S 27 AS 389/05

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
27
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 27 AS 389/05
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 28.07.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.09.2005 wird aufgehoben. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rücknahme der Arbeitslosengeld II – Alg II – Bewilligung für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2005 und die Erstattung der in dieser Zeit gezahlten Leistungen in Höhe von insgesamt 3429,51 EUR.

Der am 30.05.1955 geborene Kläger hat nach Abschluss der Hauptschule eine Ausbildung zum Schlosser absolviert. Im Anschluss war er bei der Bundeswehr beschäftigt und hat dann langjährig als Kraftfahrzeugfahrer gearbeitet. Ca. seit 1998 ist er arbeitslos. Bis zum 31.12.2004 bezog er Arbeitslosenhilfe – Alhi –, deren Auszahlungsbetrag nach eigenen Angaben bei ca 900,- EUR monatlich lag.

Der Kläger lebte im Jahr 2005 zusammen mit seiner Ehefrau und deren Kindern in einer Wohnung.

Am 05.08.2004 stellte er einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – SGB II –. Auf dem Antragsformular gab er Einkommen (Unterhalt, Ausbildungsvergütung) seiner Stiefkinder sowie das Einkommen seiner Ehefrau an. Diese erzielte nach Bescheinigung ihres Arbeitgebers ein monatlich gleich bleibendes Nettoarbeitsentgelt in Höhe von 1177,63 EUR. Auf das Antragsformular einschließlich Anlagen wird Bezug genommen.

Der Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 09.12.2004, gerichtet an den Kläger, diesem und den mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2005 in Höhe von monatlich 571,51 EUR. Auf der ersten Seite des Bescheides ist ausgeführt:

"Der Berechnung der Leistung liegen die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zu Grunde, wie sie bei der Antragstellung angegeben und nachgewiesen wurden. Neben ihnen selbst wurden die nachstehend aufgeführten Personen (Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft) bei der Berechnung berücksichtigt: "Im Folgenden ist der Name der Ehefrau des Klägers angegeben." Der Bescheid enthält dann den Hinweis: "Aus dem beigefügten Berechnungsbogen können sie entnehmen, wie sich die oben angegebenen Beträge im Einzelnen zusammen setzen." Auf Seite 2 des Bescheides folgen Erläuterungen und Hinweise und am Ende der Seite 2 ist die Rechtsbehelfsbelehrung abgedruckt. Seite 3 des Bescheides enthält weitere Hinweise und die Seiten 4 und 5 des Bescheides den Berechnungsbogen. Hier ist in der 3. Tabelle, die mit "zu berücksichtigendes monatliches Einkommen" überschrieben ist, in der Zeile Netto-/Erwerbseinkommen monatlich einen Betrag von 0,00 EUR angegeben. Entsprechende Eintragungen befinden sich in der Zeile "abzüglich Freibetrag" und in der nachfolgenden Zeile "anzusetzendes Erwerbseinkommen". In der darauf folgenden Zeile ist als Einkommen-/Kindergeld ein Betrag von 308,00 EUR angegeben, der dem Kläger und nicht der kindergeldberechtigten Ehefrau zugeordnet ist. Auf den Bescheid einschließlich Berechnungsbogen wird Bezug genommen.

Anlässlich seines Fortzahlungsantrags vom 28.06.2005 bemerkte der Beklagte, dass bei der Bewilligung für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2005 Ehegatteneinkommen nicht berücksichtigt worden war.

Der Beklagte hörte den Kläger mit Schreiben vom 29.06.2005 an und führte aus, da das Einkommen der Ehefrau bei der Berechnung irrtümlich nicht berücksichtigt worden sei, stünden dem Kläger keine Leistungen nach dem SGB II zu. Er habe die Überzahlung zwar nicht verursacht, habe jedoch erkennen können, dass die Voraussetzungen für die Leistung nicht vorgelegen hätten.

In seiner Stellungnahme führte der Kläger aus, die Überzahlung sei nicht durch sein Verschulden entstanden. Er habe in Dezember den Bewilligungsbescheid über Alg-II erhalten. Dass in dem Bescheid kein Einkommen für seine Ehefrau angerechnet worden sei, habe er nicht bemerkt.

