L 10 B 686/07 AS ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 53 AS 6807/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 B 686/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. April 2007 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten

Gründe:

I.

Der 1952 geborene erwerbsfähige Antragsteller (Ast) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens im Rahmen der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) eine Verpflichtung der Antragsgegnerin (Ag) nicht nur die von der Ag als angemessen erachteten, sondern die vollen tatsächlichen Unterkunftskosten zu übernehmen.

Der Ast bewohnt eine 129,74 qm große Wohnung im Haus F A, die er von 1999 bis 2004 teilgewerblich und seit 01. Oktober 2004 ausschließlich zu Wohnzwecken alleine nutzt. Die Nettokaltmiete beträgt 596,68 EURO zuzüglich 178,30 EUR Betriebskostenvorauszahlung und 187,20 EUR Heizkostenvorauszahlung.

Der Ast steht seit 01. Januar 2005 im Leistungsbezug der Ag. Bereits im April 2005 räumte er in einem Gespräch bei der Ag ein, dass er wisse, dass die Wohnung zu groß und zu teuer sei.

Mit Bescheiden vom 27. Juni 2006 bewilligte die Ag dem Ast für die Zeit vom 01. August 2006 bis 30. September 2006 und vom 01. Oktober 2006 bis 31. März 2007 monatliche Leistungen in Höhe von 1.328,86 EUR (Regelleistung 345,00 EUR, Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung 30,68 EUR, Kosten der Unterkunft und Heizung 953,18 EUR). Mit Schreiben vom 27. Juni 2006 wies die Ag den Ast darauf hin, dass die Miete den Richtwert der Ausführungsvorschriften zur Ermittlung angemessener Kosten der Wohnung gemäß § 22 SGB II (AV-Wohnen) übersteige. Daraufhin übersandte der Ast den Bescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales – Versorgungsamt vom 31. Mai 2005, worin ihm aufgrund der Leberzirrhose und Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 zuerkannt worden war.

Mit als "Bescheid über die Absenkung der Kosten der Unterkunft" überschriebenen Schreiben vom 05. September 2006 teilte die Ag dem Ast mit, sie werde die tatsächlichen Aufwendungen der Unterkunft nur noch bis zum 28. Februar 2006 (gemeint war 28. Februar 2007) übernehmen. Mit weiterem Bescheid vom 05. September 2006 senkte die Ag die bewilligten Leistungen für die Zeit vom 01. bis 31. März 2007 auf 735,68 EUR (Regelleistung 345,00 EUR, Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung 30,68 EUR, Kosten der Unterkunft und Heizung 360,00 EUR) monatlich ab. Gegen beide Bescheide hat der Ast Widerspruch eingelegt. Der Widerspruch gegen den Änderungsbescheid vom 05. September 2006 ist noch nicht beschieden.

Mit Bescheid vom 07. März 2007 bewilligte die Ag dem Ast für die Zeit vom 01. April bis 30. September 2007 Leistungen in Höhe von 735,68 EUR (Regelleistung 345,00 EUR, Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung 30,68 EUR, Kosten der Unterkunft und Heizung 360,00 EUR) monatlich.

Der Ast hat am 16. März 2007 einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes mit dem Ziel gestellt, die Ag solle die tatsächlichen Unterkunftskosten iHv 935,18 EUO monatlich weiterhin erbringen, und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Nach Auffassung der Ag ist es dem Ast möglich und zumutbar, die Kosten der Unterkunft zu senken. Vorliegend sei von einer Überschreitung der Angemessenheitsgrenze der AV-Wohnen in Höhe von monatlich 602,18 EUR auszugehen.

Mit Beschluss vom 16. April 2007 hat das Sozialgericht (SG) Berlin die Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Hinsichtlich des Monats März sei der Antrag dahingehend umzudeuten, dass begehrt werde, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Ag vom 05. September 2006 anzuordnen. Dieser Antrag sei zulässig, aber unbegründet. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit würden nicht bestehen. Die Voraussetzungen für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) lägen vor. Eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse sei ab 01. März 2007 eingetreten, da der Bestandsschutz für die Anerkennung unangemessener Unterkunftskosten abgelaufen sei. Der sinngemäße weitere Antrag, den Ag im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Ast ab April 2007 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung seiner tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung zu zahlen, sei ebenfalls unbegründet. Insofern fehle es an einem Anordnungsanspruch.

Hiergegen richtet sich die am 30. April 2007 erhobene Beschwerde, mit der der Ast geltend macht, umzugsunfähig erkrankt zu sein.

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die Beschwerde ist statthaft, sie ist form- und fristgerecht gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erhoben.

Die Beschwerde ist im Ergebnis unbegründet.

