L 3 U 56/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 68 U 237/01
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 U 56/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Juni 2004 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Februar 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. März 2001 verurteilt, den Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 12. September 2000 zu entschädigen. Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung des Ereignisses vom 12. September 2000 als versicherten Schulunfall und die Gewährung von Entschädigungsleistungen.

Der 1987 geborene Kläger befand sich am 12. September 2000 als Schüler der W-B-Oberschule mit der U-Bahn auf dem Weg vom Sportunterricht in der O Str. zu seiner Schule in der G Str. Er stieg mit mehreren Mitschülerinnen und Mitschülern am U-Bahnhof Pstr. aus. Als die Türen des Zuges bereits geschlossen waren, sprang zunächst der Mitschüler R D und, als der Zug schon langsam anrollte, auch der Kläger auf den Zug auf, um durch Festhalten an der Zugtür bis zur Einfahrt in den Tunnel mitzufahren (Surfen) und dann abzuspringen. Dabei geriet der Kläger mit dem Fuß zwischen die Bahnsteigkante und den anfahrenden Zug. Er wurde über fast die gesamte Länge des Bahnsteiges mitgeschleift und fiel in das Gleisbett. Er zog sich schwere Verletzungen, insbesondere des rechten Beines zu.

Die Beklagte zog die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Berlin (1 VeJs 2473/00) mit den Vernehmungsprotokollen der Mitschülerin T E und des Mitschülers R D sowie des Zugführers bei und lehnte mit Bescheid vom 12. Februar 2001 die Gewährung einer Entschädigung aus Anlass des Unfallereignisses ab. Zur Begründung führte sie aus, der Unfallversicherungsschutz für Schüler nach § 2 Abs. 1 Nr. 8 b Sozialgesetzbuch Siebentes Buch (SGB VII) setze eine unmittelbare zeitliche und räumliche Beziehung der Verrichtung zur Schule bzw. dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule voraus, die in einem inneren Zusammenhang mit der Schule oder deren Wegen stehe. Der Versicherungsschutz entfalle, wenn sich die betroffene Person rein persönlichen Belangen widme. Das Aufspringen auf einen bereits fahrenden Zug und das Mitfahren stelle einen solchen eigenen Anlass (Eigenmotiv) dar. Es handele sich um eine unversicherte, sogenannte "eigenwirtschaftliche Handlung". Der Zusammenhang werde auch nicht durch besondere betriebsbedingte Umstände hergestellt, da das Verhalten des Klägers so grob fahrlässig und in hohem Maße vernunftwidrig und gefährlich gewesen sei, dass er damit habe rechnen müssen zu verunglücken.

Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, der Unfall habe sich auf dem Weg vom Sportunterricht zur Schule ereignet. Er sei sich als 13-jähriger Schüler der tatsächlichen Gefahr nicht voll bewusst gewesen, sondern habe seinen Mitschüler R D nachahmen und gegenüber den Mitschülerinnen angeben wollen. Es habe sich um ein gruppentypisches Verhalten beim Zusammensein mehrerer Kinder gehandelt. Mit Widerspruchsbescheid vom 28. März 2001 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte u.a. aus, der Versicherungsschutz entfalle unter dem Gesichtspunkt der selbst geschaffenen Gefahr, weil der Unfall wegen der besonderen Gefahrerhöhung nicht mehr wesentlich der versicherten Tätigkeit zugerechnet werden könne. Das U-Bahn-Surfen sei in derart hohem Grad gefährlich und vernunftwidrig, dass jeder Zusammenhang zu einer versicherten Tätigkeit entfallen müsse. Auch unter dem Gesichtspunkt des gruppentypischen Verhaltens von Kindern und Jugendlichen bestehe kein Versicherungsschutz, da dieser entfalle, wenn Spieldrang und –intensität so ausgeprägt seien, dass sie die betrieblichen Momente als unwesentlich verdrängten oder nach dem jeweiligen individuellen Entwicklungsstand genügend Gefahrenerkenntnis vorhanden gewesen sei. Durch das Aufspringen auf den fahrenden Zug habe der Kläger die unter Kindern und Jugendlichen üblichen Spielereien und Neckereien bei weitem überschritten. Die Gefährlichkeit der Handlung verdränge jeglichen Zusammenhang mit dem Schulbesuch.

Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren auf Anerkennung des Unfalls vom 12. September 2000 als versicherten Schulunfall weiterverfolgt. Er hat geltend gemacht, als noch nicht einmal 14-Jähriger habe ihm die volle Einsicht in die Gefährlichkeit seines Tuns gefehlt. Er sei durch das Beispiel seines Mitschülers animiert worden. Das sogenannte U-Bahn-Surfen sei unter den Schülern der W-B-Oberschule jedenfalls bis zum Unfall vom 12. September 2000 leider weit verbreitet gewesen. Seit dem Vorfall würden die Schüler jeweils mit zwei Lehrern zusammen in der U-Bahn zum Sportunterricht und zurück fahren. Bis zu diesem Vorfall habe eine Begleitung durch Lehrer nicht stattgefunden. Der Sportlehrer sei jeweils mit seinem Fahrrad von der Schule zum Sportplatz und zurück gefahren. Entgegen der Auffassung der Beklagten hätten die typischen Gefahren zum Unfall geführt, die sich aus dem Zusammensein von Kindergruppen während des Schulbetriebs ergäben und die auch Grund für die Verpflichtung des Lehrerpersonals seien, während der Pausen eine Schulhofaufsicht durchzuführen,

Der Kläger hat zur Stützung seines Vorbringens eine Bescheinigung des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. med. W D vom 17. Juni 2004 vorgelegt, wonach er in der Zeit vom 03. Juni 1997 bis 17. Dezember 2001 aufgrund einer Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung in fachärztlicher Behandlung gestanden hat. Er hat weiterhin seine Zeugnisse der Klasse 5 bis Klasse 8 vorgelegt. Das Sozialgericht hat die damalige Klassenlehrerin S D sowie die Eltern des Klägers zu dem Ereignis und dem Entwicklungsstand des Klägers als Zeugen vernommen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift vom 29. Juni 2004 Bezug genommen.

Durch Urteil vom 29. Juni 2004 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Versicherungsschutz sei – wie im vorliegenden Fall – zu verneinen, wenn der verletzte Schüler ausdrücklich dem Schulzweck zuwider handele und einer Tätigkeit nachgehe, die nach den Umständen des Einzelfalles als völlig unverständlich und vernunftwidrig zu erachten sei. Sein hochgradig unvernünftiges Verhalten stehe als rechtlich wesentliche Ursache des Geschehens derartig im Vordergrund, dass die Verknüpfung mit dem Schulbesuch auch unter Berücksichtigung der Begleitung durch andere Schüler und dem anregenden Verhalten des R D in den Hintergrund trete. Der Kläger sei als bald 14-jähriger Junge durchaus in der Lage gewesen, die Gefährlichkeit seines Tun zu erkennen und entsprechend seiner Einsicht zu handeln. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts vertrete die Kammer die Auffassung, dass ein starres Festhalten am Lebensalter allein kein geeignetes Kriterium für die Beurteilung der Einsichtsfähigkeit sei. Bei der Auseinandersetzung mit sozialgerichtlichen Urteilen aus vergangener Zeit müsse bedacht werden, dass die jungen Leute heute sowohl körperlich als auch geistig früher reiften. Der Kläger sei in seiner Heimatstadt B und hier den mannigfachen Einflüssen einer Großstadt - auch dem Verkehr auf der Straße und auf der Schiene – ausgesetzt gewesen. Er habe in der mündlichen Verhandlung einen außerordentlich freundlichen, offenen, vom Geist sehr beweglichen Eindruck gemacht. Er habe über eine eloquente und herausragende Kommunikationsfähigkeit verfügt. Seine Einsichtsfähigkeit habe im Vergleich zu derjenigen von Gleichaltrigen in keinem Fall zurückgestanden. Auf Grund des persönlichen Eindrucks des Klägers und der Angaben der früheren Klassenlehrerin D, die den Kläger zwar nur von August 2000 bis zum Unfalltag am 12. September 2000 unterrichtet und ihn als hellen, aufgeweckten Jungen bezeichnet habe, stehe für die Kammer fest, dass die Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Klägers bereits seinerzeit hinreichend ausgeprägt gewesen sei. Wie sich aus den Zeugnissen des Klägers ergebe, habe er vor seinem Unfall an erheblichen Verhaltensdefiziten gelitten und werde in den Zeugnissen als unordentlich, nachlässig, verantwortungslos geschildert. Auch der Umstand, dass er an einem Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung gelitten habe, die fachärztlich und medikamentös mit Ritalin behandelt worden sei, rechtfertige keine andere Beurteilung. Denn wie auch die Symptomschilderung ausweise, gehe eine Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung nicht mit einer Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit des Menschen einher oder beeinflusse seine Einsichts- oder Urteilsfähigkeit. Es sei bekannt, dass hyperaktive Kinder öfter verunfallten. Der Kläger sei bei seinem U-Bahn-Surfen aber nicht seinem Bewegungsdrang erlegen, sondern er habe sich bewusst – durch seine Mitschüler angeregt – und in voller Wahrnehmung der Gefahr des S-Bahn-Surfens ausgesetzt.

