Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 1453/94
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 342/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Januar 1995 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X).
Der 1936 geborene Kläger lebt als Staatsbürger der Republik der früheren Teilrepublik der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik (SFRJ) in diesem Staat. Der Kläger erlitt im Oktober 1944 bei der Explosion einer Granate in seinem Heimatort bei schwere Verletzungen; er verlor das Sehvermögen sowie den linken Unterarm und zog sich einen Bruch des rechten Unterschenkels mit bleibenden Folgen zu. Der Kläger nahm später eine Tätigkeit als Telefonist auf. Am 2. Juni 1969 wurde er nach den kroatischen Vorschriften als Zivilkriegsopfer anerkannt; ihm wurde eine Invalidenrente als Blinder gewährt.
Am 29. Juli 1988 beantragte der Kläger erstmals beim Versorgungsamt Fulda die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem BVG und gab an, als achtjähriges Kind durch die Explosion einer Granate, die von Angehörigen der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges zurückgelassen worden war, schwer verletzt worden zu sein. Der Kläger legte den Bescheid über die Anerkennung als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatstaat vom 2. Juni 1969 sowie ärztliche Unterlagen und weitere Dokumente vor. Der Beklagte holte eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. S. vom 3. November 1988 ein, erkannte nach weiteren Ermittlungen durch Bescheid des Versorgungsamtes Fulda vom 30. Januar 1991 die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen ("1. Erblindung bei Verlust des linken Auges und Atrophie des rechten Augapfels, entstellende Narbenbildung im Gesicht; 2. Verlust des linken Unterarmes; 3. in Fehlstellung verheilter Unterschenkelbruch rechts, flächenhafte Narben am rechten Unterschenkel; 4. Narbenbildung an der Brustvorderwand”) als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte ihm Beschädigtenrente nebst Schwerstbeschädigten- und Pflegezulage bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. Zur Begründung wurde in dem Bescheid u.a. ausgeführt, daß die Leistung als sogenannte "Kannversorgung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG zuerkannt werde.
Durch Bescheide vom 3. Juni 1991 und 3. Juni 1992 wurde die dem Kläger gewährte Versorgung jeweils gemäß dem 20. BVG-Anpassungsgesetz in Verbindung mit § 48 SGB X angepaßt. Der Kläger erhielt zuletzt monatlich Bezüge in Form von Grundrente (432,00 DM), Schwerstbeschädigtenzulage Stufe II (81,00 DM) und Pflegezulage, Stufe III (250,00 DM), im Gesamtbetrag von 863,00 DM/Monat.
Durch Bescheid vom 11. Januar 1993 nahm das Versorgungsamt ohne vorherige Anhörung des Klägers den Bewilligungsbescheid vom 30. Janaur 1991 mit Wirkung vom 1. Februar 1993 unter Berufung auf § 45 SGB X zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Bewilligungsbescheid sei rechtswidrig gewesen, weil der Kläger wegen derselben Ursache Anspruch auf Zivilkriegsopferrente gegenüber seinem Heimatstaat gehabt habe und gemäß § 7 Abs. 2 BVG eine Doppelversorgung ausgeschlossen sein solle. Da diese gesetzliche Bestimmung bei Erteilung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nicht beachtet worden sei, habe dieser zurückgenommen werden müssen. Zwar setze die Rücknahme voraus, daß das Interesse des Bürgers an der Aufrechterhaltung des Vorteils nicht höher zu bewerten sei, als das öffentliche Interesse des Staates und der Allgemeinheit an der Beseitigung der Rechtswidrigkeit eines Bescheides. Die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides sei aber aus öffentlichem Interesse geboten, wobei zugunsten des Klägers berücksichtigt worden sei, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein im Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung gelegen habe. Daraus allein aber ergebe sich nicht die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers in den Bestand des Bescheides. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung im Heimatstaat könne jedoch nicht zu einer Ausübung des Ermessens zugunsten des Klägers führen, weil deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Klägers haben könnten. Gegen den am 11. Januar 1993 abgesandten Bescheid hat der Kläger mit Schreiben vom 20. Februar 1993, beim Versorgungsamt eingegangen am 19. März 1993, Widerspruch erhoben und u.a. geltend gemacht, daß er wegen der Kriegsverletzung bis an sein Lebensende auf die Pension angewiesen bleibe; seine Augenhöhlen seien leer und der Arm hänge. Die Entziehung der Rente zum gegenwärtigen Zeitpunkt, in dem in Kroatien wieder Krieg herrsche, beeinträchtige ihn besonders hart. Er könne nicht nachvollziehen, wieso der Bescheid, der nach eingehender Prüfung von den deutschen Verwaltungsbehörden erlassen worden sei, nunmehr rechtswidrig sein solle und die Versorgung ihm entzogen werde. Der Kläger hat sich weiter darauf berufen, daß die Fortzahlung der Versorgungsbezüge zur Sicherung der Existenz seiner fünfköpfigen Familie unerläßlich sei.
Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994 u.a. mit der Begründung zurück, es sei geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistung abgesehen werden könne. Zwar sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden aber bei Beziehern von Sozialleistungen vielfach vorliegen und könnten deshalb nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Gegen den ihm unter Vermittlung der Deutschen Botschaft in Zagreb mittels eingeschriebenem Brief am 24. Februar 1994 zugeleiteten Widerspruchsbescheid hat der Kläger die am 2. Mai 1994 beim Sozialgericht Frankfurt am Main eingegangene Klage erhoben. Der Kläger hat sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft und u.a. auf den Kriegszustand in seinem Heimatland hingewiesen sowie geltend gemacht, daß andere ihm persönlich bekannte zivile Kriegsopfer in Kroatien weiterhin Beschädigtenrente nach dem BVG erhielten.
Mit Urteil vom 13. Januar 1995 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben und zur Begründung u.a. ausgeführt, eine Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X erfolgen können. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob der ursprüngliche Bewilligungsbescheid überhaupt rechtswidrig gewesen sei und auch, ob der Aufhebungsbescheid schon alleine deshalb rechtswidrig sei, weil vor Erlaß desselben, der in die Rechte des Klägers eingegriffen habe, keine Anhörung erfolgt sei. Der Beklagte habe jedenfalls von der ihm, auch nach Prüfung der Frage, ob das öffentliche Interesse an der Aufhebung das Interesse des Klägers am Bestand des Verwaltungsaktes überwiege, verbleibenden Verpflichtung zur Ausübung sachgerechten Ermessens in fehlerhafter Weise Gebrauch gemacht. In der Begründung sowohl des angefochtenen Bescheides wie auch des Widerspruchsbescheides habe der Beklagte nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Hinsichtlich des Rücknahmebescheides vom 11. Janaur 1993 sei dies schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und das beklagte Land folglich mangels aktueller Kenntnis der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung gar nicht habe vornehmen können. Entsprechendes gelte auch für die Ausführung zur Ermessensausübung in der Begründung des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 1994. Die dort gebrauchten Formulierungen deuteten darauf hin, daß das beklagte Land bei seiner Entscheidung gerade nicht auf die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalles abgestellt habe, sondern nur solche Aspekte, die für alle Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an Zivilkriegsopfer in der ehemaligen SFRJ zutreffen würden, gewürdigt habe. Das Fehlen jeglicher auf den Einzelfall bezogener Ausführungen zur Ermessensausübung zeige sich auch deutlich in der Verwaltungspraxis des beklagten Landes, das in allen dem vorliegenden vergleichbaren Fällen nach Kenntnis des Gerichts einheitlich entschieden habe. Es sei gerichtsbekannt, daß das beklagte Land nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 in ca. 300 Verwaltungsverfahren praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Diesen Schluß könne das Sozialgericht aufgrund der ihm bekannten Akten von ca. 100 vergleichbaren Streitverfahren ziehen. Aus der Tatsache, daß der Beklagte vor Erlaß des Widerspruchsbescheides keine Anhörung durchgeführt habe, könnte auch geschlossen werden, daß er gar nicht die Absicht gehabt habe, eine individuelle Einzelfallentscheidung zu treffen. Der Bescheid und der Widerpruchsbescheid seien deshalb wegen nicht ordnungsgemäßer Ausübung des Ermessens rechtswidrig und hätten aufgehoben werden müssen.
