L 17 U 244/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 U 289/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 244/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25.05.2004 und der Bescheid vom 16.07.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2002 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Verlust des Zahnes 11 als Folge des Unfalles vom 22.10.1996 anzuerkennen und entsprechende Heilbehandlung zu gewähren.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung der Schädigung des Zahnes 11 als Folge des Schulunfalles vom 22.10.1986 sowie die Übernahme der hierdurch bedingten Behandlungskosten streitig.

Die 1979 geborene Klägerin erlitt am 22.10.1986 einen Arbeitsunfall (Schulunfall). Duch den Stoß eines Mitschülers stürzte sie und schlug mit dem Kiefer auf eine Steinkante (Treppenstufe) auf. Dabei zog sie sich eine Schädelprellung sowie eine 1 cm lange, querverlaufende, das Lippenrot perforierende Oberlippenplatzwunde (kleine Blutung im Bereich der Gingiva, am gegenüberliegenden Oberkiefer) zu. Der 2. obere Schneidezahn rechts war gelockert, jedoch noch nicht extraktionsfähig (Durchgangsarztbericht vom 22.10.1986). Bei dem Zahnarzt Dr.B. war die Klägerin erstmals am 13.11.1986 in Behandlung (Befundbericht vom 23.12.1986). Dieser gab an, dass der Unfall keine bleibenden Schäden bzw. späteren Behandlungsnotwendigkeiten verursachen werde.

Im März 2002 legte der Zahnarzt Dr.M. einen Heil- und Kostenplan vor, in dem es um die Einsetzung eines Implantats bei Zahn 11 ging. Die Kosten hierfür wurden mit ca. 1.600 DM veranschlagt.

Mit Bescheid vom 16.07.2002 lehnte der Beklagte ihre Zuständigkeit für die prothetische Versorgung des Zahnes 11 ab. Bei dem Schaden handle es sich nicht um Folgen des Unfalles vom 22.10.1986. Wegen des Unfalles sei nämlich aufgrund der Auskunft der Praxis Dr.B. weder eine Behandlung notwendig gewesen noch werde dies zukünftig sein (bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 11.09.2002).

Gegen diese Bescheide hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, den Beklagten zu verurteilen, die Schädigung des Zahnes 11 als Folge des Schulunfalles anzuerkennen und die Kosten für eine Implantatversorgung zu übernehmen. Die Auskunft des Zahnarztes Dr.B. vom 23.12.1986 sei nur als Prognose zu bewerten gewesen und könne nicht als Grundlage für die Ablehnung herangezogen werden.

Der Beklagte hat erwidert, dass unter Berücksichtigung der zahnärztlichen Auskunft vom 23.12.1986 ein Schaden am Zahn 11 nicht bewiesen sei. Auch habe der damalige Durchgangsarzt am 22.10.1986 eine Lockerung des 2. oberen Schneidezahnes rechts (das sei der Zahn 12) festgestellt. Dieser sei aber ca. drei Wochen nach dem Unfallereignis, also bei der Untersuchung durch Dr.B. , wieder gefestigt gewesen.

Auf Veranlassung des SG hat Dr.M. am 17.02.2003/24.07.2003 ein zahnärztliches Gutachten erstellt. Er hat festgestellt, dass der Zahn 11 wegen Extraktion fehle, die benachbarten Zähne 21 und 12 aber kariesfrei und vital seien. Der Zahn 11 sei deutlich degeneriert gewesen und habe eine verkürzte Wurzel gehabt. Der Zahnnerv sei schon seit längerer Zeit entweder degeneriert oder keimfrei abgestorben gewesen. Da das Gebiss der Klägerin ansonsten in einem sehr guten Zustand sei, liege eine lang zurückliegende traumatische Einwirkung auf den Zahn als Ursache nahe. Die Kosten für die Wiederherstellung seien damit vollständig durch den Unfall von 1986 verursacht. Der Beklagte hat hierzu mit Schreiben vom 03.09.2003 Stellung genommen und darauf hingewiesen, dass lediglich die Möglichkeit einer unfallbedingten Schädigung des Zahnes 11 bestehe. Das Gutachten sei nicht geeignet, einen unfallbedingten Schaden an Zahn 11 mit der erforderlichen, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit (iS des Vollbeweises) anzunehmen.