Gegen das am 26. August 2004 zugestellte Urteil richtet sich die am 31. August 2004 eingelegte Berufung des Klägers. Er macht geltend, zu Unrecht gehe das angefochtene Urteil davon aus, dass er "bewusst das Risiko in Kauf genommen habe, sich einer immensen Gefahr auszusetzen". Aus der Tatsache, dass er als 13-Jähriger zum Unfallzeitpunkt nicht unbegabter oder dümmer gewesen sei als andere Kinder, ergebe sich nicht, dass er in der Lage gewesen sei, die Tragweite seines Tuns zu erkennen. Kinder, die Schwierigkeit hätten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren, die sich öfter durch äußere Reize leicht ablenken ließen, die sich durch Impulsivität auszeichneten und die unter Konzentrationsschwäche und Unruhe litten, seien noch weniger als ihre Altersgenossen in der Lage, spontanen Anregungen nicht zu folgen und sich die Gefährlichkeit ihres Tuns vor Augen zu halten. Die Tatsache, dass ihm von dem behandelnden Jugendpsychiater ein Medikament verschrieben worden sei, das erhebliche Risiken für die psychische Entwicklung und das Wachstum haben könne, spreche für das Vorliegen einer erheblichen Entwicklungsstörung. Der erlittene Unfall sei durch die Gruppensituation "deutlich mitbedingt" worden. Zum Unfallzeitpunkt sei das U-Bahn-Surfen unter W Schülern weit verbreitet gewesen, so dass auch deshalb der innere Zusammenhang zum Schulbesuch nicht unterbrochen worden sei.

