S 13 KN 9/07

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 KN 9/07
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe der Erwerbsminderungsrente ab 01.10.2005.

Der am 00.00.0000 geborene Kläger beantragte am 12.09.2005 Rente wegen voller Erwerbsminderung. Aufgrund eines im Verfahren S 5 KN 43/06 (Sozialgericht Aachen) geschlossenen Vergleichs bewilligte die Beklagte durch Bescheid vom 07.12.2006 - ausgehend von einer seit 12.09.2005 bestehenden Erwerbsminderung - Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab 01.10.2005. Die Höhe dieser Rente bestimmt die Beklagte nach einem verminderten Zugangsfaktor von 0,892.

Dagegen legte der Kläger am 02.01.2007 Widerspruch ein. Er hielt den durch den verminderten Zugangsfaktor bedingten Rentenabschlag für rechts- und verfassungswidrig und verwies auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R.

Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 08.03.2007 - zugegangen am 22.03.2007 - zurück mit der Begründung, das Recht bei der Berechnung der Rente richtig angewandt zu haben. Entgegen dem Urteil des BSG vom 16.05.2006 sei die Vorschrift des § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI nicht als Grundregel (Ausschlussregel), sondern als bloße Berechnungsregel für Erwerbsminderungsrenten zu verstehen, die vor Vollendung des 60. Lebensjahres geleistet würden. Dies habe zur Folge, dass der Zugangsfaktor auch für den Zeitraum vor Vollendung des 60. Lebensjahres um den Abschlag zu mindern sei. Dies ergebe sich bereits bei isolierter Betrachtung dieser Vorschrift, folge aber auch aus ihrer Auslegung im Kontext des § 77 Abs. 3 SGB VI sowie unter Berücksichtigung des in den Gesetzesmaterialien zum Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 (EM-ReformG) zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers. Zudem führe die Ansicht des BSG dazu, dass eine zuvor unverminderte Rente allein mit Vollendung des 60. Lebensjahres um 10,8% gekürzt werde. Eine solche Rentenkürzung ohne jegliche Änderung in den Verhältnissen sei dem Rentenrecht jedoch bisher nicht bekannt und stehe im Widerspruch zu der Regelung des § 88 Abs. 1 SGB VI.

Dagegen hat der Kläger am 16.04.2007 Klage erhoben.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 07.12.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.03.2007 zu verurteilen, ihm ab 01.10.2005 höhere Rente wegen Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit übereinstimmend einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Die Beklagte hat bei der Bewilligung der Erwerbsminderungsrente ab 01.10.2005 das Recht richtig angewandt und zahlt die Rentenleistungen in richtiger Höhe.

Die Beklagte hat sich bei der Berechnung der Rente und bei der Bestimmung des Zugangsfaktors zu Recht auf das ab 01.01.2001 geltende Rentenrecht in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 - BGBl. I S. 1827 - gestützt. Sie hat den für die Erwerbsminderungsrente maßgeblichen Zugangsfaktor richtig mit 0,892 bestimmt, indem sie in Anwendung von § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) den Regel-Zugangsfaktor 1,0 für 36 Monate um je 0,003, insgesamt also um 0,108 niedriger angesetzt hat.

Zwar entspricht die Rentenberechnung der Beklagten nicht der Auffassung des BSG im Urteil vom 16.05.2006 (B 4 RA 22/05 R). Jedoch hat die 8. Kammer des Sozialgerichts Aachen durch Urteil vom 09.02.2007 (S 8 R 96/06) die dem BSG nicht folgende Praxis der Rentenversicherungsträger als mit dem Gesetz in Einklang stehend erkannt und ist der Ansicht des BSG nicht gefolgt. Sie hat dies wie folgt begründet:

"Allerdings entspricht die Entscheidung der Beklagten nicht dem Urteil des BSG vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R -. Nach dieser Entscheidung unterliegen Erwerbsminderungsrentner, die - wie der Kläger - bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Rentenabschlägen nur, wenn sie Rente über das 60. Lebens-jahr hinaus beziehen. Das BSG interpretiert die für die Berechnung des Zugangs-faktors maßgebende Vorschrift des § 77 SGB VI entsprechend: Gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI ist der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalen-dermonats der Vollendung des 63. Lebensjahrs in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, ist gemäß § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI die Vollen-dung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend. Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten gilt gemäß § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnah-me. Nach der Rechtsprechung des 4. Senates des BSG seien Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres vom Gesetz gerade nicht als Zeiten eines "vorzeiti-gen Rentenbezuges" bestimmt. Allein eine derartige Interpretation sei verfassungs-gemäß. Die Verminderung des Zugangsfaktors durchbreche das "Prinzip der Vor-leistungsbezogenheit der Rente". Dieses Prinzip werde technisch im Gesetz dadurch verwirklicht, dass der Zugangsfaktor grundsätzlich als Faktor 1,0 anzusetzen und damit rechnerisch ohne Bedeutung für Rentenberechnung sei. Jede Durchbrechung des Prinzips der Vorleistungsbezogenheit der Rente bedürfe der ausdrücklichen Bestimmung durch ein verfassungsgemäßes Gesetz. Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem die Erwerbsminderungsrente "vorzeitig" in Anspruch genommen wird, könne ohne verfassungswidrige Willkür eine Nichtbeachtung der Vorleistung, die der Versicherte für die Rentenversicherung erbracht hat, in Betracht kommen. Nur eine vorzeitige Inanspruchnahme sei ein Sachgrund für die "Nichtberücksichtigung eines Teils der Vorleistung". Die am 01. Januar 2001 in Kraft getretene Neufassung des § 63 Abs. 5 SGB VI, wonach Vorteile und Nachteile einer unterschiedlichen Rentenbezugsdauer durch einen Zugangsfaktor vermieden werden, beziehe sich nur auf die Zeit ab Vollendung des 60. Lebensjahrs. Erst ab diesem Zeitpunkt seien Ausweichreaktionen aus der nur bei Inkaufnahme von Abschlägen in Anspruch zu nehmenden vorzeitigen Altersrente auf die Erwerbsminderungsrente denkbar. Da prägender Leitgedanke für die Einbeziehung der Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in die Regelungen über den Zugangsfaktor gewesen sei, die Höhe der Erwerbsminderungsrente an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrente anzupassen, werde auch durch die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zur Reform der Erwerbsminderungs-renten bestätigt, dass eine Reduzierung des Zugangsfaktors erst ab Vollendung des 60. Lebensjahrs in Betracht kommt. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass ebenfalls ab 01.01.2001 die Zurechnungszeiten für die Versicherten, die bereits vor Vollendung des 60. Lebensjahrs erwerbsgemindert sind und Rente beziehen, verlängert wurden.

Die Entscheidung des BSG ist zu Recht in der Literatur auf Kritik gestoßen (Plagemann, in: JurisPR-SozR 20/2006; von Koch/Kolakowski, SGb 2007, 71 f.) und die Rentenversicherungsträger folgen der Entscheidung zu Recht nicht: Die Entscheidung steht im Widerspruch zur - soweit ersichtlich - unbestrittenen Auffassung in der gesamten Rentenliteratur (vgl. nur Polster, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 77 SGB VI Rdnr. 21; Silber in: LPK-SGB VI, § 77 Rdnr. 8; Plagemann a.a.O. mit zahlreichen weiteren Nachweisen).

Die Kammer entnimmt bereits der gesetzlichen Formulierung, dass die auch im angefochtenen Bescheid angewandte Verwaltungspraxis der Beklagten durch den Gesetzgeber angeordnet ist, so dass bei Annahme einer Verfassungswidrigkeit eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Artikel 100 Abs. 1 GG geboten gewesen wäre: Gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI ist die Verminderung des Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahrs in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. Diese Vorschrift ist für sich genommen nicht ausreichend, weil sie zur Folge haben könnte - wie auch das BSG in der genannten Entscheidung darlegt -, dass der Zugangsfaktor auf 0 absinkt und deshalb keine Rente bewilligt würde. Deshalb musste das Gesetz eine Regelung dazu vorsehen, welcher Abschlag maximal vom Versicherten in Kauf genommen werden muss. Diese Regelung ist in § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI enthalten: Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, ist die Vollendung des 60. Lebensjahrs für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend. Hieraus ergibt sich, dass die Verminderung des Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahrs auf 36 x 0,003 = 0,108 begrenzt ist. Nur insoweit - also hinsichtlich der Berechnung der höchstmöglichen Reduzierung des Zugangsfaktors - bestimmt § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI, dass die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahrs des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme gilt (in diesem Sinne auch: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.12.2006 - L 2 R 466/06 ER -; zur Bedeutung von § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI für § 77 Abs. 3 SGB VI näher von Koch/Kolakowski a.a.O.).