Der Zahnarzt Dr.M. , Praxisnachfolger des Dr.B. , hat mit Schreiben vom 22.09.2003 ausgeführt, dass Dr.B. es damals versäumt habe, den Zahn 11 zu röntgen. Seine Auffassung, Spätfolgen seien nicht zu erwarten, sei ein fataler Fehler gewesen. Deshalb sei auch keine Behandlung durchgeführt worden. Dr.M. hat des Weiteren mitgeteilt, die Klägerin habe erst im März 2002 über Beschwerden am Zahn 11 geklagt. Ab dem 11. Lebensjahr habe eine kieferchirurgische Behandlung stattgefunden. Wegen des engen Kiefers seien die Zähne 12 und 22 zu Beginn der Behandlung gezogen wurden. Die gezogenen Zähne, insbesondere Zahn 12, hätten keine Veränderungen aufgewiesen. Der Zahn 11 sei 2002 gezogen worden, dabei habe sich eine veränderte Wurzel erkennen lassen.

Mit Urteil vom 25.05.2004 hat das SG die Klage abgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt, es könne keinerlei Nachweis darüber geführt werden, dass der Zahn 11 bei dem Schulunfall einen Schaden erlitten habe.

Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Senat nach Beiziehung der einschlägigen Röntgenaufnahmen von Prof. Dr.R. am 27.06.2005 ein mund-, kiefer-, gesichtschirurgisches Gutachten eingeholt. Dieser hat ausgeführt, dass das am 22.10.1986 stattgefundene Ereignis zu einem Frontzahntrauma im Milchgebiss geführt habe. In dessen Folge sei es zur Verletzung im Bereich der Oberlippe, der Gingiva entsprechend 21/22 sowie zur Luxation des Zahnes 12 gekommen. Bei dem streitgegenständlichen Zahn 11 seien die klassischen Zeichen eines Frontzahntraumas im Milchgebiss eingetreten. Infolge des Verlustes des vitalen Pulpagewebes, der Hemmungsmissbildung der Wurzel sowie aufgrund des sich darauf eingestellten Entzündungsprozesses im Bereich des Apex sei es zur Extraktionswürdigkeit gekommen. Es sei sehr unwahrscheinlich dass die festgestellten Störungen, insbesondere der Verlust des Zahnes 11, die partielle Hemmung der Wurzelbildung der Zähne 21 und 22, die Gelbfärbung des Zahnes 21 sowie der Lockerungsgrad des Zahnes 21 nicht auf den Unfall vom 22.10.1986 zurückzuführen seien. Der Verlust des Zahnes 11 stelle das Maximalmaß der Folgeschäden bei Milchzahntraumata dar.

Der Beklagte hat erwidert, es gebe betreffend Zahn 11 zeitnah zum Unfalltag keine gesicherten Befunde. Jede Diskussion zum Zusammenhang zwischen Unfall und dem jetzt bestehenden Spätschaden (Ersetzen des Zahnes 11 durch Dentalimplantat) sei und bleibe Spekulation. Auch wenn die Dokumentation nur sehr mangelhaft gewesen sein sollte, ginge dieses Versäumnis nicht zu Lasten des Beklagten. Jedenfalls sei ein Erstschaden nach Art und Umfang am Zahn 11 nicht beweisbar.

Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Urteils des SG Nürnberg vom 25.05.2004 sowie des Bescheides vom 16.07.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2002 zu verurteilen, eine Schädigung des Zahnes 11 als Folge des Schulunfalles vom 22.10.1986 anzuerkennen und die hierdurch bedingten Behandlungskosten zu übernehmen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 25.05.2004 zurückzuweisen.