Der Senat hat zur Abklärung des bei dem Kläger vorliegenden Krankheitsbildes, Entwicklungsstands und Reifegrads Befundberichte der ihn behandelnden Ärzte und Psychologen eingeholt. Der behandelnde Dipl. Psychologe R M hat in seinem Befundbericht vom 31. März 2005 für den Behandlungszeitraum Juni 2003 bis März 2004 unter Beifügung eines ausführlichen Berichtes vom 15. September 2003 ausgeführt, durch die bei dem Kläger seit Geburt vorliegende Hyperkinese sei die Affekt- und Impulssteuerung erheblich beeinträchtigt. Die intellektuellen Fähigkeiten und die Einsichtsfähigkeit lägen deutlich unter der Norm. Die Verführbarkeit in einer delinquenten Peer-group sei hoch. Der Kläger neige dazu, sein Selbstwertgefühl durch deviante Verhaltensweisen zu erhöhen. Bei der genannten Störung bestünde ein erhöhtes Unfallrisiko sowie die Neigung zu riskantem Verhalten. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt nicht genügend Einsichtsfähigkeit in die Gefährlichkeit seines Handelns besessen habe. Krankheitsspezifisch sei es, dass eine zu geringe Fähigkeit zur Handlungsplanung und Kontrolle vorliege. Die behandelnde Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie G K hat in ihrem Bericht vom 22. April 2005 ausgeführt, der Kläger leide an einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens. Es sei davon auszugehen, dass er zum Unfallzeitpunkt nicht über eine altersgemäße Steuerungsfähigkeit verfügt habe und sich den gruppenspezifischen Vorgaben nicht habe entziehen können, da die Selbstwahrnehmung auch im Jahre 2003 noch nicht altersgemäß entwickelt und Selbstüberschätzung und Imponierverhalten noch stark ausgeprägt gewesen seien. Der Senat hat weiterhin einen Befundbericht der fachärztlichen Gemeinschaftspraxis Dres. W D, W N und M M vom 03. November 2005 über den Behandlungszeitraum 03. Juni 1997 bis 07. Mai 1998, 02. September 1998 bis 18. Januar 2000 und vom 26. November 2001 bis 14. Januar 2002 veranlasst. Danach hat bei dem Kläger durchgängig – auch während der im Zeitpunkt des Unfalls länger bestehenden Behandlungspause –ein zu diesem Zeitpunkt medikamentös unbehandeltes Aufmerksamkeits- / Hyperaktivitätssyndrom vorgelegen. Dieses Syndrom betreffe entscheidende Anteile der Persönlichkeitsstruktur wie Eigensteuerung, Impulsivität, Frustrationstoleranz, überlegtes Handeln, Überschauen von Folge- und Wirkzusammenhängen. Diese gravierenden Defizite seien durchgängig auch zu jenem Zeitpunkt wirksam gewesen. Dass der Kläger die Gefährlichkeit seines Tuns überhaupt nicht habe abschätzen können, sei ein typisches Merkmal der oben genannten Störung gewesen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Juni 2004 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Februar 2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. März 2001 zu verurteilen, ihm unter Anerkennung des Ereignisses vom 12. September 2000 als Arbeitsunfall die gesetzlichen Entschädigungsleistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertritt weiterhin die Auffassung, das Verhalten des Klägers sei in so hohem Maße vernunftwidrig und gefährlich gewesen, dass der innere Zusammenhang mit dem Schulbesuch entfallen sei. Dass der in B geborene und aufgewachsene Kläger auch ohne medikamentöse Behandlung zuvor nicht auf anfahrende Züge aufgesprungen sei, zeige, dass er diesbezüglich trotz seiner Erkrankung auch die nötige Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit besessen habe. Seine Eltern hätten ihn trotz Kenntnis seiner Erkrankung und ohne Medikamentation unbeaufsichtigt und unbegleitet den Personannahverkehr benutzen lassen. Selbst wenn der Kläger wegen seiner ADHS-Erkrankung zeitweise nur unzureichend einsichtsfähig gewesen sein sollte, müsse sich die fehlende Einsichtsfähigkeit auf die konkret-gefährdende Tätigkeit des S-Bahn-Surfens bezogen haben. Spätestens mit der Aufforderung des Bahnhofspersonals (Zugführers) zurückzubleiben, sei ihm die Gefährlichkeit seines Tuns dann aber in das Gedächtnis gerufen worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen ihn in seinen Rechten. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat er bei dem Unfallereignis vom 12. September 2000 als Schüler unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden.

Nach § 8 Abs. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 8b SGB VII sind Schüler während des Besuchs von allgemein- oder berufsbildenden Schulen und während der Teilnahme an unmittelbar vor oder nach dem Unterricht von der Schule oder im Zusammenwirken mit ihr durchgeführten Betreuungsmaßnahmen kraft Gesetzes versichert.

Dem Versicherungsschutz unterliegen in erster Linie Betätigungen während des Unterrichts, in den dazwischen liegenden Pausen und solche im Rahmen sogenannter Schulveranstaltungen sowie – seit der Ablösung der Reichsversicherungsordnung (RVO) durch das SGB VII zum 01. Januar 1997 – die genannten Betreuungsmaßnahmen. Der Schutzbereich dieser "Schüler-Unfallversicherung" ist allerdings enger als der Versicherungsschutz von Beschäftigten nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII, weil er auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule beschränkt ist (st Rspr des Bundessozialgerichts -BSG-, vgl. BSGE 41, 149, 151 = SozR 2200 § 539 Nr. 16; BSG Urteil vom 26. Oktober 2004 – B 2 U 41/03 R – in SozR 4-2700 § 8 Nr. 7), wie sich sowohl aus dem Wortlaut der Vorschrift ("während") als auch aus ihrer Entstehungsgeschichte ergibt.