Zu Recht hat das SG Berlin bei dem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes unterschieden zwischen der Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten für den Monat März auf der einen Seite und für den folgenden Zeitraum auf der anderen Seite.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Ein Anordnungsanspruch – die Rechtsposition, deren Durchsetzung im Hauptsacheverfahren beabsichtigt ist – sowie der Anordnungsgrund – die Eilbedürftigkeit der begehrten Regelung – sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)).

Hinsichtlich der laufenden Übernahme von Kosten der Unterkunft (KdU) ab dem 01. April 2007, die über 360,00 EUR hinausgehen, fehlt es am Anordnungsgrund, soweit geringfügig höhere Leistungen aus Rechtsgründen denkbar sind; es fehlt am Anordnungsanspruch, soweit weitergehend die tatsächlichen Kosten der derzeit bewohnten Wohnung beansprucht werden.

Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden KdU in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Die Prüfung der Angemessenheit der KdU setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 10/06, abrufbar unter www.sozialgerichtsbarkeit.de) eine Einzelfallprüfung voraus. In einem ersten Schritt ist die maßgebliche Größe der Unterkunft typisierend anhand der landesrechtlichen Ausführungsbestimmungen über die Förderung des sozialen Mietwohnungsbaus zu bestimmen. Sodann ist der Wohnstandard festzustellen, wobei dem Hilfebedürftigen lediglich ein einfacher und im unteren Segment liegender Ausstattungsgrad der Wohnung zusteht. Als Vergleichsmaßstab ist regelmäßig die Miete am Wohnort heranzuziehen. Dabei ergibt sich die (abstrakt) angemessene Höhe der Unterkunftskosten als Produkt aus der für den Leistungsempfänger typisierend angemessenen Wohnfläche und dem nach den örtlichen Verhältnissen angemessenen Mietzins pro Quadratmeter (sog. Produkttheorie; BSG, Urteil vom 07. November 2006 – B 7b AS 10/06). In Berlin kann für die Berechnung des Produktes im ersten Rechenschritt auf die geltenden Bestimmungen für den sozialen Wohnungsbau (1. Förderungsweg) sowie die in Umsetzung von § 5 Wohnungsbindungsgesetz (WoBindG) iVm § 27 Abs. 1 bis 5 Wohnraumförderungsgesetz (WoFG) erlassenen Arbeitshinweise der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung vom 15. Dezember 2004 (Mitteilung Nr 8/2004) zurückgegriffen werden (vgl. Beschluss des Senats vom 18. Dezember 2006, L 10 B 1091/06 AS ER, abrufbar unter www.sozialgerichtsbarkeit.de). Nach Zif. 8 Abs. 1 der zuvor genannten Arbeitshinweise der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung wird in B für die Erteilung von Wohnberechtigungsscheinen die maßgebliche Wohnungsgröße nach der Raumzahl bestimmt, wobei halbe Zimmer als ganze Räume rechnen und eine Wohnung idR als angemessen anzusehen ist, wenn auf jeden Haushaltsangehörigen ein Wohnraum entfällt. 2-Zimmer-Wohnungen mit einer Gesamtwohnfläche bis zu 50 qm dürfen auch an Einzelpersonen überlassen werden; 1½-Zimmer-Wohnungen dürfen unabhängig von ihrer Gesamtwohnfläche an Einzelpersonen überlassen werden. Weiterhin können die Werte der zuletzt im Land B maßgeblichen Richtlinien für den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau in B (Wohnungsbauförderungsbestimmungen 1990 – WFB 1990-) vom 16. Juli 1990 (Amtsblatt für Berlin 1990, 1379, 1388) in der Fassung der Verwaltungsvorschriften zur Änderung der WFB 1990 vom 13. Dezember 1992 (VVÄndWFB 1990, Amtsblatt für Berlin 1993, 98f) herangezogen werden, wonach im 1. Förderungsweg für 1½-Zimmer-Wohnungen eine maximale Wohnfläche von 50 qm als förderungswürdig anerkannt worden ist (Abschnitt ii Zif 1 Buchst a) der Anlage 1 zur WFB 1990 iVm Zif 13 VVÄndWFB 1990). Unter Berücksichtigung dieser Regelungen überschreitet die abstrakt zu ermittelnde angemessene Wohnfläche für Ein-Personen-Haushalte jedenfalls nicht den Wert von 50 qm. Da auch bei Annahme einer typisierend maximal angemessenen Wohnfläche von 50 qm die Beschwerde keinen Erfolg hat, kann für die Belange des vorliegenden einstweiligen Rechtschutzverfahrens vorliegend offen bleiben, ob auch eine geringere Wohnfläche als angemessen gelten kann.

