L 6 U 1363/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 3 U 3266/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 1363/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 1. Februar 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Übernahme der Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung der Klägerin durch die Beklagte.

Die 1982 geborene Klägerin erlitt am 11.01.2001 als Schülerin der Staatlichen Berufsschule I. einen Unfall. Sie hielt vor der Klasse ein Kurzreferat, als sie plötzlich nach vorne fiel und mit dem Gesicht auf dem Eisengestänge eines Tischfußes aufschlug. Sie war kurz bewusstlos und wurde mit dem Notarzt in die I. in I. gebracht. Es wurde eine Gehirnerschütterung, eine Platzwunde an der Unterlippe, eine Schürfwunde im Gesicht sowie ein Verlust des linken oberen Schneidezahns diagnostiziert. Im Bereich des Schädels, insbesondere des Ober- und Unterkiefers konnte eine Fraktur röntgenologisch ausgeschlossen werden. Die Klägerin wurde noch am Unfalltag dem Zahnarzt Dr. L. vorgestellt, der der Beklagten unter dem 12.03.2001 berichtete, dass der Zahn 11 gelockert und der Zahn 21 ausgeschlagen sei. Er replantierte Zahn 21 und schiente ihn mit Zahn 11. Am 09.08.2001 stellte sich die Klägerin bei der Zahnärztin Dr. R. wegen Beschwerden im Bereich des replantierten Zahnes vor. Diese führte eine Wurzelbehandlung durch. Die Kosten für diese Behandlungen wurden von der Beklagten übernommen. Mit Schreiben vom 17.04.2002 teilte die Beklagte der Klägerin mit, die Kosten einer evtl. notwendigen späteren prothetischen Versorgung des Zahnes 21 würden dann nach den zu diesem Zeitpunkt geltenden Sätzen übernommen.

Am 01.04.2003 beantragte die Mutter die Klägerin telefonisch die Übernahme der Kosten für eine kieferorthopädische Behandlung. Nach der Reimplantation des Schneidezahnes hätten sich die Zähne verschoben. Die Klägerin sei bereits 1995/1996 in kieferorthopädischer Behandlung gewesen. Nach Abschluss dieser Behandlung seien die Zähne eingereiht gewesen. Die Klägerin legte hierzu den Heil- und Kostenplan des Kieferorthopäden Dr. B. vom 06.04.03 für die kieferorthopädische Behandlung im Bereich des Oberkiefers vor. Danach sollten vor der prothetischen Versorgung des auf Dauer nicht zu erhaltenden Zahnes 21 die frontalen Lücken, die sich nach Aussagen der Patientin erst nach dem Unfall gebildet hätten, geschlossen werden, um eine suffiziente prothetische Versorgung zu ermöglichen.

Auf Anfrage der Beklagten teilte Dr. B. im Mai 2003 mit, eine kieferorthopädische Behandlungsbedürftigkeit bestehe auch im Bereich des Unterkiefers. Dies sei jedoch nicht unfallbedingt. Die Situation bei Zahn 21 könne jedoch durchaus auf den Unfall zurückgeführt werden. Unterlagen über die frühere kieferorthopädische Behandlung der Klägerin konnten von der Beklagten nicht erlangt werden, da der damals behandelnde Kieferorthopäde seine Praxis aufgegeben hatte. Dr. L. teilte mit Schreiben vom 05.06.2003 mit, eine Fehlstellung der Zähne habe er bei der unfallbedingten Behandlung nicht festgestellt. Aus seiner Sicht sei es nicht nachvollziehbar, dass allein wegen des Unfalles eine kieferorthopädische Behandlung nötig sein solle.

Die Beklagte holte die beratungsärztliche Stellungnahme des Zahnarztes Dr. G. vom 23.07.2003 ein. Dieser vertrat die Auffassung, dass die kieferorthopädische Situation nicht auf den Unfall zurückzuführen sei. Daraufhin teilte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 06.08.2003 mit, dass Kosten für die Behandlung nicht erbracht werden könnten, weil die hier bestehende kieferorthopädische Situation nicht rechtlich wesentlich auf den Schulunfall zurückgeführt werden könne. Den Widerspruch der Klägerin wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 12.11.2003 - zur Post gegeben am 13.11.2003 - zurück.

Hiergegen erhob die Klägerin am 15.12.2003 Klage zum Sozialgericht Ulm (SG). Zur Begründung führte sie aus, die kieferorthopädische Behandlung sei nach Auffassung von Dr. B. unfallbedingt erforderlich.