Zu den vom organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule erfassten Veranstaltungen gehört auch der Sportunterricht, der auf dem Sportplatz O Straße stattfinden sollte. Der Kläger befand sich am Unfalltag mit mehreren Mitschülerinnen und Mitschülern auf dem Rückweg vom ausgefallenen Sportunterricht zur Schule, wo noch weiterer Unterricht stattfinden sollte. Der Unfall ereignete sich mithin auf dem Weg zwischen zwei schulischen Veranstaltungen. Die Tatsache, dass die Schüler den Rückweg unbeaufsichtigt ohne Begleitung eines Lehrers zurückgelegt haben, entzieht diesen Weg nicht dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule. Der Weg unterliegt mithin dem Schutzbereich des § 2 Abs. 1 Nr. 8b SGB VII.

Im Rahmen der Schüler-Unfallversicherung sind insbesondere auch die Gefahren versichert, die sich aus unzureichender Beaufsichtigung oder dem typischen Gruppenverhalten von Schülern oder Jugendlichen ergeben (st Rspr, ua BSGE 42, 44 = SozR 2200 § 550 Nr. 14; BSG SozR-3 2200 § 539 Nr. 34). Gründe hierfür sind nach den von der Rechtsprechung des BSG entschiedenen Beispielen das Übergangsstadium vom Kind zum werdenden Mann, der noch ungebändigte jugendliche Spiel- und Nachahmungstrieb, das (zwangsweise) Zusammensein von Schülern und Jugendlichen, einhergehend mit einem Gruppenverhalten vor allem bei Schülern im Pubertätsalter.

Der Versicherungsschutz ist entgegen der Auffassung des Sozialgerichts und der Beklagten nicht unter dem Gesichtspunkt der selbst geschaffenen Gefahr ausgeschlossen, weil der Kläger sich bei dem U-Bahn-Surfen in hohem Maße vernunftwidrig oder gefahrbringend verhalten habe. Bei einer selbstgeschaffenen Gefahr ist der Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall nur ausgeschlossen, wenn die erhöhte Gefahr aus betriebsfremden Motiven selbst herbeigeführt worden ist und dadurch die zunächst noch vorhandenen betriebsbezogenen Umstände so weit zurückgedrängt sind, dass sie keine wesentliche Bedingung mehr für den Unfall bilden. Hierbei ist zu beachten, dass in der Unfallversicherung weder verbotswidriges (vgl. § 7 Abs. 2 SGB VII) noch auch leichtsinniges oder unbedachtes Verhalten den Versicherungsschutz ausschließt und den bestehenden ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit beseitigt (vgl. Lauterbach-Schwerdtfeger, UV-SGB VII, § 8 Rn 243). Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist jedoch bei dem vorliegenden Unfall das in der Schüler- Unfallversicherung versicherte Risiko des Gruppenzwanges bzw. gruppentypischen Verhaltens wesentliche Bedingung gewesen. Die Bewertung eines Verhaltens als in hohem Maße vernunftwidrig oder gefahrbringend setzt eine entsprechende Erkenntnisfähigkeit voraus. Der von der Beklagten und dem Sozialgericht vertretenen Auffassung, bei dem Kläger sei nach seinem individuellen Entwicklungsstand genügend Gefahrerkenntnis vorhanden gewesen und die Handlung habe den Rahmen der bei Kindern und Jugendlichen üblichen Spielereien und Neckereien bei weitem überschritten, kann nicht gefolgt werden. Dem steht zum einen entgegen, wie aus den Aussagen der beteiligten Mitschüler folgt, dass die Aktion des Klägers Ausdruck eines für sein Alter und seine Mentalität typischen gruppendynamischen Verhaltens war, da er seinen Mitschüler nachahmen und den Mädchen imponieren wollte, was – wie seinen Schulzeugnissen zu entnehmen ist – seiner Persönlichkeitsstruktur entsprach. Zum anderen fehlte dem Kläger – jedenfalls im Zeitpunkt des Unfalls – die notwendige Einsichtsfähigkeit, die Gefährlichkeit seines Verhaltens zu erkennen und insbesondere hiernach zu handeln.

