L 3 R 123/05

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 26 RJ 792/02
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 R 123/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 24. Juni 2005 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung für die Zeit ab 1. Juni 2001.

Der am 1945 geborene Kläger ist britischer Staatsangehöriger und lebt in Großbritannien. Seine letzte Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland war die eines Stahlbaumonteurs bei der Firma E. GmbH in H. von Mitte 1988 bis Ende 1989. Dort war er mit der Montage von Stromfreileitungen bzw. Hochspannungsmasten betraut. Er selbst hatte im Rentenantrag die letzte Tätigkeit als die eines "Elektrikers" bezeichnet. Im Rahmen dieser Tätigkeit hatte er am 14. Dezember 1989 einen Arbeitsunfall. Er wurde durch ein herab fallendes Diagonal am Kopf getroffen. Aufgrund des Unfalls bezieht er eine Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. In der Zeit nach dem Unfall war er nur gelegentlich als Bauschreiner (inklusive Dachdeckerarbeiten) tätig oder wurde zu Mastaufbauarbeiten eingesetzt. In der Folge war er in Großbritannien im Bereich Dacharbeiten und Zaunaufbau selbständig tätig.

Mit Schreiben vom 9. Mai 2001 (Eingang bei der Beklagten 9. Mai 2001) beantragte der Kläger Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme des Psychiaters W. lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 5. März 2002 ab. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 6. August 2002 zurück.

Im Klageverfahren hat der Neurologe/Psychiater Dr. N. unter Auswertung der von der Beklagten und dem Sozialgericht eingeholten ärztlichen Berichte sowie des beigezogenen, vom Unfallversicherungsträger eingeholten Gutachtens des Neurologen/Psychiaters Dr. L. vom 27. April 1998 im Gutachten vom 27. Mai 2004 festgestellt, beim Kläger lägen Folgen eines offenen Schädelhirntraumas mit Anosmie und Diplopie sowie damit verbundene Unsicherheiten in der Beweglichkeit vor. Mit diesen Beeinträchtigungen sei der Kläger nur noch in der Lage, eine mittelschwere körperliche Tätigkeit einfacher und durchschnittlicher geistiger Art mit geringer und durchschnittlicher Verantwortung vollschichtig auszuüben. Dabei dürften jedoch keine besonderen Anforderungen an das räumliche Sehvermögen gestellt werden. Die Tätigkeit sei nicht auf Leitern oder Gerüsten möglich und ein funktionsfähiger Geruchsinn dürfe ebenfalls nicht gefordert werden. Die Wegefähigkeit sei erhalten. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 27. Mai 2004 verwiesen.

Mit Urteil vom 24. Juni 2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, weil er noch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich arbeiten könne. Als solche Tätigkeiten kämen insbesondere die leichten Pack- und Sortierarbeiten in der Ernährungsindustrie oder einfache Prüfarbeiten im technischen Bereich in Betracht. Es werde auf die Ausführungen in der schriftlichen Stellungnahme des berufskundigen Sachverständigen B. vom 2. März 2004 verwiesen. Auch liege keine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Einer Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe es daher nicht. Ebenfalls scheide ein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit aus. Da der Kläger in seiner letzten Tätigkeit allenfalls als "Angelernter" zu betrachten sei, könne er uneingeschränkt auf die genannten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt. Er trägt im Wesentlichen vor, ihm stehe eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu, da er aufgrund des Arbeitsunfalls eine schwere spezifische Leistungsbehinderung habe und eine Erwerbstätigkeit nur unter Raubbau an seiner eigenen Gesundheit ausüben könne. Erst Recht stehe ihm eine Rente wegen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu, denn er habe als Elektriker Facharbeiterschutz. Zwar habe er keine Berufsausbildung, jedoch die Tätigkeit eines Facharbeiters aufgrund seiner Berufserfahrung ausgeübt.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 24. Juni 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. März 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bzw. teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem 1. Juni 2001 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Im Berufungsverfahren ist der Versuch, Näheres über Art und Inhalt der zuletzt in der Bundesrepublik ausgeübten Tätigkeit bei der Firma E. GmbH in H. in Erfahrung zu bringen, gescheitert. Die Firma existiert nicht mehr und ein aktueller Aufenthaltsort der früheren Inhaber war nicht ermittelbar. Der Kläger selbst konnte auch keine Unterlagen über die Tätigkeit vorlegen.

