L 14 B 948/06 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 34 AS 7942/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 B 948/06 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. September 2006 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die dem Antragsteller entstehenden Kosten der Unterkunft samt Heizung ab dem 12. September 2006 bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 30. Juni 2007, zu erbringen. Die Beschwerde im Übrigen wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller drei Viertel der außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Dem Antragsteller wird für das Verfahren vor dem Landessozialgericht Prozesskostenhilfe gewährt und seine Verfahrensbevollmächtigte Rechtsanwältin D B beigeordnet, Raten aus dem Einkommen oder Vermögen sind nicht zu zahlen.

Gründe:

I.

Streitig sind Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Der 1971 geborene Antragsteller mietete im Juni 2003 eine in der Bstraße gelegene Wohnung zu einer monatlichen Miete von 249 EUR. Seit Januar 2005 erhielt er vom Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II). Die Miete wurde vom Antragsgegner als Kosten der Unterkunft übernommen. Seit dem 17. Februar 2006 befindet sich der Antragsteller in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt H, als Strafende ist der 10. August 2008 notiert. Der Antragsgegner stellte die laufenden Leistungen zunächst ein, zahlte die bereits bewilligten Beträge aber dann noch bis zum 30. Juni 2006 aus.

Den Antrag auf Fortzahlung der Leistungen vom 6. Juli 2006 lehnte der Antragsgegner durch Bescheid vom 16. August 2006 ab. Es fehle der Nachweis der Bedürftigkeit, Kosten der Unterkunft seien nicht zu übernehmen, weil die Haftdauer den Zeitraum von 6 Monaten überschreite. Aufgrund einer zum 1. August 2006 in Kraft getretenen Gesetzesänderung erhalte Leistungen nach dem SGB II nicht, wer sich in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung befinde.

Mit dem am 5. September 2006 beim Sozialgericht eingegangenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt der Antragsteller, dass der Antragsgegner zur Gewährung von Leistungen verpflichtet werde. Die von der JVA erbrachten Leistungen würden sein Existenzminimum nicht sichern. Auch drohe ihm der Verlust seiner Wohnung, die Vermieterin habe das Mietverhältnis mit Schreiben vom 25. August 2006 wegen Zahlungsverzugs fristlos gekündigt. Am 18. September 2006 hat der Antragsteller erneut beim Antragsgegner Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende unter Hinweis darauf beantragt, dass er seit dem 12. September 2006 als Freigänger in einem Beschäftigungsverhältnis stehe. Das Sozialgericht Berlin hat durch Beschluss vom 27. September 2006 abgelehnt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller Leistungen zu gewähren. Nach § 7 SGB II in der ab 1. August 2006 geltenden Fassung erhalte Leistungen nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht sei, dabei sei der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ausdrücklich gleichgestellt worden. Auch die in Absatz 4 Satz 3 enthaltene Ausnahme, wonach Leistungen erhalten könne, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes wenigstens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig sei, greife nicht, weil kein Nachweis für eine entsprechende Erwerbstätigkeit des Antragstellers vorliege.

Mit Bescheid vom 6. November 2006 hat der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 104,73 EUR für die Zeit vom 18. bis 30. September 2006 und in Höhe von monatlich 6,60 EUR für die Zeit vom 1. Oktober 2006 bis 28. Februar 2007 gewährt. Es seien nur die Regelleistungen für erwerbsfähige Hilfebedürftige zu gewähren, auf die das Erwerbseinkommen des Antragstellers anzurechnen sei. Leistungen für Unterkunft und Heizung seien dagegen nicht zu erbringen.

Gegen den ihm am 27. September 2006 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Berlin richtet sich die Beschwerde des Antragstellers vom 18. Oktober 2006, mit der er weitere Leistungen begehrt. Er stehe als Freigänger in einem Beschäftigungsverhältnis. Darauf komme es indessen nicht an, weil Leistungen nach dem SGB II bereits dann zu gewähren seien, wenn die Gestaltung des Vollzugs einem Strafgefangenen die Möglichkeit biete, außerhalb der JVA einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Er (der Antragsteller) sei noch im Besitz der Wohnung. Die Vermieterin habe sich bereit erklärt, die Miete für Juli und August 2006 vergleichsweise zu regeln und auf eine fristlose Kündigung zu verzichten. Die Möglichkeit, die Wohnung weiter zu nutzen, sei ein wichtiger Anteil auf seinem Weg zur Resozialisierung. Er dürfe täglich 16 Stunden außerhalb der Justizvollzugsanstalt verbringen, ab Januar 2007 auch das gesamte Wochenende. Um diese Möglichkeit nutzen zu können, sei der Besitz der Wohnung unabdingbar.

