels bewirkt wird, führen ihre als Widerruf/Rücknahme/Anfechtung zu wertenden gegenteiligen Erklärungen im Schreiben vom 25.04.2006 ("Einspruch") samt Anlagen zu einem Streit über die Wirksamkeit ihrer Berufungsrücknahme und damit zur Weiterführung des Verfahrens vor dem Bayer. Landessozialgericht. Nachdem die Berufungsrücknahme sich am Ende der mündlichen Verhandlung jedoch als wirksam erweist, muss der Senat feststellen, dass der Rechtsstreit über die Berufung der Klägerin (L 15 SB 124/05) durch die Berufungsrücknahme vom 29.11.2005 erledigt ist (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, Kommentar, 8.Aufl., Rdnr.6 zu § 156).

Grundsätzlich konnte die Klägerin ihre Berufung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zurücknehmen (§ 156 Abs.1 SGG). Diese Berufungsrücknahme ist von ihr am 29.11.2005 nach eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage und anschließender Stellung eines Neufeststellungsantrages gegenüber dem Beklagten auch wirksam erklärt worden, so dass eine Entscheidung in der Sache selbst, d.h. über einen höheren GdB bzw. die Zuerkennung des Merkzeichens "G" dem Senat nach der wirksamen Beendigung des Rechtsstreites nicht mehr möglich ist.

Eine Prozesshandlung wie die von der Klägerin zu Protokoll erklärte Rücknahme der Berufung kann weder frei widerrufen noch entsprechend den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften wegen Irrtums oder Drohung (§§ 119, 123 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) angefochten werden (BSG SozR Nr.3 zu § 119 BGB; BSG in SozR 1500 § 102 Nr.2 m.w.N.; BSG 17.05.1966, 7 RAr 7/66). Auch eine Nichtigkeit der Rücknahmeerklärung könnte selbst dann nicht angenommen werden, wenn - wie nicht geschehen - diese Erklärung aufgrund einer "Überrumpelung" durch das Gericht oder infolge einer unrichtigen Belehrung über die Prozessaussicht abgegeben worden wäre (BSG 24.04.1980, 9 RV 16/79 m.w.N.; BSG in Breithaupt 1960, 744).

Dies ergibt sich aus der Rechtsnatur von Prozesshandlungen, zu denen auch die Berufungsrücknahme zählt. Diese können zwar durch eine spätere Prozesshandlung widerrufen, ergänzt, geändert oder berichtigt werden; grundsätzlich geht dies jedoch nur, solange der Rechtsstreit noch anhängig ist. Nicht frei widerruflich bzw. nicht frei abänderungsfähig sind Prozesshandlungen, durch die der Prozessgegner eine Rechtsstellung erlangt oder aufgrund deren er seine Rechtsstellung eingerichtet hat (z.B. auch Rücknahme; vgl. hierzu Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 24. Auflage, Einleitung III Anm.21 ff. m.w.N.). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz kann dann angenommen werden, wenn gleichzeitig mit der Rücknahme deren Widerruf bei Gericht eingegangen wäre, was im Falle der Klägerin nicht der Fall war; der Erörterungstermin fand am 29.11.2005 statt, ihr "Einspruch" vom 25.04.2006 ging bei Gericht erst am 26.04.2006 ein.

Abgesehen davon, dass die Klägerin keinerlei Angaben über eine Irrtumsanfechtung im Sine des § 119 BGB oder über mögliche Nichtigkeitsgründe vorträgt, sind derartige Mängel auch nicht feststellbar.

Allenfalls könnte eine Berufungsrücknahme entsprechend den Regeln über die Wiederaufnahmeklage widerrufen werden, falls ein gesetzlicher Restitutionsgrund (§ 179 Abs.1 SGG i.V.m. § 580 ZPO) gegeben wäre (BSG vom 24.04.1980, 9 RV 16/79 m.w.N.). Einen solchen Tatbestand (insbesondere: falsche eidliche Aussage des gegnerischen Prozessbeteiligten, Urkundenfälschung, strafbares falsches Zeugnis/Gutachten, Urteilserschleichung, Amtspflichtverletzung eines Richters, Auffinden einer bisher unbekannten Urkunde) hat die Klägerin nicht vorgetragen; auch ergeben sich diesbezüglich keine Hinweise aus den Akten. Eine strafbare Verletzung der richterlichen Amtspflichten gegenüber der Klägerin könnte im Übrigen nur dann eine Restitutionsklage und damit einen Widerruf rechtfertigen, wenn der zuständige Richter wegen einer solchen Straftat rechtskräftig verurteilt worden wäre oder wenn ein Strafverfahren aus anderen Gründen als mangels Beweises nicht eingeleitet oder durchgeführt werden könnte (§ 580 Abs.1 Nr.5 i.V.m. § 581 ZPO). Das ist nicht der Fall. Ob ein Nichtigkeitsgrund im Sinne des § 579 ZPO ebenfalls einen Widerruf rechtfertigt, kann dahingestellt bleiben. Denn die in § 579 Abs.1 ZPO aufgeführten Nichtigkeitsgründe (unvorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts; Mitwirkung eines kraft Gesetzes ausgeschlossenen oder wegen Befangenheit abgelehnten Richters, den gesetzlichen Vorschriften nicht entsprechende Vertretung einer Partei) liegen offensichtlich nicht vor.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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