Gegen das ihm gegen Empfangsbekenntnis am 20. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte die am 30. März 1995 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung eingelegt. Er vertritt die Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall überhaupt kein Ermessensspielraum bestehe. Dies habe der 9. Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden. Soweit sich das erstinstanzliche Gericht für seine Auffassung, es sei Ermessen auszuüben gewesen (und nicht pflichtgemäß ausgeübt worden), auf Rechtsprechung anderer Senate des BSG beziehe, sei diese Rechtsprechung im sozialen Entschädigungsrecht nicht einschlägig. Im Falle des Klägers handele es sich um einen klassischen Regelfall, weshalb keinerlei Ermessen hätte ausgeübt werden müssen. Auch soweit das Sozialgericht meine, die Verwaltung habe überhaupt kein Ermessen ausgeübt, habe es den Text des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides nicht vollständig zur Kenntnis genommen. Es seien sowohl die Höhe der ausländischen Zivilkriegsopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relative Gesamteinkommen des Klägers in die Überlegungen einbezogen worden. Ermittlungen zu den aktuellen Einkommensverhältnissen seien nicht erforderlich gewesen, da zugunsten des Klägers dessen schwierige persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unterstellt worden seien. Auch soweit das Sozialgericht bemängele, daß der Beklagte die Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzungen in der ehemaligen SFRJ nicht berücksichtigt habe, könne dem nicht gefolgt werden. Für die Auswirkungen des Bürgerkrieges, der mehr als 50 Jahre nach dem schädigenden Ereignis ausgebrochen sei, könnten deutsche Stellen keine Verantwortung übernehmen. Soweit sich das Sozialgericht an den gleichlautenden Texten störe, sei darauf hinzuweisen, daß die Formulierung mit Hilfe moderner technischer Hilfsmittel (Schreibcomputer, Textbausteine) erstellt worden sei, was kein Grund sein könne, dem Beklagten fehlende Überlegungen vorzuwerfen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Januar 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, das er für zutreffend hält, und macht geltend, die Bundesrepublik Deutschland habe eine Verpflichtung, den von der deutschen Wehrmacht Geschädigten eine Entschädigung zukommen zu lassen. Er sei als kleines Kind durch Kriegsmaterial, das von den Deutschen zurückgelassen worden sei, schwer geschädigt worden und sei zur Sicherung seiner Existenz auf die Fortzahlung der Beschädigtenversorgung aus Deutschland angewiesen. In seinem Heimatstaat herrsche Krieg und Not. Auch Z., sein gegenwärtiger Wohnort, sei von diesen Kriegsereignissen nicht verschont geblieben.
Das Landessozialgericht hat beim Kläger angefragt, ob er weiterhin laufend eine Rente als Zivilkriegsopfer nach kroatischem Recht erhalte, was der Kläger bestätigt hat.
Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichts- und Verwaltungsakte (Beschädigtenakten des Versorgungsamtes Fulda, Grundlisten-Nr. XXX), die dem Senat vorgelegen haben und auszugsweise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung des Senats am 12. Juni 1997 und der Beratung gemacht worden sind.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung ist der Kläger, obwohl er ordnungsgemäß geladen worden war und auch darauf hingewiesen wurde, daß im Falle seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden könne, nicht erschienen und nicht vertreten gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen und nicht vertreten war, weil mit der ordnungsgemäßen Ladung, die auf diplomatischem Wege erfolgte, darauf hingewiesen worden war, daß auch im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 110 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie an sich statthaft (§ 151 in Verbindung mit §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die Berufung ist sachlich jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat durch Urteil vom 13. Januar 1995 den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 und den Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994 zu Recht aufgehoben, weil diese Verwaltungsentscheidungen wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig sind und den Kläger beschweren (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Nach § 45 Abs. 1 SGB X nämlich "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus dieser Formulierung ergibt sich, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen der Abs. 2–4 von § 45 SGB X gegeben sind und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZ/Lw 11/82 = SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 = SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94 –; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –; vgl. auch Kasseler Kommentar – Steinwedel § 45 SGB X Rdnr. 52; Hauck/Haines a.a.O., K § 45 SGB X Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erläuterungen III. 7). Nur bei ganz wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf. So wird allgemein anerkannt, daß bei vorsätzlicher, betrügerischer Leistungserschleichung auf jeden Fall eine Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes erfolgen muß. Bereits für den Fall fahrlässiger Bösgläubigkeit im Hinblick auf wesentliche, für den Erlaß des rechtswidrigen Bescheides maßgebliche, Tatsachen (Abs. 2 Nrn. 2 und 3 von § 45 SGB X) wird in der neueren Rechtsprechung des BSG teilweise eine Ermessensreduzierung auf "Null” vertreten, teilweise aber auch nicht (vgl. BSG, SozR 3-1300 § 50 Nr. 16 einerseits und andererseits BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –).
Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9/9 a-Senates – wie dies vom Beklagten zutreffend ausgeführt worden ist – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf "Null” eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9a RVg 2/94 – = BSGE 60, 147 ff.). Begründet wird diese einschränkende Interpretation des § 45 SGB X unter Bezugnahme auf Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Kriegsopferrecht (KOVVfG). Diese Begründung hält der erkennende Senat jedoch nicht mehr für überzeugend, weil das SGB X sämtliche Verfahrensvorschriften der Sozialleistungsbereiche, für die es gilt, abgelöst hat und deshalb auch die Vorschriften des KOVVfG nicht mehr Anwendung finden. Die Regelungen des SGB X hatten die Vereinheitlichung des Verfahrensrechts und der für ein rechtsstaatliches Verfahren geltenden Maßstäbe im gesamten Sozialrecht zum Ziel. Besondere Regelungen und "bereichsspezifische” Interpretationen für Teile des Sozialleistungsrechts können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus den seit Erlaß des SGB X ergangenen und heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. So hat z.B. der parlamentarische Gesetzgeber für den Bereich der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und das Arbeitsförderungsrecht mit der am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Neufassung des § 152 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) klargestellt, daß das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in besonders gelagerten Fällen ausdrücklich eingeschränkt werden sollte. Der grundsätzliche Vorrang der Regelungen des SGB X und ihre einheitliche Interpretation sind auch im sozialen Entschädigungsrecht zu beachten. Normen, die nach Inkrafttreten des SGB X Geltung erlangt haben, und die eine Einschränkung der Notwendigkeit zur Ermessensausübung für die Versorgungsverwaltung begründen könnten, sind weder in der zitierten Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG angeführt noch vom Beklagten benannt worden; auch der erkennende Senat vermag solche nicht zu erkennen und/oder zu benennen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in den Regelfällen, wie sie in § 45 Abs. 2 SGB X normiert sind, es der Verwaltung schwer fallen wird, weitere Gesichtspunkte bei der Ermessensprüfung zu benennen, die nicht schon bereits bei der Prüfung des Vertrauenstatbestandes Erwähnung gefunden haben (vgl. hierzu Haus, SGb 1987, S. 190 ff.). Die gesetzliche Regelung schließt es jedoch nicht aus, bei der Ermessensausübung wieder auf die Gesichtspunkte zurückzugreifen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Kasseler Kommentar – Steinwedel, a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53 unter Bezugnahme auf BSGE 59, 157 ff., 169 f.). Die bislang – soweit erkennbar – vom 9/9 a-Senat des BSG noch ausdrücklich vertretene Auffassung zur Reduzierung des den Verwaltungsbehörden eingeräumten Ermessens auf "Null” kann der erkennende Senat, wie schon bisher, nicht zur Grundlage seiner Entscheidungen machen (vgl. HLSG, Urteile vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 – und vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-124/94 – und – L-5/V-343/95 –).
Jedenfalls für den vorliegenden Fall geht der Senat davon aus, daß es sich nicht um einen solchen Regelfall handelt, bei dem die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die besonderen Umstände des Klägers vermissen ließen, von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen. Insoweit handelt es sich um den Fall des Ermessensfehlgebrauchs durch "Ermessensunterschreitung” (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 5. Aufl., § 54 Rdnrn. 25, 30). Von Ermessensunterschreitung wird gesprochen, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Spielraum irrtümlich zu eng einschätzt oder wenn sie grob gegen Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind, verstößt (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 30).
Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die sorgfältige und differenzierte Ermittlungen erforderlich und – nachfolgend – eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen. Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der Entscheidung in Kroatien, einem Teil der ehemaligen SFRJ, in dem Krieg herrschte, bei dem es zu teilweise völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien kam. Er hat geltend gemacht, daß seine wirtschaftliche Existenz von Leistungen nach dem BVG – auch wenn sie rechtswidrig bewilligt sein sollten – abhänge und aufs äußerste gespannt und bedroht war. Soweit man nicht allein die Tatsache, daß der Kläger zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen beeinträchtigt worden war, für ausreichend hält, um zusätzliche weitere Ermessenserwägungen zu fordern, so ist der Beklagte jedoch in keiner Weise erkennbar dem Vorbringen des Klägers weiter nachgegangen, daß der vollständige Entzug der seit Erlaß des Bescheides im Jahre 1991 bewilligten Leistung für ihn eine besondere Härte bedeuten würde und zur Verarmung des Klägers sowie zu Versorgungsschwierigkeiten für seine Familie führen müßte. Auch hat der Beklagte den Gesundheitszustand des Klägers und seine besonders schwierige Lage als Blinder nicht gesondert und besonders berücksichtigt, obwohl der Kläger ausdrücklich darauf hingewiesen hat. Insoweit erweisen sich die von dem Beklagten angestellten Ermessenserwägungen zur Überzeugung des Senates als rechtlich nicht haltbar, weil der Beklagte Härtegesichtspunkte nicht weiter aufgeklärt hat und deshalb von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch machen konnte. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nrn. 2 und 5). Ermessen ist dann von den Gerichten allein daraufhin zu überprüfen, ob von der Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt worden sind (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, Kasseler Kommentar, Steinwedel a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53). Um die Ermessensentscheidung überhaupt einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich zu machen, sieht aber § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X vor, daß bei einem Verwaltungsakt, der nach pflichtgemäßem Ermessen ergeht, die wesentlichen Gesichtspunkte schriftlich mitgeteilt werden müssen, von denen die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Dabei können Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und – nicht zuletzt – das Verschulden des Leistungsträgers ebenso wie das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG, SozR 3-1300 a.a.O. Nr. 2) berücksichtigt werden. Auf jeden Fall aber sind die sog. besonderen Härtetatbestände mit einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter und das psychische Befinden (Frehse, VersorgB 1987, S. 31 ff.), die familiäre Situation, unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten und auch solche besonderen Umstände, die es allgemein rechtfertigen, von einer besonderen Härte auszugehen. Das Vorliegen solcher Härtegesichtspunkte hat die Verwaltung im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. z.B. Grüner a.a.O., § 45 SGB X, Erl. III/7.). Ermessensentscheidungen – insbesondere dann, wenn Anlaß für die Einbeziehung von Härtegesichtspunkten besteht – sind dann als individuelle Einzelfallentscheidungen zu treffen, die auf jede Besonderheit abstellen und versuchen müssen, ihr gerecht zu werden. Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht hat. In dem angefochtenen Bescheid vom 11. Januar 1993 heißt es lediglich: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen hat der Beklagte jedoch gerade nicht auf den Einzelfall Bezug genommen und ist nicht auf die besondere Situation des Klägers eingegangen. Er hat nur auf alle ähnlichen bzw. vergleichbaren Fälle von denjenigen Leistungsempfängern verwiesen, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Die Ausführungen im Bescheid vom 11. Januar 1993 lassen nicht erkennen, inwieweit eine individuelle Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Auch im Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994, in dem der Beklagte eine Ermessensentscheidung noch hätte nachholen können, wird lediglich ausgeführt: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch hierin liegt zur Überzeugung des erkennenden Senates lediglich ein standardisierter, leerformelartiger Text vor, der in keinem Fall geeignet war und ist, auf die jeweils besondere Lebenslage der in den Teilstaaten der ehemaligen SFRJ, in denen Krieg herrschte, lebenden Leistungsempfänger einzugehen. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main deshalb darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren und in insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren benutzt worden ist. Dies ist, wie das Sozialgericht zur Überzeugung des Senates zutreffend ausgeführt hat, gerade ein entscheidender Hinweis darauf, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und auch nicht geprüft werden sollten. Zwar ist für den Bereich einer Massenverwaltung dem Beklagten gegenüber einzuräumen, daß er ohne die Verwendung von Textbausteinen heute nicht mehr würde arbeiten können. Dies steht einer sorgfältigen und auf den Einzelfall bezogenen Ermessenserwägung aber auch nicht entgegen. Neben der Verwendung von standardisierten Texten enthalten heutige Textverarbeitungssysteme ausreichende Möglichkeiten, um ergänzende Textteile einzufügen, in denen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt, gewürdigt und in die Begründung des Bescheides miteinbezogen werden können. Der Kläger war zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen in seiner Heimat betroffen. Er hat sich ausdrücklich darauf berufen, daß er zur Sicherung des Lebensunterhaltes für sich und seine Familie auf die seit der Erteilung des Anerkennungsbescheides im Jahre 1991 zufließenden Versorgungsleistungen angewiesen ist. Insoweit ist nicht auszuschließen, daß der Kläger, der trotz der bereits im Kindesalter erlittenen Verletzung und Erblindung einen Beruf erlernt und ausgeübt hat, nunmehr diese Beschäftigung verlieren und in große Not geraten könnte. Ein solcher Umstand hätte zumindest geeignet sein können, eine Ermessensentscheidung auch dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Der Senat kann dahinstehen lassen, ob eine solche Entscheidung richtig gewesen wäre und hätte ergehen können und dürfen. Auf jeden Fall hat der Beklagte schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in die Begründung des Bescheides und des Widerspruchsbescheides mit auf genommen hat.
Gerade weil sich der Beklagte darauf beruft, daß auch bei Berücksichtigung der zur Überzeugung des Senats zu diskutierenden Härtegesichtspunkte kein Verzicht auf die Rücknahme hätte erfolgen können, wird zur Überzeugung des Senates deutlich, daß ein Verwaltungsverfahren mit sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte eben gerade nicht stattgefunden hat und auch nicht hat stattfinden sollen. Nach übereinstimmender Auffassung in der Rechtsprechung aber kann im Klage- und Berufungsverfahren bezüglich des angegriffenen Rücknahmebescheides und des Widerspruchsbescheides die Ermessensprüfung durch den Beklagten nicht mehr nachgeholt werden. Zu Recht hat deshalb das Sozialgericht Frankfurt am Main die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Aus denselben Gesichtspunkten war auch die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
II. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X).
Der 1936 geborene Kläger lebt als Staatsbürger der Republik der früheren Teilrepublik der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik (SFRJ) in diesem Staat. Der Kläger erlitt im Oktober 1944 bei der Explosion einer Granate in seinem Heimatort bei schwere Verletzungen; er verlor das Sehvermögen sowie den linken Unterarm und zog sich einen Bruch des rechten Unterschenkels mit bleibenden Folgen zu. Der Kläger nahm später eine Tätigkeit als Telefonist auf. Am 2. Juni 1969 wurde er nach den kroatischen Vorschriften als Zivilkriegsopfer anerkannt; ihm wurde eine Invalidenrente als Blinder gewährt.