Der Antragsteller beantragt (nach dem Sinn seines Vorbringens),

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. September 2006 aufzuheben und den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Leistungen nach dem SGB II vorläufig in voller Höhe zu bewilligen, ihm ein Darlehen in Höhe von 521,18 EUR zur Tilgung seiner Mietschulden zu gewähren und ihm für das Verfahren vor dem Landessozialgericht Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Der Anspruch des Antragstellers sei bereits teilweise anerkannt worden, Kosten der Unterkunft und Heizung könnten jedoch nicht übernommen werden.

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.

II.

Die Beschwerde hat teilweise Erfolg. Zu Unrecht hat das Sozialgericht gänzlich abgelehnt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller (weitere) Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu gewähren.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann eine einstweilige Anordnung erlassen werden, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Nach summarischer Prüfung hat der Antragsteller Anspruch auf Übernahme der Kosten der Unterkunft gegen den Antragsgegner jedenfalls ab dem 12. September 2006, und es drohen wesentliche Nachteile in der Gestalt einer fristlosen Kündigung des Mietverhältnisses, falls der Antragsgegner nicht im Wege der einstweiligen Anordnung zur Leistung verpflichtet wird.

Nach § 19 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige als Arbeitslosengeld II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Der Antragsgegner stellt selbst nicht in Abrede, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen an den Antragsteller dem Grunde nach gegeben sind. Der Anspruch ist insbesondere nicht nach § 7 Abs. 4 SGB II ausgeschlossen. Nach Satz 1 dieser Vorschrift erhält Leistungen nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, wobei der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung in Satz 2 dieser Vorschrift dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ausdrücklich gleichgestellt ist. Jedoch sind nach Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 ungeachtet der Unterbringung in einer stationären Einrichtung Leistungen zu erbringen, wenn ein Antragsteller unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist. Durch die Neufassung der Vorschrift zum 1. August 2006 (durch Gesetz vom 20. Juli 2006, BGBl. I S. 1706) hat der Gesetzgeber ausdrücklich angeordnet, dass die Inhaftierung in einer Justizvollzugsanstalt als Aufnahme in eine stationäre Einrichtung anzusehen ist, so dass grundsätzlich im Falle einer Strafhaft kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II besteht. Dem Antragsteller kommt indessen die Ausnahme des Satzes 3 Nr. 2 zugute, da er sich als Freigänger in einem Beschäftigungsverhältnis außerhalb der JVA befindet. Dagegen bestand der Anspruch (für Zeiträume ab dem 1. August 2006) nicht schon deswegen, weil dem Antragsteller die Möglichkeit gegeben worden ist, sich zur Arbeitsuche und auch sonst außerhalb der JVA zu begeben. Denn Satz 3 formuliert eine Ausnahme von den Sätzen 1 und 2 der Vorschrift. Das belegt, dass das Gesetz einen Freigänger grundsätzlich als in einer stationären Einrichtung untergebracht ansieht. Wenn nämlich bereits die Tatsache, dass ein Freigänger sich einen wesentlichen Teil des Tages (und gegebenenfalls auch der Woche) außerhalb der Justizvollzugsanstalt aufhalten darf, das Tatbestandsmerkmal der Unterbringung in einer stationären Einrichtung entfallen lassen würde, bliebe die nach dem Gesetz an die Ausübung einer Erwerbstätigkeit geknüpfte Ausnahme im Bereich der Vollzugsanstalten ohne Anwendungsbereich. Vollzugslockerungen reichen deswegen nicht aus. Erst die tatsächliche Ausübung einer Erwerbstätigkeit außerhalb der Anstalt führt dazu, dass trotz Inhaftierung in einer Strafanstalt ein Anspruch gemäß dem SGB II dem Grunde nach gegeben sein kann.