Mit Bescheid vom 28.07.2005 nahm der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 09.12.2004 zurück und machte die Erstattung gezahlter Leistungen für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2005 in Höhe von 3429,06 EUR geltend.

Mit seinem hier gegen gerichteten Widerspruch trug der Kläger vor, er habe nach Erhalt des Bewilligungsbescheides vom 09.12.2005 feststellen müssen, dass die neue Leistung fast 400,- EUR unter den Leistungen gelegen habe, die er bis dahin bezogen hatte. Dies habe er auf die Berücksichtigung des Einkommens seiner Ehefrau zurückgeführt. Mit den ab dem 01.01.2005 erhaltenen Leistungen habe er einen Teil seiner Lebenshaltungskosten bestritten, das Geld sei verbraucht, ohne dass er Rücklagen gebildet habe.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 06.09.2005 als unbegründet zurück. Unter ausführlicher Darlegung der Rechtsgrundlagen und der Berechnungsweise wird dargelegt, aus welchem Grund dem Kläger kein Anspruch auf Leistungen zustand. Insoweit wird auf Blatt 2 bis 5 des Widerspruchsbescheides Bezug genommen. Im Anschluss wird in dem Widerspruchsbescheid aufgeführt, die Voraussetzungen für eine Aufhebung nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X lägen vor. Auf Vertrauen in die Bewilligungsentscheidung könne sich der Widerspruchsführer nicht berufen, denn er habe die Fehlerhaftigkeit der Leistungsbewilligung erkennen können und müssen, wenn er die erforderliche Sorgfalt aufgewandt hätte. Aus dem Bewilligungsbescheid sei ersichtlich, dass als Einkommen ausschließlich das Kindergeld in Höhe von 308,- EUR berücksichtigt worden sei. Das Nettoerwerbseinkommen und das anzusetzende Erwerbseinkommen sei mit 0,00 EUR angegeben worden. Es habe dem Kläger ohne Weiteres erkennbar sein müssen, dass diese Angaben nicht zutreffen könnten, da seine Ehefrau ein Nettoarbeitsentgelt in Höhe von 1177,53 EUR erzielte. Zur erforderlichen Sorgfalt eines Empfängers von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gehöre es, die diesbezüglichen Bescheide im Rahmen der Möglichkeiten wenigstens kurz auf solche Fehler hin zu überprüfen, die mit der Berechnung der Leistung unmittelbar zusammen hingen und die für den Leistungsempfänger erkennbar seien. Hätte der Kläger die Überprüfung der sich aus dem Bewilligungsbescheid ergebenden Leistungsdaten mit der erforderlichen Sorgfalt vorgenommen, so hätte er auf Grund einfacher Überlegungen insoweit die Fehlerhaftigkeit des Bewilligungsbescheides erkennen können. Es habe für ihn nicht fraglich sein können, dass das Einkommen der Ehefrau angerechnet werden müsse.

Mit der hier gegen gerichteten Klage trägt der Kläger vor, er habe nicht erkennen können und müssen, dass der Beklagte es versäumt habe, das Einkommen der Ehefrau bei der Bedarfsermittlung anzurechnen. Auch habe sich die Nichtanrechnung des Einkommens nicht aus der Angabe 0,00 EUR in der Rubrik "zu berücksichtigendes monatliches Einkommen" ergeben. Er habe davon ausgehen können, dass bestimmte Teile des Einkommens auf Grund von Freibeträgen nicht zu berücksichtigen seien, und damit das Einkommen seiner Ehefrau insgesamt nicht anzurechnen gewesen sei. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger die Rechtswidrigkeit der Bewilligung gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe, sei nicht ersichtlich.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 28.07.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.09.2005 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht er sich auf den Inhalt seines Widerspruchsbescheides. Der Kläger habe keinesfalls davon ausgehen können, dass das vollständige Einkommen bei der Berechnung der Leistung unberücksichtigt bleibe. Die Fehlerhaftigkeit der Bewilligung sei hier zu offensichtlich, zumal der Kläger auch durch die Veröffentlichungen der Bundesregierung und der Presse zumindest im Groben über die Anrechnung von Einkommen bei Beziehern von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unterrichtet gewesen sei.

