L 5 B 678/06 AS PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 59 AS 5610/06 PKH
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 5 B 678/06 AS PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Bei Beurteilung der Frage, ob die Beiordnung eines Rechtsanwalts erforderlich ist, dürfen im Sinne der Gewährung effektiven Rechtsschutzes keine überspannten Anforderungen gestellt werden.
Bemerkung
Ähnlich: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. Januar 2006, L 23 B 1090/05 SO PKH

Bezugnahme auf Bundesverfassungsgericht. Kammerbeschluss vom 18. Dezember 2001, 1 BvR 391/01, NZS 2002, S. 420
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juni 2006 aufgehoben. Der Klägerin wird für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin Prozesskostenhilfe ohne Zahlungsbestimmungen bewilligt und Rechtsanwalt T L, S, B, beigeordnet.

Gründe:

Die Klägerin, die am 22. Juni 2006 eine Untätigkeitsklage im Hinblick auf die Bescheidung ihres Widerspruchs vom 28. August 2005 gegen einen Bescheid des Beklagten vom 2. August 2005 erhoben hat, hat Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren. Ihre Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juni 2006 ist zulässig (§§ 172 Abs. 1, 173 SGG) und auch begründet.

Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG gelten für die Gewährung von Prozesskostenhilfe im sozialgerichtlichen Verfahren die Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) entsprechend. Danach ist einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder in Raten aufbringen kann, auf seinen Antrag Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 114 ZPO). Das angerufene Gericht beurteilt die Erfolgsaussicht im Sinne von § 114 ZPO regelmäßig ohne abschließende tatsächliche und rechtliche Würdigung des Streitstoffs; die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Für die Annahme hinreichender Erfolgsaussicht reicht "die reale Chance zum Obsiegen", nicht hingegen eine "nur entfernte Erfolgschance". Prozesskostenhilfe darf also nur verweigert werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, aber fern liegend ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 7. April 2000, 1 BvR 81/00, NJW 2000, S. 1936). Ergänzend bestimmt § 121 Abs. 2 ZPO, dass einer Partei ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt nur dann beigeordnet wird, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint.

Gemessen an diesen Maßstäben hält der die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ablehnende Beschluss des Sozialgerichts vom 28. Juni 2006 einer rechtlichen Überprüfung nicht stand, weil er die Anforderungen an die Voraussetzungen für eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe unverhältnismäßig überspitzt. Das Sozialgericht stützt seine Entscheidung ausschließlich darauf, dass die Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht erforderlich sei, weil die Klägerin eine rechtlich und tatsächlich einfach zu durchblickende Untätigkeitsklage erhoben habe. Für seine Entscheidung stützt es sich unter anderem auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1959 (BVerfGE 9, 124). Das Sozialgericht hat dabei die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Fragen der Prozesskostenhilfe außer Betracht gelassen. In einer Entscheidung aus dem Jahre 2001 (Kammerbeschluss vom 18. Dezember 2001, 1 BvR 391/01, NZS 2002, S. 420) hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem ausgeführt: Aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für die Rechtsschutzgewährung in Art. 19 Abs. 4 GG besonderen Ausdruck findet, ergibt sich das Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 78, 104 (117 f.); 81, 347 (357); st.Rspr.). Mit dem Institut der Prozesskostenhilfe hat der Gesetzgeber auch Unbemittelten einen weitgehend gleichen Zugang zu den Gerichten ermöglicht. Zwar ist das Verfahren vor den Sozialgerichten ohne Anwaltszwang und gerichtskostenfrei ausgestaltet. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist hier jedoch insofern von Bedeutung, als der Unbemittelte durch die Beiordnung des Rechtsanwalts von dessen Vergütungsansprüchen freigestellt wird. Dem Unbemittelten ist daher gemäß § 73 a SGG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 Satz 1 erste Alternative ZPO ein Rechtsanwalt dann beizuordnen, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint. ( ) Das Vorliegen der Voraussetzungen der Beiordnung eines Rechtsanwalts beurteilt sich im Einzelfall nicht nur nach Umfang und Schwierigkeit der Sache, sondern auch nach der Fähigkeit des Beteiligten, sich mündlich und schriftlich auszudrücken (vgl. BVerfGE 63, 380 (394)). Das Gericht muss erwägen, ob ein Bemittelter in der Lage des Unbemittelten vernünftigerweise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hätte. Davon ist regelmäßig dann auszugehen, wenn im Kenntnisstand und in den Fähigkeiten der Prozessparteien ein deutliches Ungleichgewicht ( ) besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 17. Februar 1997, NJW 1997, S. 2103 f.). Auch in Anbetracht des Amtsermittlungsgrundsatzes darf das Recht der Beteiligten auf Gewährung effektiven, sozial gerechten Rechtsschutzes nicht verletzt werden. Die Aufklärungs- und Beratungspflicht des Anwalts geht über die Reichweite der Amtsermittlungspflicht des Richters hinaus. Insbesondere kann der Anwalt verpflichtet sein, auch solche tatsächlichen Ermittlungen anzuregen und zu fördern, die für den Richter aufgrund des Beteiligtenvorbringens nicht veranlasst sind.

Ausgehend von diesen Grundsätzen dürfen zur Überzeugung des Senats bei der Beurteilung der "Erforderlichkeit" im Sinne von § 73 a SGG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO – ebenso wie bei Beurteilung der Erfolgsaussichten der Klage, § 73a SGG in Verbindung mit § 114 ZPO – keine überspannten Anforderungen gestellt werden (ebenso: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. Januar 2006, L 23 B 1090/05 SO PKH).

Im Falle der Klägerin kann nach Lage der Akten von einer "Waffengleichheit" nicht die Rede sein. Der Senat weist an dieser Stelle darauf hin, dass er seiner Beurteilung lediglich die sozialgerichtliche Klageakte und den Beschwerdevorgang zugrunde legen kann, weil der Beklagte den Verwaltungsvorgang trotz dreimaliger Aufforderung ohne weitere Begründung nicht zur Verfügung gestellt hat. Dies kann jedenfalls nicht zu Lasten der Klägerin gehen. Soweit der Senat sich ein Bild von dem Rechtsstreit und dem ihm zugrunde liegenden Sachverhalt machen kann, wendet die Klägerin sich gegen einen Rückforderungsbescheid, auf den hin die Beklagte laufende Leistungen nach dem SGB II einbehalten hat, die den Rückforderungsbetrag überstiegen haben. Die Klägerin macht geltend, von der Beklagten willkürlich behandelt worden zu sein und der Behörde gleichsam ohnmächtig gegenüber zu stehen. In dieser Situation hält der Senat eine anwaltliche Vertretung ohne weiteres für erforderlich, was keiner weiteren Begründung bedarf, zumal der Beklagte dem klägerischen Vorbringen zur Sache nicht entgegen getreten ist und auch auf die gerichtliche Frage, warum der Widerspruch unbeschieden geblieben sei, nicht geantwortet hat. Die von der Klägerin behauptete Willkür hat durch das Schweigen des Beklagten im Beschwerdeverfahren damit sogar eine Bestätigung erhalten.

Auch die weitere Voraussetzung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist erfüllt, denn die Klage ist nicht offensichtlich aussichtslos. Angesichts des fehlenden Verwaltungsvorgangs kann hierzu nicht mehr gesagt werden. Im Gegenteil spricht viel dafür, dass der Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 2. August 2005 ohne zureichenden Grund unbeschieden geblieben ist.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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