L 1 R 196/05

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 15 RJ 371/03
Datum
-
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 R 196/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit ist der Anspruch der 1954 geborenen Klägerin auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).

Die Gewährung von Rente hatte sie am 3. April 2001 beantragt. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 13. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 2003 ab, weil die Klägerin noch über ein Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden für leichte Arbeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes verfüge. Die hiergegen erhobene Klage vor dem Sozialgericht Hamburg blieb erfolglos. Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 31. Mai 2005 abgewiesen. Wegen des Sachverhalts bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens wird Bezug auf den Tatbestand des Urteils des Sozialgerichts genommen.

Das Sozialgericht hat sich gestützt auf ein Gutachten, das der Neurologe/Psychiater Dr. F. nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 30. März 2005 erstattet hatte. Es ist nicht der Leistungsbeurteilung in dem zuvor im Auftrag des Sozialgerichts erstatteten Gutachten des Neurologen/Psychiaters Dr. N. gefolgt, der die Klägerin am 4. Mai 2004 untersucht hatte und sie aufgrund einer depressiven Antriebsstörung sowie einer Beeinträchtigung der Erlebnis-, Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit zu regelmäßiger Arbeit nicht in der Lage sah. Dr. F. hat dieser Beurteilung entgegen gehalten, dass der von Dr. N. in seinem Gutachten niedergelegte Querschnittsbefund die Annahme eines quantitativ beeinträchtigten Leistungsvermögens nicht erlaube.

Das Sozialgericht hat unter Bezugnahme auf Dr. F. festgestellt, die Klägerin sei unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu einer mindestens sechsstündigen, nämlich vollschichtigen Erwerbstätigkeit in der Lage. Es ist der Bewertung von Dr. F. und nicht von Dr. N. mit dem Argument gefolgt, läge eine tiefgehende depressive Störung bei der Klägerin vor, hätte sie sich auch in der Untersuchungssituation bei Dr. F. zeigen müssen. Dies sei jedoch nicht der Fall gewesen. Vielmehr habe sich die Klägerin dort nach Wahrnehmung des Sachverständigen als durchgehend präsent und gut konzentriert erwiesen. Es sei schlüssig und überzeugend, wenn Dr. F. aus den im Rahmen seiner Untersuchung erhobenen Befunden die Schlussfolgerung ziehe, die Klägerin sei zu einer leichten körperlichen Arbeit in der Lage und besitze ausreichende Willenskräfte, um aus der momentanen Situation heraus eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.

Gegen das am 2. November 2005 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 14. November 2005 Berufung eingelegt und mit dieser die Einholung eines Gutachtens nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beantragt. Sie hat als Gutachterin die Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie Dr. R., Oberärztin in der A. Klinik N1., benannt. Ihre erneute Begutachtung sei erforderlich, da das Gutachten von Dr. F. in seiner Begründung nicht überzeuge.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 31. Mai 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 13. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Mai 2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren, höchsthilfsweise ein Sachverständigengutachten nach § 109 SGG von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. G., Hamburg, einzuholen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Das Gericht hat Befundberichte eingeholt vom Praktischen Arzt Dr. H., vom Internisten S., vom Orthopäden Dr. L. und vom Neurologen/Psychiater Dr. N2 ...

Durch Beschluss vom 19. September 2006 hat der Berichterstatter dem in der Berufungsschrift gestellten Antrag nach § 109 SGG stattgegeben. Nachdem durch Beschluss vom 8. November 2006 durch den Senat Prozesskostenhilfe bewilligt worden war, hat der Berichterstatter durch Beschluss vom 14. November 2006 den § 109 SGG-Beschluss wieder aufgehoben. Das zunächst im Rahmen des § 109 SGG beantragte Gutachten von Dr. R. hat das Gericht sodann von Amts wegen nach § 106 SGG eingeholt.