Das Gericht hat den Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung am 06.09.2006 ausführlich angehört. Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den der beigezogenen Vorgänge des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 28.07.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.09.2005 ist rechtswidrig und beschwert den Kläger im Sinne des § 54 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – in seinen Rechten.

Die Voraussetzungen für die Rücknahme der Bewilligung vom 09.12.2004 und die Erstattung der in der Zeit vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2005 gezahlten Leistungen liegen nicht vor.

Insoweit ist Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Bewilligung § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – SGG X – iVm § 40 Abs 1 SGB II und § 330 SGB III. Letztere Norm sieht eine gebundene Entscheidung des Beklagten vor. Ermessen ist also – entgegen der Ansicht des Klägers – nicht auszuüben.

Nach § 45 Abs 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet, soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nach Absatz 2 nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (Satz 1). Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Satz 2). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nach Absatz 2 Satz 3 Nr 3 nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. In den Fällen des Absatzes 3 Satz 2 wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen (Absatz 4 Satz 1). Die Behörde muss dies innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen tun, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen (Absatz 4 Satz 2).

Die Bewilligungsentscheidung des Beklagten für die Zeit vom 01.01.2005 bis zum 30.06.2006 war rechtswidrig in dem og Sinn. Insoweit nimmt das Gericht auf die zutreffenden Ausführungen und sorgfältigen Begründungen des Beklagten im Widerspruchsbescheid Bezug, schließt sich diesen an und sieht nach eigener Überprüfung der Sach- und Rechtslage gem § 136 Abs 3 SGG insofern von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

Von den Tatbeständen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X kommt hier lediglich die Nr 3 in Betracht, da der Kläger - auch von dem Beklagten unbestritten - weder unrichtige noch unvollständige Angaben gemacht hat. Tatsächliche Anhaltspunkte für die Anwendung der Tatbestände Nr 1 und 2 bestehen ebenfalls nicht.

Der Kläger hatte nach seiner eigenen glaubhaften Einlassung im Termin auch keine positive Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides. Er ging nach seiner eigenen Einlassung, an deren Glaubhaftigkeit die Kammer keinen Grund zu zweifeln hat, davon aus, dass das Einkommen der Ehefrau ausweislich der ersten Seite des Bewilligungsbescheides Berücksichtigt worden sei und erklärte sich daraus die Differenz von ca 400 EUR zu dem vorherigen Arbeitslosenhilfebezug. Da der Bewilligungsbescheid tatsächlich explizit ausführt, dass das vom Kläger angegebene Einkommen der Ehefrau berücksichtigt wurde, gibt es keinen Grund, der Einlassung des Klägers nicht zu folgen.

Zur Überzeugung der Kammer steht nach Anhörung des Klägers ferner fest, dass dessen Unkenntnis über die Rechtswidrigkeit der Bewilligung nicht auf grober Fahrlässigkeit beruht.

Entgegen der von der Vertreterin der Beklagten im Termin geäußerten Rechtsauffassung kommt der Frage, ob in einem Einzelfall grobe Fahrlässigkeit vorliegt, keine grundsätzliche Bedeutung zu. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über einen Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung bedürftig und fähig ist (zB BSG, Beschluss vom 27.02.2001, B 7 AL 184/00 B, in juris). Der Frage, wann im Rahmen des § 45 SGB X von grober Fahrlässigkeit ausgegangen werden kann, kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu (BSG aaO). Wie das BSG bereits seit Jahren mehrfach entschieden hat, betrifft die Frage, ob das Verhalten eines Leistungsempfängers als grob oder nur leicht fahrlässig einzustufen ist, die tatrichterliche Würdigung im konkreten Einzelfall, nicht die Anwendung eines klärungsbedürftigen allgemeinen Rechtssatzes (vgl zB BSG aaO und Beschluss vom 4. Juli 2000, B 7 AL 4/00 B; Beschluss vom 22. März 1999, B 14 KG 17/98 B). Denn diese Frage lässt sich nicht einheitlich für alle Fälle, sondern nur von Fall zu Fall, dh nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls, beantworten (grundsätzlich BSGE 45, 180 , 181).