Das SG hörte Dr. R. unter dem 22.07.2004 schriftlich als sachverständige Zeugin über ihre Behandlung der Klägerin. Es holte ferner von Amts wegen das Gutachten von Dr. R., Oberarzt an der Poliklinik für Zahnerhaltung in Tübingen vom 07.02.2005 ein. Zum Zeitpunkt der Untersuchung am 15.11.2004 hatte die Klägerin bereits mit der kieferorthopädischen Behandlung begonnen und trug eine feste Zahnspange. Dem Gutachter lagen die Modelle des Gebisses vom Frühjahr 2004 vor. Dr. R. führte aus, der replantierte Zahn 21 zeige zum Zeitpunkt der Untersuchung recht günstige Befunde. Die Wahrscheinlichkeit, dass er 5-10 Jahre nach der Reimplantation funktionsfähig im Mund verbleiben könne, liege Studien zufolge bei 75 % bzw. bei 55 %. Der kieferorthopädische Befund des gesamten Gebisses mit Lückenbildung sei als Zustand nach einer früheren kieferorthopädischen Behandlung zu sehen bzw. als ein nicht optimales Ergebnis oder ein teilweises Rezidiv der vorausgegangenen Regulierung. Als Unfallfolge könne nur eine leichte Verlängerung des replantierten Zahnes 21 gesehen werden. Die protrusive Stellung der Frontzähne insgesamt mit den Zahnzwischenräumen sei nicht durch das Unfallgeschehen beeinflusst. Die begonnene kieferorthopädische Behandlung sei zwar sinnvoll und nachvollziehbar, gehe aber weit über die Behebung der unfallverursachten Schäden hinaus.

Unter dem 09.05.2005 nahm Dr. R. ergänzend zu den Einwendungen der Klägerin gegen sein Gutachten Stellung.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) holte das SG noch das Gutachten von Prof. Dr. S. von der Klinik für Zahn- Mund- und Kieferheilkunde des Universitätsklinikums U. vom 24.10.2005 ein. Dieser vertrat die Auffassung, die lückige Stellung im Bereich der Oberkiefer-Front könne mit hoher Wahrscheinlichkeit im Wesentlichen auf eine Zungendysfunktion der Klägerin zurückgeführt werden. Mit Ausnahme der leichten Verlängerung des replantierten Zahnes 21 könne das Trauma vom 11.01.2001 nicht als Ursache für die gesamte Fehlstellung der Frontzähne mit Lückenbildung verantwortlich gemacht werden. Die Tatsache, dass lediglich Zahn 21 total luxiert und Zahn 11 gelockert gewesen sei, spreche dafür, dass die gesamte Wucht des Aufpralls größtenteils von Zahn 21 und teilweise von Zahn 11 aufgefangen worden sei, was eine durch das Trauma bedingte Zahnfehlstellung der anderen Zähne ausschließe.

Mit Urteil vom 01.02.2006 - der Klägerin zugestellt am 17.02.2006 - wies das SG die Klage ab.

Hiergegen hat die Klägerin am 17.03.2006 Berufung eingelegt. Zur Begründung wird ausgeführt, die Ausführungen der beiden Sachverständigen hielten einer tatsächlichen Nachprüfung nicht Stand. Die beantragte Behandlungsmethode sei für die Behandlung der Klägerin angezeigt. Zum Beweis wird die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens angeregt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 01.02.2006 sowie den Bescheid vom 06.08.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.11.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Kosten der kieferorthopädischen Behandlung nach dem Heil- und Kostenplan von Dr. B. vom 06.04.2003 zu übernehmen bzw. ihr die hierdurch entstandenen Kosten zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist nach den §§ 143, 144 SGG statthaft und nach § 151 SGG zulässig.

Der Senat konnte nach § 153 Abs. 4 SGG über die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entscheiden, da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für die durchgeführte kieferorthopädische Behandlung durch die Beklagte oder auf Erstattung von Kosten, die ihr hierdurch entstanden sind, da diese Behandlung nach der Überzeugung des Senats nicht zur Behandlung der Folgen des Schulunfalles vom 11.01.2001 erforderlich war. Das SG hat die Klage daher zu Recht abgewiesen.

In der gesetzlichen Unfallversicherung haben Versicherte nach Eintritt eines Versicherungsfalls, worunter gem. § 7 Abs. 1 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten zu verstehen sind, nach § 26 Abs. 1 Satz 1 SGB VII u. a. Anspruch auf Heilbehandlung einschließlich der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Gem. § 26 Abs. 4 Satz 2 SGB VII werden Leistungen zur Heilbehandlung als Dienst- und Sachleistungen zur Verfügung gestellt, soweit das SGB VII oder das SGB IX keine Abweichungen vorsehen. Daneben ist eine Kostenerstattung in der Regel nur unter den Voraussetzungen des analog anzuwendenden § 13 Abs. 3 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V) möglich (vgl. BSG, Urteil vom 24.02.2000 - B 2 U 12/99 R - SGb 2000, 258).

