L 19 B 566/06 AS PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 100 AS 4460/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 19 B 566/06 AS PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Mai 2006 wird aufgehoben. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt P L mit Wirkung ab dem 19. Mai 2006 bewilligt.

Gründe:

I. Die Antragstellerin wendet sich im Hauptsacheverfahren gegen die Entziehung von Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) für die Monate Mai und Juni 2006.

Der Antragsgegner bewilligte der Antragstellerin mit Bescheid vom 13. Dezember 2005 für den Zeitraum 1. Januar 2006 bis zum 30. Juni 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes in Höhe von 383,55 Euro monatlich. Mit Schreiben vom 2. Februar 2006 übersandte der Antragsgegner der Antragstellerin zur Klärung ihrer Erwerbsfähigkeit einen ärztlichen Fragebogen und eine Schweigepflichtentbindungserklärung verbunden mit der Bitte, diese unterschrieben an das Jobcenter zu senden. Der Fragebogen enthält den Hinweis, dass alle Angaben freiwillig sind. Mit Bescheid vom 11. April 2006 entzog der Antragsgegner der Antragstellerin die weiteren Leistungen ab dem 1. Mai 2006 nach den §§ 60, 66 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) mit der Begründung, sie habe trotz des Hinweises auf die Mitwirkungspflicht und die Folgen bei fehlender Mitwirkung den Gesundheitsfragebogen ohne Angabe von Gründen nicht zurückgegeben. Dadurch sei sie ihren Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen und habe die Aufklärung des Sachverhaltes sehr erschwert. Gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 21. April 2006 Widerspruch ein.

Mit dem am 19. Mai 2006 eingegangenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrte die Antragstellerin vom dem Antragsgegner die Zahlung von 767,10 Euro bis zum 30. Juni 2006, sowie ihr Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Der ausgefüllte Fragebogen sei in einem verschlossenen Briefumschlag von einem Bekannten in den Briefkasten beim Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit am 3. März 2006 eingeworfen worden.

Das Sozialgericht Berlin hat mit Beschluss vom 30. Mai 2006 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, die Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG, welche die Antragstellerin sinngemäß beantragt habe, lägen nicht vor, da bei der im Eilverfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Entziehungsbescheides nicht bestünden, die bei einer Abwägung der Interessen ein sofortiges Vollzuginteresse des Antragsgegners in den Hintergrund treten lassen würden. Gemäß § 60 Abs. 1 SGB I unterliege einer allgemeinen Mitwirkungspflicht derjenige, der Sozialleistungen beantrage oder erhalte, indem er alle Tatsachen anzugeben habe, die für die Leistung erheblich seien. Zwischen den Beteiligten sei nicht das Bestehen einer Verpflichtung der Antragstellerin, den ihr zugesandten Gesundheitsfragebogen ausgefüllt zurückzugeben, streitig, sondern die Erfüllung ihrer Mitwirkungspflicht. Nach eigenem Vortrag habe die Antragstellerin jedoch ihre Mitwirkungspflicht durch den Einwurf in den Hausbriefkasten des Ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit nicht erfüllt, denn die Mitwirkungspflicht bestehe gegenüber dem zuständigen Leistungsträger, hier dem Antragsgegner, und nicht gegenüber dem Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit. Mit weiterem Beschluss vom 30. Mai 2006 hat es den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wegen fehlender Erfolgsaussichten abgelehnt und zur Begründung auf den Beschluss im einstweiligen Rechtsschutzverfahren Bezug genommen.

Gegen diese der Antragstellerin am 7. Juni 2006 zugestellten Beschlüsse richten sich ihre am 6. Juli 2006 eingegangenen Beschwerden. Das Sozialgericht hat der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eingelegten Beschwerde nicht abgeholfen.

Zur Begründung führt die Antragstellerin im Wesentlichen aus, der Fragebogen sei nicht in den falschen Briefkasten eingeworfen worden. Dieser sei an den Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit einzusenden gewesen, wie sich aus der oberen Hälfte des Fragebogens ergebe. Der Briefkasten sei nicht ausschließlich für den Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit bestimmt gewesen, vielmehr habe es sich um den Briefkasten des Antragsgegners gehandelt. Die Angaben in dem Fragebogen seien freiwillig gewesen. Eine fehlende Mitwirkung könne dann nicht vorgeworfen werden, wenn Angaben freiwillig geleistet werden sollen. Ihr gegenüber könne kein Vorwurf erhoben werden, wenn sie die Fragen nicht direkt gegenüber dem Antragsgegner beantwortet habe, da solche Fragen nicht hätten beantwortet werden müssen. Es sei widersprüchlich, wenn einerseits vertrauliche medizinische Informationen ausschließlich an den Ärztlichen Dienst der Agentur für Arbeit weitergegeben werden sollen, andererseits Leistungen verweigert werden, wenn dem Sachbearbeiter diese Informationen nicht vorgelegt werden.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts vom 30. Mai 2006 aufzuheben und ihr Prozesskostenhilfe für die erste Instanz zu bewilligen.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend. II. Die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Antragsstellerin steht ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe zu.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe setzt voraus, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 73 a Sozialgerichtsgesetz - SGG - i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung - ZPO -).