Dr. R. hat die Klägerin am 22. Januar 2007 ambulant in Anwesenheit eines Dolmetschers untersucht und unter dem 4. April 2007 ihr fachpsychiatrisches Gutachten erstattet. Sie hat eine depressive Störung, die am ehesten als leichte depressive Episode mit somatischen Symptomen zu beschreiben sei, diagnostiziert. Von der Klägerin sollten nur noch Arbeiten von leichter körperlicher und einfacher geistiger Art und mit geringer Verantwortung gefordert werden, in wechselnder Körperhaltung, ohne ständiges Tragen, Heben oder Bücken oder Zwangsbewegungen, nicht unter Zeitdruck, nicht in Akkord-, Schicht- oder Nachtarbeit (möglich jedoch von 6:00 Uhr bis 22:00 Uhr), in geschlossenen Räumen, nicht an gefährdenden Arbeitsplätzen. Zusätzliche Pausen seien nicht erforderlich. Diese Arbeiten könnten vollschichtig durchgeführt werden. Die Klägerin sei wegefähig. Aufgrund der Tatsache, dass eine schwere neurotische Störung oder psychische Fehlhaltung von Krankheitswert nicht vorliege, sei es ihr zuzumuten, ihre Hemmungen gegenüber einer Arbeitsleistung zu überwinden. Die Einschränkungen bestünden seit Antragstellung, für eine Verbesserung der Symptomatik gäbe es keine Hinweise.

Dr. R. hat ihre Leistungsbeurteilung in Auseinandersetzung mit den Vorgutachten dahingehend zusammengefasst, dass der Einschätzung von Dr. F. zugestimmt werden müsse. Einer Tiefe der Depression, wie sie von Dr. N. beschrieben worden sei, könne sie sich nicht anschließen, so dass auch sie meine, dass eine qualitative Einschränkung des Leistungsvermögens jedoch keine Aufhebung des Leistungsvermögens bei der Klägerin beschrieben werden müsse.

Zum Gutachten von Dr. R., das ihr Bevollmächtigter am 18. April 2007 erhalten hatte, hat die Klägerin mit am 5. Juni 2007 bei Gericht eingegangenem Schreiben Stellung genommen. Hierin hat sie sich insbesondere dagegen gewendet, dass ihr unwahre Angaben unterstellt würden und einen Antrag nach § 109 SGG angekündigt, der im Termin zur mündlichen Verhandlung am 27. Juni 2007 gestellt worden ist.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der zum Gegenstand der Beratung und Entscheidung des Senats gemachten Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben. Sie ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 13. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. April 2003 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Versicherte haben Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).

Die wartezeit- und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen werden von der Klägerin zum Zeitpunkt der Antragstellung erfüllt. Sie dürften auch anschließend erfüllt sein, denn die Klägerin bezog Arbeitslosengeld sowie Arbeitslosenhilfe und bezieht nunmehr Arbeitslosengeld II.

Dass die Klägerin nicht mehr in der Lage ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auch in nur leichten Tätigkeiten mit qualitativen Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, lässt sich aber nicht feststellen. Der Senat hält die Bewertungen von Dr. F. und von Dr. R. für nachvollziehbar, stimmig und überzeugend und folgt deren Leistungsbeurteilungen. Zutreffend hat sich Dr. R. in Kenntnis und unter Auseinandersetzung mit der Schwierigkeit, bei einer nachvollziehbaren depressiven Symptomatik das Ausmaß dieser Störung genau zu beschreiben, auf bestimmte Grundtatsachen gestützt. Zu diesen gehört auch nach Auffassung des Senats, dass die von der Klägerin vorgetragene Zunahme der depressiven Symptomatik seit 1999 anhand der angegebenen, auch widersprüchlichen Lebensdaten nicht nachvollziehbar ist, dass sich die gezielte Verfolgung eines Rentenbegehrens nicht wegdiskutieren lässt und dass im Vordergrund nicht ein bestimmter Konflikt – auch nicht die immer wieder betonte Abwendung ihrer Töchter – steht, sondern verschiedene Lebenskonflikte vorliegen, wie sie ein Leben mit sich zu bringen vermag. Zudem ist festzustellen, dass die Klägerin mit ihrem Ehemann und ihrem Medizin studierenden Sohn in einem verlässlichen, sie stabilisierenden Umfeld lebt.