Selbst wenn man weiter zu Gunsten des Klägers nicht von dem jeweils unteren Segment der für die einzelnen Baujahrsgruppen maßgeblichen Spannen ausgeht, sondern von einem gewichteten Mietspiegelwert von 4,49 Euro pro qm Wohnfläche (vgl. Berliner Wohnungsmarktbericht 2005) und durchschnittlichen "warmen" Betriebskosten von 2,74 Euro pro qm (vgl. Beschluss des Senats vom 18. Dezember 2006, aaO), so ergibt sich ein Betrag, der nicht wesentlich abweicht von den hier von der Ag in Anwendung der AV-Wohnen (deren Werte die Rechtsanwendung der Gerichte nicht binden (Beschluss des Senats vom 18. Dezember 2006, aaO)) von 360,00 EUR. Im Hinblick auf eine allenfalls geringfügige Besserstellung gegenüber der Bewilligungsentscheidung vom 7. März 2007 ist eine besondere Dringlichkeit des Anliegens nicht festzustellen, zumal eine unwesentlich höhere Leistung nicht dazu führen könnte, dass der Ast die derzeit bewohnte Wohnung auf Dauer "halten" kann. Dass im Rahmen der konkreten Angemessenheitsprüfung bedarfsgerechter und kostengünstigerer Wohnraum konkret verfügbar und zugängig ist, zieht der Senat ebenso wenig wie der Ast in Zweifel.

Mit seinem Vortrag zu gesundheitlichen Einschränkungen macht der Ast keinen Anordnungsanspruch (und in der Folge einen Anordnungsgrund) auf Zahlung höherer KdU glaubhaft. Ob und unter welchen Voraussetzungen im Einzelnen in der Sache unangemessene KdU (ggf. zeitweise) im Hinblick auf gesundheitliche Gegebenheiten als angemessen gelten können – zu denken wäre daran, zu dieser Wertung zu greifen, wenn und solange dem Berechtigten ein Umzug unmöglich oder gänzlich unzumutbar ist – bedarf hier keiner vertieften Erörterung, denn mit seinem Vortrag verfehlt der Ast jedenfalls die Anforderungen. Bei einer so extremen Abweichung der tatsächlichen Kosten von den angemessenen, wie sie hier festzustellen ist, kommen als einen Umzug zeitweise entgegenstehende Gründe nur gravierende gesundheitliche Defizite in Betracht. Derartige Gründe lassen sich hier dem Vortrag des Ast nicht entnehmen, der in der Sache nur Diagnosen mitteilt, ohne aktuelle funktionale Beeinträchtigungen zu verdeutlichen.

Auch hinsichtlich der Unterkunftskosten für den Monat März hat die Beschwerde im Ergebnis keinen Erfolg. Das SG hat insoweit den Antrag zutreffend umgedeutet in einen Antrag nach § 86 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Ein solcher Antrag auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches gegen den Aufhebungsbescheides vom 05. September 2006 ist gegenüber dem Vornahmebegehren vorrangig und schöpft das Begehren des Ast aus, da er bei Erfolg dieses Antrages die Auszahlung eines weiteren Betrages für die Unterkunftskosen (so wie mit Bescheid vom 27. Juni 2006 bewilligt) verlangen kann. Insofern mangelt es an der Glaubhaftmachung eines besonderen Eilbedürfnisses, das nach ständiger Rechtsprechung des Senats auch Voraussetzung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist (vgl. Beschluss des Senats vom 4. Mai 2007, L 10 B 402/07 AS ER). Da der Ast – wie dargelegt – keinen Anspruch auf höhere KdU für Zeiträume ab dem 1. April 2007 hat, würde eine Zahlung der vollen Kosten allein für März 2007 nicht dazu führen, dass er seine Wohnsituation dauerhaft erhalten kann. Für ein unabhängig von der Wohnsituation bestehendes besonderes Nachholbedürfnis, das unabdingbare Voraussetzung dafür ist, Geldleistungen für vergangene Zeiträume im einstweiligen Verfahren zu erstreiten, hat der Ast nichts vorgetragen.

Da im Ergebnis im vorliegenden Verfahren keine rückwirkende Leistung für den Monat März zu gewähren sind, kann vorliegend offen bleiben, ob sich die Änderung eines bereits erteilten Bewilligungsbescheides nach Ablauf einer durch den SGB II – Träger eingeräumten Frist zur Senkung der Unterkunftskosten nach § 40 Abs. 1 SGB II iVm § 330 Abs. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III), § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) oder im Hinblick darauf, dass die KdU bereits bei Bescheiderteilung unangemessen waren, nach § 40 Abs. 1 SGB II iVm § 330 Abs. 2 SGB III, § 45 SGB X richtet; dies ist allein für das Hauptsacheverfahren und insoweit für die Fragestellungen von Bedeutung, unter welchen Voraussetzungen Vertrauensschutz und der Notwendigkeit von Ermessenserwägungen zu beurteilen sind.

Auch die Beschwerde gegen die Ablehnung der Prozesskostenhilfe ist unbegründet, da der beabsichtigten Rechtsverfolgung keine hinreichende Erfolgsaussicht beizumessen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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