Ausschlaggebend für die Beurteilung des Zurechnungszusammenhanges zwischen der grundsätzlich versicherten Tätigkeit als Schüler und der Verrichtung zur Zeit des Unfalls ist eine Gesamtbetrachtung vor allem der konkreten gruppendynamischen Situation und des Alters der Beteiligten. Nach Auffassung des Senats ist angesichts der vorliegenden ärztlichen Unterlagen – insbesondere des Berichtes vom 03. November 2005 aus der kinder- und jugendpsychiatrischen Gemeinschaftspraxis, in der der Kläger in der Zeit vor und nach dem Unfall in Behandlung gestanden hat – eindeutig zu schließen, dass aufgrund des bei ihm bestehenden Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätssyndroms die Einsichtsfähigkeit, die Gefährlichkeit seines Tun zu erkennen, und die entsprechende Steuerungsfähigkeit sowie das Überschauen von Folge- und Wirkungszusammenhängen nicht gegeben waren. Wie der Kläger bei seiner Vernehmung vor dem Sozialgericht glaubhaft angegeben hat, ist er dem Beispiel seines Mitschülers R D, der bereits unten an der Rolltreppe der U-Bahn war und mit dem Surfen begonnen hatte, ohne nachzudenken gefolgt. Dieser hat bei seiner persönlichen Vernehmung erklärt, sie hätten vor den Mädchen angeben wollen. Angesichts dieser Gesamtumstände, der Zugehörigkeit des Klägers zu einer Gruppe von Schülern auf dem Weg vom ausgefallenen Sportunterricht zur Schule, lag eine Situation vor, bei der es zu verstärkter körperlicher Betätigung sowie aufgrund fehlender Beaufsichtigung der Schüler zu Disziplinlosigkeit kommen konnte, und in der der Kläger wegen seines fehlenden Reifegrades nicht in der Lage war, sich dieser durch schulische Umstände veranlassten Gruppeneinwirkung zu widersetzen. Nach den übereinstimmenden Feststellungen der behandelnden Ärzte beeinträchtigte das bei dem Kläger vorhandene Krankheitsbild entscheidend die Persönlichkeitsstruktur, insbesondere die Eigensteuerung, Impulsivität, überlegtes Handeln, das Überschauen von Folge- und Wirkungszusammenhängen, die es dem Kläger nicht möglich machten, die Gefährlichkeit seines Verhaltens überhaupt richtig einzuschätzen. Entgegen der Auffassung der Beklagten gelten diese Voraussetzungen insbesondere für die Zeit der fehlenden medikamentösen Behandlung, in der sich der Unfall ereignet hatte. Aufgrund dieser Gesamtumstände ist nicht nachvollziehbar, wie dem Kläger durch den Ruf des Bahnpersonals "Zurückbleiben" die Gefährlichkeit seines Tun ins Gedächtnis gerufen werden konnte.

Als wesentliche Ursache für die zum Unfall führende Handlung kann auch nicht die von der Krankheit unabhängige Persönlichkeitsstruktur des Klägers angesehen werden. Das BSG hat in einem vergleichbaren Fall (BSG Urteil vom 7. November 2000 – B 2 U 40/99 R) ausgeführt, dass in der gesetzlichen Schülerunfallversicherung bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen jeder Schüler unabhängig von seinen Charaktereigenschaften versichert sei. Gerade ein überdurchschnittlich spontan und waghalsig handelnder Schüler sei durch Gruppenzwänge besonders beeinflussbar, weil bei ihm das rationale Abwägen eine geringere Rolle spiele, als bei einem durchschnittlich veranlagten Schüler. Auch unter Berücksichtigung dieses Gesichtspunktes hat das unvernünftige Verhalten im Sinne der selbstgeschaffenen Gefahr den Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als Schüler nicht unterbrochen, da wesentlich ursächlich für den Unfall der gruppendynamische Prozess des schulisch bedingten Zusammenseins der Schüler am 12. September 2000 war.

Nach alledem waren auf die Berufung des Klägers das Urteil des Sozialgerichts Berlin sowie die Bescheide der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, den Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 12. September 2000 zu entschädigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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