Diese Voraussetzungen liegen vor. Insbesondere hat der Antrag im einstweiligen Rechtsschutzverfahren entgegen der Auffassung des Sozialgerichts hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Der einstweilige Rechtschutz richtet sich im vorliegenden Verfahren nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da eine bereits bewilligte Leistung durch Verwaltungsakt entzogen wurde, so dass die - alleinige - Anfechtungsklage in der Hauptsache die richtige Klageart wäre. Der Widerspruch der Antragstellerin gegen den Entziehungsbescheid hat keine aufschiebende Wirkung nach § 86 a Abs. 1 SGG, da ein Fall des § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG vorliegt. Danach entfällt die grundsätzlich durch Widerspruch und Anfechtungsklage eintretende aufschiebende Wirkung in den durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Ein solches Gesetz stellt § 39 SGB II dar. Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine aufschiebende Wirkung. Eine Entscheidung über eine solche Leistung liegt hier vor, denn der Antragsgegner hat mit Bescheid vom 11. April 2006 der Antragstellerin die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes ab dem 1. Mai 2006 entzogen. Wenn nach § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Abs. 1 SGB II Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, kann der Antragsteller bei dem Gericht der Hauptsache bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG) beantragen und dies bei bereits vollzogenem Entzug verbinden mit dem Antrag, die Aufhebung der Vollziehung durch Auszahlung der einbehaltenen Leistung anzuordnen. Dies begehrt die Antragstellerin mit ihrem im Beschwerdeverfahren gestellten Antrag.

Bei der Entscheidung über die Gewährung einstweiligen Rechtschutzes nach § 86 b Abs. 1 SGG ist von den Gerichten eine Interessenabwägung durchzuführen. Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig und ist der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt, ist in der Regel die aufschiebende Wirkung anzuordnen, weil dann ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes nicht erkennbar ist. Ist dagegen die Klage aussichtslos, wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet. Sind die Erfolgsaussichten in dieser Weise nicht abschätzbar, bleibt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens mitberücksichtigt werden können (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 8. Auflage, § 86 b SGG, Rz. 12 c).

Im vorliegenden Verfahren bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 11. April 2006, mit dem vom Antragsgegner die Leistungen nach den §§ 60, 66 SGB I entzogen wurden. Der Bescheid begegnet schon in formell rechtlicher Hinsicht erheblichen Bedenken. Es fehlen der nach § 66 Abs. 3 SGB I erforderliche vorangegangene Hinweis auf die Folgen und die Fristsetzung.

Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhaltes erheblich erschwert, kann der Leistungsträger nach § 66 Abs. 1 SGB I ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen für die Leistung nicht nachgewiesen sind. Gemäß § 66 Abs. 3 SGB I dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf die Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.

Die Antragstellerin war nicht zuvor ordnungsgemäß im Sinne von § 66 Abs. 3 SGB I über die Rechtsfolgen belehrt worden. Das Schreiben vom 2. Februar 2006 enthält keine Informationen darüber, welche Auswirkungen das Nichtbeantworten des Gesundheitsfragebogens für ihren Anspruch auf Leistung zum Lebensunterhalt hat. Die Antragstellerin ist mit diesem Anschreiben lediglich gebeten worden, den Fragebogen auszufüllen und zurückzusenden. Auch der Fragebogen enthält keine entsprechende Belehrung. Vielmehr wird dort auf die Freiwilligkeit der Angaben in dem Fragbogen hingewiesen. Die Antragstellerin war auch nicht nach Erhalt des Schreibens vom 2. Februar 2006 auf die Folgen im Sinne von § 66 Abs. 3 SGB I hingewiesen worden. Entgegen der Angabe im Bescheid vom 11. April 2006 ist vor Erlass und Zugang dieses Bescheides kein Hinweis auf die Mitwirkungspflicht und die Folgen bei fehlender Mitwirkung erfolgt. Ein Hinweis war auch nicht ausnahmsweise entbehrlich. Dies ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes dann der Fall, wenn der Leistungsträger davon ausgehen konnte, dass der Betroffene sich der Folgen seines Verhaltens bewusst war und der schriftliche Hinweis ihn nicht zu anderem Verhalten veranlassen könnte, der Hinweis also ohne Sinn wäre (BSG, Beschluss vom 31. Januar 1979 - 11 BA 128/78 - SozR 1500 § 160 Nr. 34). Die Antragstellerin war nicht bereits in der Vergangenheit zu solchen Auskünften aufgefordert worden, die Folgen ihres Verhaltens konnten ihr daher nicht aus früheren Vorgängen bekannt gewesen sein. Der Hinweis auf die Freiwilligkeit der Angaben in dem Schreiben des Antragsgegners steht zudem einer ausnahmsweisen Entbehrlichkeit eines Rechtsfolgenhinweises entgegen. Des Weiteren war der Antragstellerin auch keine angemessene Frist zur Beantwortung des Fragebogens und damit Erfüllung der Mitwirkungspflicht im Sinne des § 66 Abs. 3 SGB I gesetzt worden.

Ob der Bescheid der Antragsgegnerin hinsichtlich der Dauer der Entziehung rechtlichen Bedenken begegnet, kann dahinstehen.

Des Weiteren ist eine Ermessensausübung im Sinne von § 39 Abs. 1 SGB I dem Bescheid nicht zu entnehmen. Dem Leistungsträger wird in § 66 Abs. 1 SGB I ein Ermessen eingeräumt, wie er im Fall der Nichterfüllung von Mitwirkungspflichten weiter verfahren will.

Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hat danach hinreichende Aussicht auf Erfolg, sodass dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu entsprechen war und die Beschwerde begründet ist.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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