Grobe Fahrlässigkeit ist nach der Legaldefinition des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X nur gegeben, wenn der Kläger als Begünstigter die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (BSG, Urteil vom 08.02.2001, B 11 AL 21/00 R, SozR 3-1300 § 45 Nr 45 und FEVS 52, 494-499 und juris mwN auf BSGE 42, 184 , 187 = SozR 4100 § 152 Nr 3; BSGE 62, 32 , 35 = SozR 4100 § 71 Nr 2); dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff: BSG, Urteil vom 08.02.2001, aaO und BSGE 35, 108 , 112; 44, 264, 273 = SozR 5870 § 13 Nr 20). Bezugspunkt für das grobfahrlässige Nichtwissen ist schon nach dem Wortlaut des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes - also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde. Allerdings können "Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung", auch wenn sie nicht Bezugspunkt des grobfahrlässigen Nichtwissens sind (BSG, Urteil vom 08.02.2001, aaO; BVerwG Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr 24; vgl auch BSGE 62, 103 , 106 = SozR 1300 § 48 Nr 39), Anhaltspunkt für den Begünstigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen. Voraussetzung dafür ist aber, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind.

Letzteres ist nicht der Fall. Hierbei hat die Kammer bereits erhebliche Zweifel, ob der Berechnungsbogen wirksam Bestandteil des Bewilligungsbescheides wurde, was jedoch letztlich dahingestellt bleiben kann.

Entscheidend ist nicht, ob der Kläger dem dem Bewilligungsbescheid beigefügten Berechnungsbogen ohne weiteres hätte entnehmen können, dass kein Einkommen der Ehefrau berücksichtigt worden war. Entscheidend ist vielmehr, ob ihm unter den gegebenen Umständen eine Sorgfaltspflichtverletzung in besonders schwerem Maße vorzuwerfen ist, wenn er die Rechtswidrigkeit der Alg II Bewilligungen der Höhe nach nicht erkannte. Eine Obliegenheit, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, besteht, auch wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. In verschiedenen Zusammenhängen hat das BSG aus dem Sozialrechtsverhältnis hergeleitet, dass die Beteiligten "sich gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren" haben (vgl BSG, Urteil vom 08.02.2001, aaO mwN, BSGE 34, 124 , 127 = SozR Nr 25 zu § 29 RVO; BSGE 77, 175 , 180 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2). In die gleiche Richtung deutet die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr 24; für Beamte vgl BVerwGE 40, 212, 217). Allerdings darf ein Antragsteller, der wie vorliegend zutreffende Angaben gemacht hat, im allgemeinen nicht zu Gunsten der Fachbehörde gehalten sein, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Der Antragsteller darf davon ausgehen, dass eine Fachbehörde nach den für die Leistung erheblichen Tatsachen fragt und seine wahrheitsgemäßen Angaben zutreffend umsetzt (vgl BSG, Urteil vom 08.02.2001, aaO, BVerwGE 92, 81 , 84). Das gilt auch, soweit Antragsteller über ihre Rechte und Pflichten durch Merkblätter aufgeklärt werden, die abstrakte Erläuterungen über Voraussetzungen von Ansprüchen und deren Bemessung enthalten. Andernfalls würde Begünstigten durch Merkblätter das Risiko für die sachgerechte Berücksichtigung von eindeutigen Tatsachen durch eine Fachbehörde aufgebürdet. Auch bei der Berücksichtigung der Vielfalt von Aufgaben und der Vielzahl der zu bearbeitenden Vorgänge ist es aber gerade die Aufgabe der Fachbehörde, wahrheitsgemäße tatsächliche Angaben von Antragstellern rechtlich einwandfrei umzusetzen (vgl BSG, Urteil vom 08.02.2001, aaO unter Hinweis auf die entsprechenden Erwägungen in einem anderen, aber vergleichbaren rechtlichen Zusammenhang in BSGE 64, 233 , 236 ff = SozR 4100 § 145 Nr 4) und dies Betroffenen in der Begründung des Bescheids deutlich zu machen.

Letztlich liegt es jedoch - wie stets bei der Würdigung eines Verhaltens als grobe Fahrlässigkeit - auf tatsächlichem Gebiet, inwieweit der Begünstigte Bewilligungsbescheide zum Anlass für Richtigkeitsüberlegungen und Vorstellungen oder Hinweisen gegenüber der Behörde zu nehmen hat (BSG, Urteil vom 08.02.2001, aaO).

Ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt, ist im Wesentlichen eine Frage der Würdigung des Einzelfalles, die den Tatsachengerichten obliegt (vgl BSGE 35, 108 , 112; BSG SozR 2200 § 1301 Nr 7; BSGE 47, 180 = SozR 2200 § 1301 Nr 8; BSGE 48, 190 , 192 = SozR 2200 § 1301 Nr 11).

Dem Leistungsempfänger, der eine fehlerhafte Einkommensanrechnung nicht aus der Bescheidbegründung erkennen kann, ist grobe Fahrlässigkeit nur vorzuwerfen, wenn der Fehler ihm bei seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten aus anderen Gründen geradezu "in die Augen springt" (vergleichbar BSG, Urteil vom 08.02.2001, aaO).

Davon kann nach Auffassung der erkennenden Kammer auszugehen sein, wenn die bewilligte Leistung nach dem SGB II beispielsweise offensichtlich außer Verhältnis zu der zuvor bezogenen Sozial- oder Lohnersatzleistung – ggf zusammen mit weiteren Sozialleistungen - stände. Ein Zahlbetrag von 571,51 EUR deutet ohne nähere Kenntnis von Bemessungs- und Anrechnungskriterien bei einer erstmaligen Leistungsbewilligung nach einem neu in Kraft getretenen Gesetz nicht auf eine fehlerhafte Berechnung des Anrechnungsbetrages aus Ehegatteneinkommen hin, wenn die nunmehr bewilligte Leistung ca 400 EUR unter der zuvor bewilligten Arbeitslosenhilfe liegt, die ebenfalls eine bedürftigkeitsabhängige Leistung war, bei der Ehegatteneinkommen grundsätzlich angerechnet wurde.

Auch die fehlenden Eintragungen im Berechnungsbogen zu den entsprechenden Zeilen, in denen Einkommen, anzurechnendes Einkommen und berücksichtigtes Einkommen einzutragen gewesen wären, sind in der Gesamtbetrachtung des Bescheides kein ins Auge springender Fehler, nach dem es sich dem Kläger aufdrängen musste, dass die Bewilligung fehlerhaft war. Denn zum einen ist der Bewilligungsbescheid – gelesen mit der erforderlichen Sachkenntnis – bereits in sich widersprüchlich, da auf der ersten Seite angegeben wird, alle angegebenen Einkommen seien berücksichtigt, insbesondere das Einkommen der Ehefrau. Zum anderen fehlt es in dem Bescheid und dem Berechnungsbogen an nachvollziehbaren Angaben dazu, ob, in welchem Umfang und in welcher Höhe Einkommen anzurechnen ist. Der Kläger, der nur über einen Hauptschulabschluss verfügt, konnte nach seinen individuellen Erkenntnismöglichkeiten nachvollziehbar davon ausgehen, dass nur dann Einkommensbestandteile in dem Berechnungsbogen genannt werden, wenn sie auch zu einem Anrechnungsbetrag führen. Da der Kläger auch zuvor im einkommensabhängigen Sozialleistungsbezug stand und ihm nun um ca 400 EUR reduzierte Leistungen bewilligt wurden, konnte er nach seinem Verständnis auch davon ausgehen, dass tatsächlich alle von ihm gemachten Angaben zum Einkommen der Ehefrau berücksichtigt wurden.

Auch die Veröffentlichungen in der Presse zum Auslaufen der Arbeitslosenhilfe und Inkrafttreten des SGB II mussten ihn nicht zu einer anderen Beurteilung führen. Denn das Verfahren zur Anrechnung von Ehegatteneinkommen ist vom Gesetzgeber so kompliziert und mehrschrittig gestaltet, dass selbst ständig mit der Materie befasste und sachkundige Menschen Fehler in Bewilligungsbescheiden jedenfalls nicht anhand der Berechnungsbögen erkennen können.

Fehlt es jedoch an Anhaltspunkten für eine Fehlerhaftigkeit des Bewilligungsbescheides, hat der Kläger auch keinen Anlass gehabt, die Bemessungsfaktoren an Hand des Berechnungsbogen zu überprüfen oder bei dem Beklagten nachzufragen, um zwar erkennbare, aber nicht wahrgenommene Unstimmigkeiten aufzudecken.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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