Am 29. Juli 1988 beantragte der Kläger erstmals beim Versorgungsamt Fulda die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem BVG und gab an, als achtjähriges Kind durch die Explosion einer Granate, die von Angehörigen der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges zurückgelassen worden war, schwer verletzt worden zu sein. Der Kläger legte den Bescheid über die Anerkennung als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatstaat vom 2. Juni 1969 sowie ärztliche Unterlagen und weitere Dokumente vor. Der Beklagte holte eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. S. vom 3. November 1988 ein, erkannte nach weiteren Ermittlungen durch Bescheid des Versorgungsamtes Fulda vom 30. Januar 1991 die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen ("1. Erblindung bei Verlust des linken Auges und Atrophie des rechten Augapfels, entstellende Narbenbildung im Gesicht; 2. Verlust des linken Unterarmes; 3. in Fehlstellung verheilter Unterschenkelbruch rechts, flächenhafte Narben am rechten Unterschenkel; 4. Narbenbildung an der Brustvorderwand”) als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte ihm Beschädigtenrente nebst Schwerstbeschädigten- und Pflegezulage bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. Zur Begründung wurde in dem Bescheid u.a. ausgeführt, daß die Leistung als sogenannte "Kannversorgung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG zuerkannt werde.
Durch Bescheide vom 3. Juni 1991 und 3. Juni 1992 wurde die dem Kläger gewährte Versorgung jeweils gemäß dem 20. BVG-Anpassungsgesetz in Verbindung mit § 48 SGB X angepaßt. Der Kläger erhielt zuletzt monatlich Bezüge in Form von Grundrente (432,00 DM), Schwerstbeschädigtenzulage Stufe II (81,00 DM) und Pflegezulage, Stufe III (250,00 DM), im Gesamtbetrag von 863,00 DM/Monat.
Durch Bescheid vom 11. Januar 1993 nahm das Versorgungsamt ohne vorherige Anhörung des Klägers den Bewilligungsbescheid vom 30. Janaur 1991 mit Wirkung vom 1. Februar 1993 unter Berufung auf § 45 SGB X zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Bewilligungsbescheid sei rechtswidrig gewesen, weil der Kläger wegen derselben Ursache Anspruch auf Zivilkriegsopferrente gegenüber seinem Heimatstaat gehabt habe und gemäß § 7 Abs. 2 BVG eine Doppelversorgung ausgeschlossen sein solle. Da diese gesetzliche Bestimmung bei Erteilung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nicht beachtet worden sei, habe dieser zurückgenommen werden müssen. Zwar setze die Rücknahme voraus, daß das Interesse des Bürgers an der Aufrechterhaltung des Vorteils nicht höher zu bewerten sei, als das öffentliche Interesse des Staates und der Allgemeinheit an der Beseitigung der Rechtswidrigkeit eines Bescheides. Die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides sei aber aus öffentlichem Interesse geboten, wobei zugunsten des Klägers berücksichtigt worden sei, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein im Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung gelegen habe. Daraus allein aber ergebe sich nicht die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers in den Bestand des Bescheides. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung im Heimatstaat könne jedoch nicht zu einer Ausübung des Ermessens zugunsten des Klägers führen, weil deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Klägers haben könnten. Gegen den am 11. Januar 1993 abgesandten Bescheid hat der Kläger mit Schreiben vom 20. Februar 1993, beim Versorgungsamt eingegangen am 19. März 1993, Widerspruch erhoben und u.a. geltend gemacht, daß er wegen der Kriegsverletzung bis an sein Lebensende auf die Pension angewiesen bleibe; seine Augenhöhlen seien leer und der Arm hänge. Die Entziehung der Rente zum gegenwärtigen Zeitpunkt, in dem in Kroatien wieder Krieg herrsche, beeinträchtige ihn besonders hart. Er könne nicht nachvollziehen, wieso der Bescheid, der nach eingehender Prüfung von den deutschen Verwaltungsbehörden erlassen worden sei, nunmehr rechtswidrig sein solle und die Versorgung ihm entzogen werde. Der Kläger hat sich weiter darauf berufen, daß die Fortzahlung der Versorgungsbezüge zur Sicherung der Existenz seiner fünfköpfigen Familie unerläßlich sei.
Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994 u.a. mit der Begründung zurück, es sei geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistung abgesehen werden könne. Zwar sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden aber bei Beziehern von Sozialleistungen vielfach vorliegen und könnten deshalb nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Gegen den ihm unter Vermittlung der Deutschen Botschaft in Zagreb mittels eingeschriebenem Brief am 24. Februar 1994 zugeleiteten Widerspruchsbescheid hat der Kläger die am 2. Mai 1994 beim Sozialgericht Frankfurt am Main eingegangene Klage erhoben. Der Kläger hat sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft und u.a. auf den Kriegszustand in seinem Heimatland hingewiesen sowie geltend gemacht, daß andere ihm persönlich bekannte zivile Kriegsopfer in Kroatien weiterhin Beschädigtenrente nach dem BVG erhielten.