Ergänzend wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und auch sachlich begründet. Die Klägerin hat am 22.10.1986 einen Arbeitsunfall (Schulunfall) erlitten (§§ 539 Abs 1 Nr 14 b, 548 Abs 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Sie hat Anspruch auf Heilbehandlung im Rahmen der §§ 556, 557 Abs 1 Nr 3 RVO.

Anzuwenden sind im vorliegenden Falle noch die Vorschriften der RVO, da sich das zu beurteilende Ereignis vor dem 01.01.1997 ereignet hat (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch -SGB VII-).

Streitig ist im Wesentlichen, ob das von der Klägerin behauptete Ereignis vom 22.10.1986 einen Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung darstellt. § 548 Abs 1 Satz 1 RVO verlangt hierfür einen Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Es muss sich also um ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis handeln, das zu einem Gesundheitsschaden führt und das im ursächlichen Zusammenhang mit einer versicherten Tätigkeit steht. Die Anerkennung eines Arbeitsunfalles setzt dabei voraus, dass die versicherte Tätigkeit und das Unfallereignis mit Gewissheit bewiesen sind. Dies bedeutet, dass ein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch keinen Zweifel an einem Unfallereignis haben darf (BSGE 23, 203, 207; Bereiter-Hahn/Schiecke/ Mehrtens, Ges.Unfallvers, 5.Aufl, Anm 10 zu § 8 SGB VII).

Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung vom Vorliegen der Tatsachen zu begründen (BSGE 8, 59; 48, 285; 58, 80).

Nach Auffassung des Senats ist erwiesen, dass die Klägerin am 22.10.1986 einen Arbeitsunfall (Schulunfall) im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung erlitten hat. Dabei hat sich die Klägerin ein stumpfes Trauma im Bereich des Oberkiefers zugezogen. Wie es in dem überzeugenden Gutachten des Prof. Dr.R. vom 27.06.2005 zum Ausdruck kommt, kam es - unter Berücksichtigung des Durchgangsarztberichtes vom 22.10.1986 - zu einer Zerreißung der Oberlippe, zur Verletzung des Oberkieferalveolarkamms sowie der dort befindlichen Zähne. Insbesondere der Durchgangsarzt Dr.M. hat hier auf den zweiten oberen Schneidezahn rechts hingewiesen. Entsprechend dem Alter der damals sechsjährigen Klägerin handelte es sich um den Zahn 52 (Gebiss-Schema für Milchzähne). Dieser war aus seinem Zahnbett gelockert. In dem Durchgangsarztbericht wird weiter von der Zerreißung der Oberlippe (1 cm lange, quer verlaufende, das Lippenrot perforierende Platzwunde) berichtet. Dieser Wunde gegenüberliegend (im Bereich der Gingiva) im Oberkiefer war eine Blutung feststellbar. Es ist davon auszugehen, dass es zu einem stumpfen Trauma im Bereich des Alveolarfortsatzes analog dem bleibenden Zahnstatus 11, 21 und 22 gekommen ist. Hierfür spricht der erhobene Befund der Blutung einschließlich der jetzigen Narbe im Bereich der Gingiva sowie die klinischen Feststellungen des Durchgangsarztes Dr.M ... Es ist damit nach Auffassung des Senates nachgewiesen, dass eine Fortleitung des Traumas bzw. der Krafteinwirkung auf die durchbrechenden Zähne 21 und 11 erfolgte.