Die Beteiligten haben sich mit einer schriftlichen Entscheidung durch die Berichterstatterin einverstanden erklärt.

Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen. Sie sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Über die Berufung konnte die Berichterstatterin an Stelle des Senats und im schriftlichen Verfahren entscheiden, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 und § 155 Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers (vgl. §§ 143, 144, 151 SGG) ist unbegründet.

Auf den Rechtsstreit sind die Vorschriften des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung anzuwenden (§ 300 Abs. 1 SGB VI). Da eine Rentengewährung erst ab 1. Juni 2001im Streit ist, kommt eine Anwendung des bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Rechts nach § 300 Abs. 2 SGB VI nicht in Betracht.

Gemäß § 43 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, wenn sie u. a. wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs (teilweise Erwerbsminderung gemäß Abs. 1) bzw. drei (volle Erwerbsminderung gemäß Abs. 2) Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Abs. 3).

Der Kläger ist weder voll noch teilweise erwerbsgemindert im Sinne dieser Regelung. Ausweislich des überzeugenden Gutachtens von Dr. N. liegt bei dem Kläger noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen vor. Er kann auch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein. Zwar könnte fraglich sein, ob die Einschränkung des räumlichen Sehvermögens und der Verlust des Riechvermögens schwere spezifische Leistungsbehinderungen darstellen, jedoch ergibt sich aus der Beschreibung der Anforderungen der leichten Pack- und Sortierarbeiten in der Ernährungsindustrie und den einfachen Prüfarbeiten im technischen Bereich durch den berufskundigen Sachverständigen B., der das Gericht folgt, dass in diesem großen Bereich des allgemeinen Arbeitsmarktes – wegen des statischen Arbeitsplatzes – weder besondere Anforderungen an das räumliche Sehen gestellt werden noch die Riechfähigkeit erforderlich ist. Daraus folgt, dass eine schwere spezifische Leistungsbehinderung nicht vorliegt. Aber selbst für den Fall, dass eine schwere spezifische Leistungsbehinderung bejaht würde, könnte der Kläger uneingeschränkt auf die genannten Tätigkeiten verwiesen werden, denn das festgestellte (Rest-)Leistungsvermögen ist – wie der Vergleich mit den vom berufskundigen Sachverständigen dargelegten Tätigkeitsanforderungen zeigt – ausreichend, um diese Arbeiten zu verrichten. Insbesondere handelt es sich dabei um Arbeiten einfacher geistiger Art mit in der Regel geringer, allenfalls durchschnittlicher Verantwortung.

Gemäß § 240 SGB VI in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung haben Versicherte auch noch nach dem 31. Dezember 2000 Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Hierfür ist u. a. das Vorliegen von Berufsunfähigkeit Voraussetzung (vgl. § 240 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI). Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen ihrer Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 240 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB VI). Nicht berufsunfähig ist, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Satz 4 der Vorschrift).