Mit Urteil vom 13. Januar 1995 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben und zur Begründung u.a. ausgeführt, eine Aufhebung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X erfolgen können. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob der ursprüngliche Bewilligungsbescheid überhaupt rechtswidrig gewesen sei und auch, ob der Aufhebungsbescheid schon alleine deshalb rechtswidrig sei, weil vor Erlaß desselben, der in die Rechte des Klägers eingegriffen habe, keine Anhörung erfolgt sei. Der Beklagte habe jedenfalls von der ihm, auch nach Prüfung der Frage, ob das öffentliche Interesse an der Aufhebung das Interesse des Klägers am Bestand des Verwaltungsaktes überwiege, verbleibenden Verpflichtung zur Ausübung sachgerechten Ermessens in fehlerhafter Weise Gebrauch gemacht. In der Begründung sowohl des angefochtenen Bescheides wie auch des Widerspruchsbescheides habe der Beklagte nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Hinsichtlich des Rücknahmebescheides vom 11. Janaur 1993 sei dies schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und das beklagte Land folglich mangels aktueller Kenntnis der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung gar nicht habe vornehmen können. Entsprechendes gelte auch für die Ausführung zur Ermessensausübung in der Begründung des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 1994. Die dort gebrauchten Formulierungen deuteten darauf hin, daß das beklagte Land bei seiner Entscheidung gerade nicht auf die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalles abgestellt habe, sondern nur solche Aspekte, die für alle Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an Zivilkriegsopfer in der ehemaligen SFRJ zutreffen würden, gewürdigt habe. Das Fehlen jeglicher auf den Einzelfall bezogener Ausführungen zur Ermessensausübung zeige sich auch deutlich in der Verwaltungspraxis des beklagten Landes, das in allen dem vorliegenden vergleichbaren Fällen nach Kenntnis des Gerichts einheitlich entschieden habe. Es sei gerichtsbekannt, daß das beklagte Land nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 in ca. 300 Verwaltungsverfahren praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Diesen Schluß könne das Sozialgericht aufgrund der ihm bekannten Akten von ca. 100 vergleichbaren Streitverfahren ziehen. Aus der Tatsache, daß der Beklagte vor Erlaß des Widerspruchsbescheides keine Anhörung durchgeführt habe, könnte auch geschlossen werden, daß er gar nicht die Absicht gehabt habe, eine individuelle Einzelfallentscheidung zu treffen. Der Bescheid und der Widerpruchsbescheid seien deshalb wegen nicht ordnungsgemäßer Ausübung des Ermessens rechtswidrig und hätten aufgehoben werden müssen.
Gegen das ihm gegen Empfangsbekenntnis am 20. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte die am 30. März 1995 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung eingelegt. Er vertritt die Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall überhaupt kein Ermessensspielraum bestehe. Dies habe der 9. Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden. Soweit sich das erstinstanzliche Gericht für seine Auffassung, es sei Ermessen auszuüben gewesen (und nicht pflichtgemäß ausgeübt worden), auf Rechtsprechung anderer Senate des BSG beziehe, sei diese Rechtsprechung im sozialen Entschädigungsrecht nicht einschlägig. Im Falle des Klägers handele es sich um einen klassischen Regelfall, weshalb keinerlei Ermessen hätte ausgeübt werden müssen. Auch soweit das Sozialgericht meine, die Verwaltung habe überhaupt kein Ermessen ausgeübt, habe es den Text des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides nicht vollständig zur Kenntnis genommen. Es seien sowohl die Höhe der ausländischen Zivilkriegsopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relative Gesamteinkommen des Klägers in die Überlegungen einbezogen worden. Ermittlungen zu den aktuellen Einkommensverhältnissen seien nicht erforderlich gewesen, da zugunsten des Klägers dessen schwierige persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unterstellt worden seien. Auch soweit das Sozialgericht bemängele, daß der Beklagte die Auswirkungen der kriegerischen Auseinandersetzungen in der ehemaligen SFRJ nicht berücksichtigt habe, könne dem nicht gefolgt werden. Für die Auswirkungen des Bürgerkrieges, der mehr als 50 Jahre nach dem schädigenden Ereignis ausgebrochen sei, könnten deutsche Stellen keine Verantwortung übernehmen. Soweit sich das Sozialgericht an den gleichlautenden Texten störe, sei darauf hinzuweisen, daß die Formulierung mit Hilfe moderner technischer Hilfsmittel (Schreibcomputer, Textbausteine) erstellt worden sei, was kein Grund sein könne, dem Beklagten fehlende Überlegungen vorzuwerfen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 13. Januar 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, das er für zutreffend hält, und macht geltend, die Bundesrepublik Deutschland habe eine Verpflichtung, den von der deutschen Wehrmacht Geschädigten eine Entschädigung zukommen zu lassen. Er sei als kleines Kind durch Kriegsmaterial, das von den Deutschen zurückgelassen worden sei, schwer geschädigt worden und sei zur Sicherung seiner Existenz auf die Fortzahlung der Beschädigtenversorgung aus Deutschland angewiesen. In seinem Heimatstaat herrsche Krieg und Not. Auch Z., sein gegenwärtiger Wohnort, sei von diesen Kriegsereignissen nicht verschont geblieben.