Diese sich aus dem Wortlaut des Gesetzes ergebende Interpretation wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt: Durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 (BGBl. I, 1827) sollte die Höhe der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit an die der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten angepasst werden (BT-Drucksache 14/4230 Seite 1, 26). Zwar war Sinn der Neuregelung auch, Ausweichreaktionen von den Altersrenten, die nur bei Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Anspruch genommen werden können, in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegen zu wirken (BT-Drucksache 14/4230, Seite 26 zu Nr. 22). Insofern ist dem BSG dahingehend Recht zu geben, dass eine solche Ausweichreaktion nur bei Personen stattfinden kann, die das 60. Lebensjahr vollendet haben. Dennoch hat der Gesetzgeber generell zum Ziel gehabt, Vorteile eines längeren Rentenbezuges durch einen verminderten Zugangsfaktor auszugleichen (BT-Drucksache 14/4230, Seite 26 zu Nr. 16). Der Gesetzesbegründung ist an keiner Stelle zu entnehmen, dass ein solcher verminderter Zugangsfaktor lediglich für Versicherte gelten soll, die das 60. Lebensjahr vollendet haben. Im Gegenteil geht die Gesetzesbegründung generell davon aus, dass die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen Altersrenten in der Weise angeglichen wird, dass die Renten mit einem Abschlag von höchstens 10,8 % versehen werden (BT-Drucksache 14/4230 Seite 24). Aus dieser Formulierung ist zwar nur indirekt aber dennoch zwingend zu entnehmen, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass die Verringerung des Zugangsfaktors auch Erwerbsminderungsrenten erfasst, die vor Vollendung des 60. Lebensjahrs in Anspruch genommen werden. Denn eine Begrenzung des "Abschlags" auf höchstens 10,8 % braucht nur dann ausdrücklich erwähnt zu werden, wenn sich ohne eine ausdrückliche entsprechende Formulierung ein höherer Abschlag errechnen könnte. Dies ist bei isolierter Betrachtung von § 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI - wie dargestellt - der Fall. Schließlich ist das Ergebnis der Rechtsprechung des BSG nicht mit der ebenfalls durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eingeführten, ab 01.01.2001 geltenden Verlängerung der Zurechnungszeit - von der auch der Kläger profitiert - zu vereinbaren. Bis zum 31.12.2000 endete gemäß § 59 Abs. 3 SGB VI a. F. die Zurechnungszeit mit dem Zeitpunkt, der sich ergibt, wenn die Zeit bis zum vollendeten 55. Lebensjahr in vollem Umfang, die darüber hinausgehende Zeit bis zum vollendeten 60. Lebensjahr zu einem Drittel hinzugerechnet wird. Seit dem 01.01.2001 endet die Zurechnungszeit gemäß § 59 Abs. 2 Satz 2 SGB VI erst mit Vollendung des 60. Lebensjahrs. Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers (BT-Drucksache 14/4230 Seite 24, 26) sollten die Auswirkungen der Verminderung des Zugangsfaktors dadurch abgemindert werden, dass die Zeit zwischen dem vollendeten 55. und 60. Lebensjahr künftig voll als Zurechnungszeit angerech-net wird. Die Kammer hält es nicht für angängig, entgegen dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers bei einem Regelungskomplex - hier dem Zusammenspiel der Verlängerung der Zurechnungszeit mit der Verminderung des Zugangsfaktors - einen Teil des Regelungskomplexes für verfassungswidrig zu erklären, den anderen – begünstigenden - Teil hingegen unangetastet zu lassen (ebenso Plagemann a.a.O.). Dann nämlich würde - vollständig entgegen der Intention des Gesetzgebers - anstelle einer Verminderung der vorzeitigen in Anspruch genommenen Erwerbsmin-derungsrenten deren Erhöhung die Folge sein.

Wegen der Verlängerung der Zurechnungszeit hält die Kammer schließlich den verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt der Argumentation des BSG nicht für stichhaltig (ebenso von Koch/Kolakowski a.a.O.): Das BSG hält den Zugangsfaktor von 1,0 wohl aufgrund des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG für verfassungsrechtlich geboten. Voraussetzung für einen Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen nach Art. 14 Abs. 1 GG ist eine vermögenswerte Rechtsposition, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechtes dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet ist. Diese genießt den Schutz der Eigentumsgarantie dann, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruht (zum Schutz sozialversicherungsrechtliche Ansprüche durch Art. 14 Abs. 1 GG vgl. BVerfG, Urteil vom 16.07.1985 - 1 BvL 5/80 = BVerfGE 69, 272 (300 f.); Lenze, NRW 2003, 1427; Neumann, NZS 1998, 401). Das BVerfG hat hierbei einen abgestuften Eigentumsschutz entwickelt: In dem durch Beitragsäquivalenz geprägten Leistungsbereich ist der Eigentumsschutz intensiver, als im sonstigen Bereich der Bewilligung von Leistungsanteilen ohne oder mit nur geminderter Beitragsleistung, hier verfügt der Gesetzgeber über einen weiteren Gestaltungsspielraum (zu Ausbildungs-Ausfallzeiten: BVerfG, Beschluss vom 01.07.1981 – 1 BvR 874/77 = BVerfGE 58, 81 = SozR 2200 § 1255a Nr. 7). Das Prinzip der Beitragsbezogenheit des Eigentumsschutzes rentenversicherungsrechtlicher Positionen wurde jüngst durch das BVerfG in der Entscheidung vom 13.06.2006 (1 BvL 9/00 ) bestätigt. Nach dieser Entscheidung unterliegen die durch das Fremdrentengesetz begründeten Anwartschaften nicht dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, wenn ihnen ausschließlich Beitrags- und Beschäftigungszeiten zugrunde liegen, die in den Herkunftsgebieten erbracht oder zurückgelegt wurden. Bei der Anerkennung der Zurechnungszeit und insbesondere auch deren Verlängerung handelt es sich um dem Kläger zugute kommende rentenrechtliche Zeiten, die nicht auf Beitrags- und Beschäftigungszeiten beruhen. Wenn auch für einen Versicherungsverlauf, in dem derartige Zeiten enthalten sind, der ungeminderte Zugangsfaktor von 1,0 verfassungsrechtlich geboten wäre, würden auch diese Zeiten dem uneingeschränkten Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG unterworfen. Ein derartiges Ergebnis lässt sich aus der Rechtsprechung des BVerfG zum abgestuften Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen nicht ableiten."

