L 4 RJ 38/04

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 32 RJ 1594/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 4 RJ 38/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. April 2004 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1947 geborene Klägerin verfügt über keine Berufsausbildung. Seit 1964 war sie als Justizangestellte, als Sachbearbeiterin und als Phonotypistin beschäftigt. Von August 1990 bis April 1992 verfolgte sie eine selbständige Tätigkeit mit einem Getränke- und Lebensmittelgeschäft. Von Oktober 1994 bis November 1995 war sie in der Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen als Bürokauffrau tätig. Zuletzt arbeitete sie im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bis zum 30. April 2001.

Am 16. Dezember 2001 beantragte die Klägerin die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung und begründete dies im Wesentlichen damit, unter einer beidhändigen Rhizarthrose zu leiden. Die Beklagte stellte das Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Antragszeitpunkt fest und veranlasste die Begutachtung der Klägerin durch den Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. R S. In seinem am 18. Januar 2002 abgeschlossenen Gutachten diagnostizierte dieser bei der Klägerin eine chronisch-obstruktive Lungenerkrankung, eine schwere Rhizarthrose beidseits, ein LWS-Syndrom, ein HWS-Syndrom, einen labilen Hypertonus, eine Refluxösophagitis bei Hiatushernie sowie eine depressive Störung. Die grobe Kraft sei an beiden Händen stark gemindert. Unter Beachtung im Einzelnen aufgeführter qualitativer Leistungseinschränkungen könne die Klägerin damit noch leichte körperliche Arbeiten für 6 Stunden und mehr täglich verrichten.

Mit Bescheid vom 24. Januar 2002 lehnte die Beklagte daraufhin die Bewilligung der Rente ab, weil die Klägerin nicht erwerbsgemindert sei.

Mit ihrem hiergegen am 12. Februar 2002 erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, seit einigen Monaten starke Beschwerden an beiden Händen zu haben. Diese seien mit starken Schmerzen verbunden und könnten nicht behoben werden. Stark beeinträchtigend seien auch die Refluxösophagitis, die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung und die depressiven Beschwerden. Aufgrund ihrer Schmerzen sei sie nicht in der Lage, noch 6 Stunden täglich zu arbeiten.

Mit Bescheid vom 7. Juni 2002 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Gegenüber der Begutachtung durch Dr. S lägen keine neuen medizinischen Erkenntnisse vor.

Hiergegen richtet sich die am 1. Juli 2002 erhobene Klage, mit der die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt. Das Sozialgericht hat zunächst ein ärztliches Gutachten für das Arbeitsamt Berlin-Mitte vom 29. April 2002 beigezogen ("Frau W. kann vollschichtig leichte körperliche Arbeiten mit Einschränkungen verrichten.") und außerdem Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt. Sodann hat es die Begutachtung der Klägerin durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie M S veranlasst. In seinem Gutachten vom 4. Oktober 2003 diagnostizierte dieser bei der Klägerin:

- Dysthymia, - chronisch-obstruktive Lungenerkrankung, - schwere Rhizarthrose beidseits, - gastro-oesophagealer Reflux mit ulcerierender Oesophagitis, - Belastungshypertonie sowie - Zustand nach Hyperventilationssyndrom.

Bei Beachtung im Einzelnen aufgeführter qualitativer Leistungseinschränkungen könne die Klägerin damit noch körperlich leichte Arbeiten verrichten. Das verbliebene psychische Leistungsvermögen reiche gegenwärtig nicht für die volle übliche Arbeitszeit von mindestens 8 Stunden täglich aus; einer täglichen Arbeitszeit zwischen 3 und 6 Stunden sei sie gewachsen. Eine psychiatrische Therapie von zunächst einem halben Jahr könne dies jedoch ändern.

Die Prüfärztin der Beklagten – Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie W – hat sich in einer Stellungnahme hierauf mit der diagnostischen Zuordnung einverstanden erklärt, die vom Gutachter vorgenommene Leistungseinschätzung jedoch für nicht nachvollziehbar erklärt. Die vorliegende depressive Störung sei lediglich leicht ausgeprägt. Die Klägerin benötige weder Konsultationen beim Nervenarzt noch antidepressive Medikation. Eine quantitative Leistungsminderung sei nicht erkennbar.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 30. Dezember 2003 hat der Gutachter S daraufhin im Wesentlichen ausgeführt: Das Leidensbild einer Dysthymia lasse keine starre Beurteilung eines verbleibenden Leistungsvermögens zu. Er bleibe bei den Feststellungen in seinem Gutachten. Innerhalb eines Behandlungszeitraumes von etwa einem halben Jahr – bei Anwendung psychiatrisch/psychotherapeutisch orientierter Therapieverfahren – sei die Klägerin aber in der Lage, die Fehlhaltung mit einer zumutbaren Willensanstrengung zu überwinden. Durch das Vorenthalten der Rente werde ihre Motivation zu einer Behandlung gefördert.