Zum Zeitpunkt des stattgehabten Traumas war die Klägerin sechs Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt kommt es zum Durchbruch des 11. sowie des 21. Zahnes. Das Wurzelwachstum des im Durchbruch befindlichen Zahnes ist erst zu 50 % ausgebildet. Ein gestörter Durchbruch respektive ein Trauma kann das Wurzelwachstum bzw. die Entwicklung des normalen Wurzelwachstums unterbrechen. Hier entsteht dann eine hypoplastische Ausbildung der Wurzel und in Folge eine Obliteration des Pulpakanals. Dies trifft für die Zähne 11 und 21, die sich zum Zeitpunkt des Unfalls im Durchbruch und damit nicht im vollschichtig ausgebildeten Wurzelwachstum befunden haben, zu. Die Gelbfärbung der Krone ist dabei als klinisches Symptom für die Wurzelkanalobliteration zu sehen. Nach Vorliegen der Fremdröntgenaufnahmen zeigte sich im Verlauf des verlustig gegangenen Zahnes 11 auch eine Wurzelhemmungsbildung. Hier kam es zu einem Wurzelwachstumsstopp, als derselbige zu 50 % ausgebildet war. Dies entspricht dem Zeitpunkt des Durchschnittsalters des Zahnes 11 des stattgehabten Traumas. Wie in den Röntgenaufnahmen zu ersehen, sind in dem Zahn 11 die klassischen Zeichen eines Frontzahntraumas im Milchgebiss eingetreten. Infolge des Verlustes des vitalen Pulpagewebes, der Hemmungsmissbildung der Wurzel sowie des darauf eingestellten Entzündungsprozesses im Bereich des Apex des Zahnes 11 kam es zur Extraktionswürdigkeit. Der Verlust des Zahnes 11 stellt dabei das Maximalmaß der Folgeschäden bei Milchzahntraumata dar.

Zusammenfassend sind daher als wesentliche Unfallfolgen der Verlust des Zahnes 11, eine partielle Hemmung der Wurzelbildung der Zähne 21 und 22, die Gelbfärbung des Zahnes 21 bei partieller Wurzelkanalobliteration mit Devitalität des Zahnes sowie ein Lockerungsgrad des Zahnes 21 anzusehen. Der Senat hat dabei berücksichtigt, dass wegen des 20 Jahre zurückliegenden Schulunfalles keine überspannten Beweisanforderungen zu stellen sind.

Festzuhalten ist, dass der am 13.11.1986 konsultierte Zahnarzt Dr.B. die Situation nicht richtig eingeschätzt hat. Aus seinem Befundbericht lässt sich keine adäquate Dokumentation über den Zahnstatus für den Zeitpunkt des 13.11.1986 feststellen. Ebenso wurde weder die Vitalität noch die Perkussionsempfindlichkeit der Zähne getestet. Auch der Lockerungsgrad wurde nirgends dokumentiert. Eine Röntgenkontrolle wurde nicht durchgeführt, ebenso nicht die nach gültiger Lehrmeinung notwendige Kontrolluntersuchung im Verlauf. Die Feststellungen des Zahnarztes Dr.B. vom 23.12.1986 entsprechen daher nicht der gültigen Lehrmeinung. Dennoch lässt sich aus dem vorhandenen Durchgangsarztbericht vom 22.10.1986 der Ursachenzusammenhang zwischen dem Schulunfall und dem Verlust des Zahnes 11 ableiten.

Für die Behandlung des verlustig gegangenen Zahnes 11 ist das Mittel der Wahl die Insertion eines Dentalimplantates, wie es Zahnarzt Dr.M. ausführte. Zu diesem Ergebnis kommt der Senat unter Berücksichtigung des Gutachtens des Prof. Dr.R. , sowie in Anbetracht des Alters der Klägerin , des guten Mundhygienezustandes sowie des guten parodontalen Halteapparates und des zumeist kariesfreien Gebisses. Durch die Insertion eines Dentalimplantates wird u.a. auch das Beschleifen gesunder Nachbarzähne vermieden, wie es z.B. beim Eingliedern einer prothetischen Brücke unumgänglich wäre. Dies würde zudem die irreversible Reduzierung gesunder Zahnhartsubstanz bedeuten. Die Klägerin hat daher Anspruch auf Heilbehandlung dem Grunde nach. Die von Prof. Dr.R. vorgeschlagene und von Dr.M. durchgeführte Methode entspricht dabei dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Kenntnis und berücksichtigt den medizinischen Fortschritt.

Die Berufung der Klägerin war daher erfolgreich. Das Urteil des SG Nürnberg war aufzuheben. Der Verlust des Zahnes 11 ist als Arbeitsunfall anzuerkennen. Die Klägerin hat zudem Anspruch auf zahnärztliche Heilbehandlung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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