Da der Antragsteller diese Voraussetzungen seit dem 12. September 2006 indessen erfüllt, ist nicht ersichtlich, was gegen die Übernahme der laufenden Kosten der Unterkunft ab Aufnahme der Erwerbstätigkeit sprechen könnte. Der Senat hat bereits darauf hingewiesen, dass es weder unangemessen noch sonst zu beanstanden ist, wenn ein Strafgefangener, der außerhalb der Justizvollzugsanstalt regelmäßig einer Beschäftigung ohne Aufsicht eines Vollzugsbediensteten nachgehen darf, seine Wohnung beibehält und die Vollzugsanstalt nur aufsucht, soweit dies aufgrund des Strafvollzuges vorgeschrieben ist (Beschluss vom 2. Februar 2006 – L 14 B 1307/05 AS ER). Nur soweit ein Strafgefangener zum Aufenthalt in einer Vollzugsanstalt verpflichtet ist, ist sein Recht beschränkt, sein Leben in Freiheit zu verbringen. Deswegen muss er sich nicht darauf verweisen lassen, sich "freiwillig" in Haft zu begeben, damit seine Bedürftigkeit beseitigt werde. An dieser Auffassung hält der Senat fest. Der Antragsteller hat auch rechtzeitig, nämlich am 6. Juli 2006, einen Antrag auf Fortzahlung gestellt, so dass mit Änderung der Verhältnisse (Aufnahme der Erwerbstätigkeit) ein Anspruch auf Übernahme der Kosten der Unterkunft entstanden ist. Der Antrag war am 12. September 2006 auch nicht bestandskräftig abgelehnt, da der am 5. September 2006 bei Gericht eingegangene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als Widerspruch gegen den Bescheid vom 16. August 2006 anzusehen ist.

Der Senat hat indessen davon abgesehen, den Antragsgegner einstweilen auch zur Übernahme der in der Vergangenheit (ab Juli 2006) aufgelaufenen Mietschulden zu verpflichten. In der seit dem 1. August 2006 maßgebenden Fassung des Gesetzes ist die Leistungspflicht des Antragsgegners wegen der Inhaftierung bis zum 11. September 2006 dem Grunde nach ausgeschlossen gewesen (vgl. § 7 Abs. 4 SGB II in der Fassung des Gesetzes vom 20. Juli 2006, BGBl. I S. 1706). Dies spricht gegen eine Übernahme der Mietschulden entsprechend § 22 Abs. 5 SGB II. Über Ansprüche für Zeiträume vor dem 1. August 2006 war nicht zu entscheiden, weil der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erst nach der Gesetzesänderung bei Gericht eingegangen ist. Da der Antragsteller überdies hat vortragen lassen, dass er sich für Juli und August mit seiner Vermieterin habe vergleichen können, ohne auf Leistungen des Antragsgegners angewiesen zu sein, besteht für Zahlungen für die Vergangenheit auch weder Notwendigkeit noch Eilbedürftigkeit.

Soweit der Antragsteller höhere Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 22 SGB II begehrt, hat seine Beschwerde keinen Erfolg. Entsprechend § 11 Abs. 2 SGB II hat der Antragsgegner mit Recht das Arbeitseinkommen des Antragstellers als bedarfsmindernd berücksichtigt. Nach Aktenlage ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass Anspruch auf höhere Leistungen als die gewährten 6,60 EUR monatlich (Bescheid vom 6. November 2006) besteht. Zwar hat der Antragsgegner bei der Berechnung des anzurechnenden Einkommens Fahrtkosten (Monatskarte) nicht in vollem Umfang als sonstige mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgaben (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 3 Arbeitslosengeld II/Sozialgeldverordnung – Alg II-VO - ) in Abzug gebracht. Auf der anderen Seite sind Haftkosten und Überbrückungsgeld einkommensmindernd berücksichtigt worden, ohne dass offensichtlich wäre, unter welche der in §§ 11 Abs. 2 SGB II, 3 Alg II VO geregelten Tatbestände sie fallen. Jedenfalls besteht für eine Verpflichtung zur Zahlung weiterer Regelleistungen kein Anordnungsgrund. Denn dem Antragsteller sind im Juni 2006 bereits bewilligte (Regel )Leistungen in Höhe von 690,- Euro nachgezahlt worden. Er befand sich indessen seit dem 17. Februar 2006 in Strafhaft, wo sein Lebensbedarf (auch) durch Anstaltsleistungen gesichert wurde. Deswegen ist davon auszugehen, dass (noch) freie Mittel vorhanden sind. Aus diesem Grund hat der Senat weiter davon abgesehen, den Antragsgegner einstweilig zu Regelleistungen (auch) für die Zeit vom 12. – 17. September 2006 zu verpflichten. Für Regelleistungen vor dem 12. September 2006 gibt es im SGB II in der ab dem 1. August 2006 geltenden Fassung ohnehin keine Rechtsgrundlage.

Nach alledem war der Antragsgegner zur Übernahme der laufenden Kosten der Unterkunft zu verpflichten. Im Übrigen war die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass der Antragsteller im Wesentlichen erfolgreich gewesen ist.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Verfahrensbevollmächtigten an den – bedürftigen – Antragsteller für das Verfahren vor dem Landessozialgericht beruht auf den §§ 114 der Zivilprozessordnung, 73a SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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