Diesen überzeugenden Erwägungen der 8. Kammer schließt sich die erkennende Kammer in vollem Umfang an.

Ergänzend merkt die Kammer zur Auslegung von § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI folgendes an: Dieser Satz ("Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten gilt nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme.") bedeutet nicht, dass die vorzeitige Inanspruchnahme vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine Minderung des Zugangsfaktors ausschließt. Vielmehr steht dieser Satz im Kontext mit Absatz 3 des § 77 SGB VI. Nach dessen Satz 1 bleibt für diejenigen Entgeltpunkte, die bereits Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer früheren Rente waren, der frühere Zugangsfaktor maßgebend. Ohne die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 3 SBG VI würde der bereits für die Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres geminderte Zugangsfaktor auch im Rahmen einer u.U. erst Jahrzehnte später zu bewilligenden Altersrente Anwendung finden; dies ergibt sich aus § 77 Abs. 3 Satz 1 SGB VI. Um dieses vom Gesetzgeber nicht gewünschte Ergebnis zu vermeiden, ist die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI aufgenommen worden (Mey, RVaktuell 2007, S. 44, 46).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die Sprungrevision zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 161 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Das Urteil des BSG vom 16.05.2006 hat in der juristischen Literatur fast ausnahmslos Ablehnung erfahren; die Rentenversicherungsträger setzen das Urteil nicht um und streben in weiteren Musterprozessen eine Klärung der Rechtslage an, da sie - wie die Kammer - in dem Urteil Widersprüche und Fehlinterpretationen erkennen; das Medienecho auf das Urteil und die Nicht-Umsetzungspraxis der Rentenversicherungsträger ist enorm; inzwischen gibt es mehrere Entscheidungen, die von dem Urteil des BSG abweichen. Angesichts dieser Umstände erscheint es nach Auffassung der Kammer sinnvoll, möglichst schnell mehrere Verfahren vor möglichst unterschiedliche Berufungs- und/oder Revisionssenate zu bringen, um möglichst schnell - ggf. durch ein Urteil des Großen Senats des BSG - Rechtsklarheit zu schaffen. Dies gilt umso mehr, als auch die Bundesregierung inzwischen ihr Unverständnis mit dem Urteil des BSG vom 16.05.2006 zum Ausdruck gebracht hat. Sie hat in Antworten auf parlamentarische Anfragen die Vorgehensweise der Rentenversicherungsträger ausdrücklich begrüßt, weil "die von der Rentenversicherung weiterhin praktizierte Auslegung des Gesetzes der Intention des Gesetzgebers entspricht" (BT-Drucksache 16/3710 S. 5; vgl. auch BT-Drucksachen 16/1948 und16/2176 sowie BT-Plenarprotokolle 16/72, 7183 bis 7185). Eine ausdrückliche Bestätigung der Vorgehensweise der Rentenversicherungsträger erfolgte zwischenzeitlich im Rahmen der Begründung des Gesetzentwurfs zum RV-Altersgrenzenanpassungsgsetz (BG Bl. I S. 554). Dort heißt es im Zusammenhang mit der Anhebung der Altersgrenze in § 77 SGB VI: "Die Abschläge bei den Erwerbsminderungsrenten in Höhe von 10,8 Prozent sind entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung des Gesetzes und entgegen einer Entsscheidung des 4. Senats des Bundessozialgerichts (Urteil vom 16. Mai 2006 - B 4 RA 22/05 R) in allen Fällen vorzunehmen, in denen die Rente mit oder vor Vollendung des 62. Lebensjahres beginnt, also auch dann, wenn die Rente in jungen Jahren in Anspruch genommen wird." (BT-Drucksache 16/37894, S. 36).
Rechtskraft
Aus
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