Auf dieser Grundlage hat das Sozialgericht Berlin die Klage mit Urteil vom 19. April 2004 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Zur Überzeugung der Kammer sei die Klägerin in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Der Sachverständige S habe unter Berücksichtigung der von der Klägerin angegebenen Beschwerden sowie nach ausführlicher Befunderhebung nachvollziehbar die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen und die hieraus resultierenden qualitativen Leistungseinschränkungen festgestellt. Neben der Lungenerkrankung, der Handgelenksarthrose, der Refluxkrankheit und der medikamentös eingestellten Hypertonie stehe eine psychische Erkrankung im Vordergrund, die insbesondere am Morgen mit einem nicht ausreichenden Antriebsverhalten in Folge der depressiv gefärbten Stimmungslage einhergehe, die erwarten lasse, dass eine vorgegebene Arbeitstätigkeit über einen Zeitraum von mehreren Stunden als erheblich belastend empfunden werde. Gleichwohl befinde sich die Klägerin derzeit nicht in einer ambulanten psychiatrischen Behandlung. Im Rahmen einer durchzuführenden kontinuierlichen ambulanten psychiatrischen Behandlung, einer stationären psychiatrisch/psychosomatisch orientierten Therapie bzw. einer psychosomatisch orientierten erneuten Rehabilitationstherapie sei aber innerhalb eines Behandlungszeitraumes von ca. einem halben Jahr eine signifikante Besserung des Leistungsvermögens zu erwarten. Vor dem Hintergrund, dass der Sachverständige einerseits ein drei- bis sechsstündiges Leistungsvermögen und andererseits eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit auf absehbare Zeit bei adäquater sechsmonatiger Behandlung festgestellt habe, liege weder eine volle noch eine teilweise Erwerbsminderung vor. Eine Erwerbsminderung sei nämlich erst dann rentenrechtlich relevant, wenn sie auf nicht absehbare Zeit vorliege. Anderenfalls wäre lediglich ein vorübergehender Zustand einer Arbeitsunfähigkeit gegeben. Die Klägerin, die keinen Beruf erlernt habe, sei auch nicht berufsunfähig. Sie sei als angelernte Arbeiterin anzusehen und könne damit auf jede nicht qualifizierte Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden. So komme z. B. die von der Beklagten benannte Tätigkeit einer einfachen Pförtnerin in Betracht, die leichte, im Sitzen oder im Wechsel von Sitzen und Stehen bzw. Gehen ausgeübte Arbeiten umfasse.

Gegen dieses ihr am 3. Juli 2004 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 19. Juli 2004 Berufung eingelegt. Das Sozialgericht habe ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen unzutreffend gewürdigt. Schon aus dem Gutachten des Sachverständigen S sei eine Erwerbsminderung ableitbar. Die Tätigkeit einer Pförtnerin könne sie nicht mehr ausüben.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. April 2004 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 7. Juni 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 1. Dezember 2001 Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, hilfsweise Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das mit der Berufung angegriffene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt, aber keine weiter gehenden medizinischen Ermittlungen angestellt. Von der Klägerin nach § 109 SGG benannte Ärzte (darunter die behandelnde Internistin Dipl.-Med. B) haben sich nach Anfrage des Senats nicht dazu in der Lage gesehen, ein Sachverständigengutachten zu erstellen. Zuletzt hat die Klägerin mit am 23. Oktober 2006 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom 15. August 2006 angekündigt, einen neuen Gutachter zu benennen, was jedoch nicht erfolgte.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte (2 Bände) und des Verwaltungsvorganges der Beklagten nebst ärztlichem Teil Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Entscheidungsfindung war.

II.

Der Senat kann die Berufung gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 SGG durch Beschluss zurückweisen, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 153 Abs. 4 Satz 2 SGG).

Die zulässige Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat nach eigener Sachprüfung auf die zutreffende Begründung des erstinstanzlichen Urteils Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG).

Auszuführen bleibt lediglich: Die Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung setzt nach dem Wortlaut von § 43 Abs. 1 Satz 2 bzw. Abs. 2 Satz 2 SGB VI voraus, dass der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen "auf nicht absehbare Zeit" außerstande ist, mindestens sechs bzw. drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Das nachvollziehbare und überzeugende Gutachten des Sachverständigen M S lässt keinen Zweifel daran, dass vor allen Dingen die psychische Beeinträchtigung der Klägerin nicht unabsehbar ist, sondern bei adäquater Behandlung innerhalb von etwa sechs Monaten erheblich gebessert und vollschichtige Belastbarkeit erreicht werden kann (Gutachten Bl. 19, ergänzende Stellungnahme Bl. 5).

Weitere medizinische Sachaufklärung war nicht erforderlich. Aus den vom Senat eingeholten Befundberichten gehen keine Leiden hervor, die nicht schon im erstinstanzlichen Verfahren aktenkundig waren und vom Sachverständigen gewürdigt wurden. Dasselbe gilt für den Bescheid des Versorgungsamtes vom 7. September 2006; warum damit belegt sein soll, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin "erheblich verschlechtert" habe, ist nicht ersichtlich. Die der Klägerin über geraume Zeit offen gehaltene Möglichkeit, einen Gutachter nach § 109 SGG zu benennen, ist ungenutzt geblieben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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