Für die Leistungseinschätzung von Dr. R. spricht auch, dass die Klägerin im Rahmen der psychiatrischen Anamnese bei ihr angab, eine Störung des Antriebs habe sie nicht. Dies wird untermauert durch die Vehemenz, mit der sie gegenüber Dr. R. ihren Willen zum Ausdruck brachte, an ihrem Leidenszustand festhalten zu wollen.

Entgegen der Kritik der Klägerin ist das Gutachten nicht darauf gestützt, dass ihr durch Dr. R. unwahre Angaben unterstellt worden seien. Im Gutachten wird lediglich im Rahmen der Anamnese das wiedergegeben, was die Klägerin gegenüber der Sachverständigen angab. Zudem legt das Gutachten noch in seinem anamnestischen Teil offen, dass und warum zu einzelnen dieser Angaben durch die Sachverständige nachgefragt worden war und wo diese Widersprüche gesehen hat. Die Leistungseinschätzung aber gründet wesentlich auf dem durch Dr. R. selbst erhobenen psychopathologischen Querschnittsbefund. Durchgreifende Kritik an dessen Erhebung hat die Klägerin nicht vorgebracht. Dieser Befund stimmt zudem mit dem von Dr. F. erhobenen weithin überein.

Die im Termin am 27. Juni 2007 durch die Klägerin höchsthilfsweise beantragte Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG war abzulehnen. Nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG muss auf Antrag ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Nach § 109 Abs. 2 SGG kann das Gericht einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Die Zulassung würde vorliegend die Erledigung des Rechtsstreits verzögert haben, denn die gerichtlichen Ermittlungen waren abgeschlossen und der Rechtsstreit im Ergebnis der mündlichen Verhandlung entscheidungsreif. Der Antrag ist auch aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden. Erst im Termin zur mündlichen Verhandlung am 27. Juni 2007 ist mit Dr. G. ein bestimmter Arzt benannt worden. Ohne die Benennung eines bestimmten Arztes ist ein Antrag nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht ordnungsgemäß gestellt. Ein nach Ablauf von sechs Wochen nach Zugang eines für den Versicherten negativen Gutachtens gestellter Antrag ist verspätet, wenn die Übersendung des Gutachtens mit einem richterlichen Hinweis verbunden worden und aus diesem erkennbar ist, dass das Gericht keine weiteren Ermittlungen von Amts wegen durchführen wird (vgl. auch LSG Nordrhein-Westfalen 25.9.2003 – L 7 SB 104/02, n. v.; LSG Saarland 16.2.2005 – L 2 U 33/00, n. v.). Das Gutachten von Dr. R. war dem Bevollmächtigten der Klägerin bereits am 18. April 2007 zugestellt und er zur Stellungnahme sowie zur Mitteilung, ob die Berufung zurückgenommen werde, aufgefordert worden. Die Frist von sechs Wochen endete am 30. Mai 2007. Eine Stellungnahme ging erst am 5. Juni 2007 bei Gericht ein und enthielt zudem nur die Ankündigung eines Antrags nach § 109 SGG. Soweit die Klägerin der Annahme eines aus grober Nachlässigkeit verspäteten Antrags mit dem Vortrag begegnen möchte, die Erforderlichkeit einer erneuten Begutachtung habe sich erst nach Zustellung des unerwartet unbefriedigenden Gutachtens von Dr. R. ergeben, geht dies fehl. Vielmehr folgt aus dem Umstand, dass das Gutachten bereits seit dem 18. April 2007 bekannt war, der Antrag aber erst am 27. Juni 2007 gestellt worden ist, die verspätete Antragstellung aus grober Nachlässigkeit. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass dem Bevollmächtigten der Klägerin bereits seit dem 18. Mai 2007 bekannt war, dass die Ladung zur mündlichen Verhandlung für den 27. Juni 2007 beabsichtigt war. Selbst nachdem der Bevollmächtigte der Klägerin am 7. Juni 2007 die Ladung zum Termin am 27. Juni 2007 erhalten hatte, hat er einen ordnungsgemäßen Antrag nicht gestellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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