Der Kreis der Tätigkeiten, auf die ein Versicherter gemäß § 240 SGB VI zumutbar verwiesen werden kann, beurteilt sich nach der Wertigkeit seines bisherigen Berufes. Für die Beantwortung der Frage, wie einerseits die bisherige Berufstätigkeit des Versicherten qualitativ zu bewerten ist, und andererseits Berufstätigkeiten, die der Versicherte nach seinen gesundheitlichen Leistungsvermögen noch ausüben kann, zu beurteilen sind, hat das Bundessozialgericht (BSG) aufgrund seiner Beobachtungen der tatsächlichen Gegebenheiten der Arbeits- und Berufswelt ein Mehrstufenschema entwickelt, das auch das erkennende Gericht seiner Einschätzung zugrunde legt. Danach sind zu unterscheiden: Ungelernte Berufe (Stufe 1); Berufe mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren (Stufe 2, sog. Angelernte); Berufe mit einer Ausbildung von mehr als zwei Jahren (Stufe 3, sog. Facharbeiter); Berufe, die zusätzliche Qualifikationen oder Erfahrungen oder den erfolgreichen Besuch einer Fachschule voraussetzen (Stufe 4), zu ihr gehören Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion gegenüber anderen Facharbeitern, Spezialfacharbeiter, Meister, Berufe mit Fachschulqualifikation als Eingangsvoraussetzung; Berufe, die einen erfolgreichen Abschluss einer Fachhochschule oder eine zumindest gleichwertige Berufsausbildung voraussetzen (Stufe 5); Berufe, deren hohe Qualität regelmäßig auf einem Hochschulstudium oder einer vergleichbaren Qualifikation beruht (Stufe 6, vgl. BSG, 29.7.04, B 4 RA 5/04 R, in: Juris; vgl. auch 9.12.97, a.a.O. sowie 14.5.96, 4 RA 60/94, BSGE 78, 207). Zumutbar im Sinne von § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind für Versicherte, die ihren bisherigen Beruf nicht mehr ausüben können, alle Tätigkeiten, die zur Gruppe mit einem Leitberuf gehören, der höchstens eine Stufe niedriger einzuordnen ist als der von ihnen bisher ausgeübte Beruf. Dabei sind die sog. Facharbeiter (Stufe 3) auf alle Tätigkeiten der Stufe 2 verweisbar, auch auf die sog. einfachen Anlerntätigkeiten (BSG 26.1.00, B 13 RJ 45/98 R, SGb 2000, 364).

Der Kläger ist nicht berufsunfähig und hat daher keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit. Dies folgt bereits daraus, dass nicht festgestellt werden kann, welcher Stufe im Mehrstufenschema die bisherige berufliche Tätigkeit als Stahlbaumonteur zuzuordnen ist. Aus der Bezeichnung der Tätigkeit als der eines Stahlbaumonteurs durch den Arbeitgeber ist weder ersichtlich, dass es sich um einen anerkannten Ausbildungsberuf handelt noch ist dies ein Fachbegriff, der ausschließlich eine Tätigkeit eines bestimmten Niveaus beschreibt. Den Begriff "Elektriker" nennt der ehemalige Arbeitgeber nicht. Wenn der Kläger selbst diesen Begriff anführt, so mag eine gewisse Berechtigung darin liegen, dass der Aufbau von Strommasten auch Wissen über Elektronik fordert, andererseits handelt es sich nur um einen Bereich aus dem möglichen Tätigkeitsfeld eines Elektrikers. Auf das Niveau der Tätigkeit kann aufgrund dieses Umstandes nicht geschlossen werden. Zwar kann ein Arbeitnehmer auch ohne Durchlaufen einer anerkannten Berufsausbildung durch langjährige berufliche Tätigkeit das Wissen und die Fähigkeiten eines Gelernten erwerben und ist für den Fall, dass dies durch Zuordnung zu einer tarifvertraglich erfassten Berufsgruppe und entsprechende Entlohnung vom Arbeitmarkt honoriert wurde, bei der Zuordnung im Mehrstufenschema entsprechend höher einzuordnen. Jedoch konnte für die bisherige berufliche Tätigkeit des Klägers weder eine Beschreibung des genauen Tätigkeitsinhalts noch die Entlohnung bzw. die sie bestimmende tarifvertragliche Einstufung ermittelt werden. Es mag zwar vermutet werden, dass der Kläger eine zumindest angelernte Tätigkeit ausgeübt hat, jedoch kann nicht festgestellt werden, dass es sich um eine gehobene Anlerntätigkeit oder gar eine Facharbeitertätigkeit gehandelt hat. Daher gilt der Kläger als uneingeschränkt auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar, die er mit seinem (Rest-)Leistungsvermögen noch ausüben kann (siehe Ausführungen oben).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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