Im vorliegenden Fall war die Klägerin im Unfallzeitpunkt gem. § 2 Abs. 1 Nr. 8 Buchst. b SGB VII kraft Gesetzes unfallversichert. Sie hat jedenfalls deshalb einen versicherten Schulunfall erlitten, weil bei der Entstehung ihrer Verletzung Gefahrenumstände wesentlich mitgewirkt haben, denen sie gerade wegen ihrer versicherten Tätigkeit ausgesetzt war (Aufprall mit dem Gesicht auf den aus einem Rohrgestänge bestehenden Tischfuß). Es kann deshalb offenbleiben, ob die Klägerin aus einer inneren - körpereigenen - Ursache umgefallen ist und ob in dem an die Klägerin gerichteten Schreiben vom 17.04.2002 ein Verwaltungsakt zu sehen ist, mit dem das Vorliegen eines versicherten Schulunfalles anerkannt worden ist.

Als Folge eines Unfalls sind Gesundheitsstörungen bei der Gewährung von Heilbehandlung nach § 26 Abs. 1 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn die jeweilige Gesundheitsstörung bewiesen und auf das Unfallereignis zurückzuführen ist (haftungsausfüllende Kausalität). Für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, welcher nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, ist grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit, ausreichend, aber auch erforderlich (BSG, Urteil vom 30. April 1985 - 2 RU 43/84 - BSGE 58, 80, 82; BSG, Urteil vom 20. Januar 1987 - 2 RU 27/86 - BSGE 61, 127, 129; BSG, Urteil vom 27. Juni 2000 - B 2 U 29/99 R - HVBG-Info 2000, 2811).

Im vorliegenden Fall scheitert der Anspruch der Klägerin nicht schon daran, dass in § 27 Abs. 1 SGB VII, der den Umfang der Heilbehandlung regelt, unter der Nr. 3 lediglich die zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Zahnersatz aufgeführt wird, nicht dagegen die kieferorthopädische Behandlung (vgl. dagegen § 29 SGB V für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung). Dass in § 27 Abs. 1 SGB VII das Wort "insbesondere" verwendet wird, lässt nämlich den Schluss zu, dass die unter den Nr. 1 bis 7 aufgeführten Leistungen nur beispielhaft genannt werden und keine abschließende Regelung darstellen. Aus diesem Grunde kommt grundsätzlich auch eine kieferorthopädische Behandlung als eine vom Unfallversicherungsträger geschuldete Behandlung in Betracht.

Der Senat ist jedoch ebenso wie das SG der Überzeugung, dass die im Falle der Klägerin durchgeführte kieferorthopädische Behandlung weder zur Behebung von Unfallfolgen noch zur Vorbereitung der möglicherweise notwendig werdenden prothetischen Versorgung des vorderen Schneidezahnes der Klägerin erforderlich war. Er schließt sich insoweit den überzeugenden Ausführungen der gehörten Sachverständigen Prof. Dr. R. und Prof. Dr. S., deren Gutachten er urkundsbeweislich verwertet hat, an. Beide Sachverständige haben nach Untersuchung der Klägerin und unter Berücksichtigung der vorhandenen Röntgenaufnahmen, Kiefermodelle und der in den Akten befindlichen ärztlichen Auskünfte die Auffassung vertreten, dass die protrusive Stellung der Frontzähne mit den Zahnzwischenräumen, die Gegenstand der kieferorthopädischen Behandlung war, nicht durch das Unfallgeschehen verursacht wurde. Bei dem Unfall verlor die Klägerin den vorderen Schneidezahn 21. Der Zahn 11 wurde gelockert. Stellungsveränderungen der übrigen Zähne sind dabei nicht eingetreten. Dies ergibt sich aus der Auskunft von Dr. L., wonach er anlässlich der unfallbedingten Behandlung der Klägerin keine Zahnfehlstellungen festgestellt habe. Der Unfall war auch nicht geeignet, eine spätere Stellungsveränderung der Zähne zu verursachen. Hierzu wäre nur ein wesentlich schwereres Unfallereignis in der Lage gewesen, worauf insbesondere Prof. Dr. S. in seinem Gutachten hingewiesen hat. Auch insoweit stimmen die Sachverständigen mit dem erstbehandelnden Zahnarzt Dr. L. überein. Dieser konnte sich ebenfalls nicht vorstellen, dass aufgrund der Unfallfolgen eine kieferorthopädische Behandlung notwendig werden könnte. Zur weiteren Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 SGG).

Weil hier zwei Gutachter schlüssig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei ausgeführt haben, dass die Zahnfehlstellung der Klägerin in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall steht, ist die Einholung eines weiteren Gutachtens nicht erforderlich. Soweit der Vertreter der Klägerin ausführt, die gutachtliche Stellungnahme zur streitigen Frage sei nicht befriedigend beantwortet, teilt der Senat diese Einschätzung nicht. Allein die Tatsache, dass die gutachtliche Fragestellung nicht im Sinne der Klägerin beantwortet wurde, rechtfertigt keine weiteren Ermittlungen.

Aus den genannten Gründen war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Für die Zulassung der Revision bestand kein Anlass.
Rechtskraft
Aus
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