Das Landessozialgericht hat beim Kläger angefragt, ob er weiterhin laufend eine Rente als Zivilkriegsopfer nach kroatischem Recht erhalte, was der Kläger bestätigt hat.
Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichts- und Verwaltungsakte (Beschädigtenakten des Versorgungsamtes Fulda, Grundlisten-Nr. XXX), die dem Senat vorgelegen haben und auszugsweise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung des Senats am 12. Juni 1997 und der Beratung gemacht worden sind.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung ist der Kläger, obwohl er ordnungsgemäß geladen worden war und auch darauf hingewiesen wurde, daß im Falle seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden könne, nicht erschienen und nicht vertreten gewesen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen und nicht vertreten war, weil mit der ordnungsgemäßen Ladung, die auf diplomatischem Wege erfolgte, darauf hingewiesen worden war, daß auch im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 110 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie an sich statthaft (§ 151 in Verbindung mit §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die Berufung ist sachlich jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat durch Urteil vom 13. Januar 1995 den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 und den Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994 zu Recht aufgehoben, weil diese Verwaltungsentscheidungen wegen fehlerhafter Ermessensausübung rechtswidrig sind und den Kläger beschweren (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Nach § 45 Abs. 1 SGB X nämlich "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus dieser Formulierung ergibt sich, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen der Abs. 2–4 von § 45 SGB X gegeben sind und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZ/Lw 11/82 = SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 = SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94 –; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –; vgl. auch Kasseler Kommentar – Steinwedel § 45 SGB X Rdnr. 52; Hauck/Haines a.a.O., K § 45 SGB X Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erläuterungen III. 7). Nur bei ganz wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf. So wird allgemein anerkannt, daß bei vorsätzlicher, betrügerischer Leistungserschleichung auf jeden Fall eine Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes erfolgen muß. Bereits für den Fall fahrlässiger Bösgläubigkeit im Hinblick auf wesentliche, für den Erlaß des rechtswidrigen Bescheides maßgebliche, Tatsachen (Abs. 2 Nrn. 2 und 3 von § 45 SGB X) wird in der neueren Rechtsprechung des BSG teilweise eine Ermessensreduzierung auf "Null” vertreten, teilweise aber auch nicht (vgl. BSG, SozR 3-1300 § 50 Nr. 16 einerseits und andererseits BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –).
Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9/9 a-Senates – wie dies vom Beklagten zutreffend ausgeführt worden ist – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf "Null” eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9a RVg 2/94 – = BSGE 60, 147 ff.). Begründet wird diese einschränkende Interpretation des § 45 SGB X unter Bezugnahme auf Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Kriegsopferrecht (KOVVfG). Diese Begründung hält der erkennende Senat jedoch nicht mehr für überzeugend, weil das SGB X sämtliche Verfahrensvorschriften der Sozialleistungsbereiche, für die es gilt, abgelöst hat und deshalb auch die Vorschriften des KOVVfG nicht mehr Anwendung finden. Die Regelungen des SGB X hatten die Vereinheitlichung des Verfahrensrechts und der für ein rechtsstaatliches Verfahren geltenden Maßstäbe im gesamten Sozialrecht zum Ziel. Besondere Regelungen und "bereichsspezifische” Interpretationen für Teile des Sozialleistungsrechts können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus den seit Erlaß des SGB X ergangenen und heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. So hat z.B. der parlamentarische Gesetzgeber für den Bereich der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und das Arbeitsförderungsrecht mit der am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Neufassung des § 152 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) klargestellt, daß das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in besonders gelagerten Fällen ausdrücklich eingeschränkt werden sollte. Der grundsätzliche Vorrang der Regelungen des SGB X und ihre einheitliche Interpretation sind auch im sozialen Entschädigungsrecht zu beachten. Normen, die nach Inkrafttreten des SGB X Geltung erlangt haben, und die eine Einschränkung der Notwendigkeit zur Ermessensausübung für die Versorgungsverwaltung begründen könnten, sind weder in der zitierten Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG angeführt noch vom Beklagten benannt worden; auch der erkennende Senat vermag solche nicht zu erkennen und/oder zu benennen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in den Regelfällen, wie sie in § 45 Abs. 2 SGB X normiert sind, es der Verwaltung schwer fallen wird, weitere Gesichtspunkte bei der Ermessensprüfung zu benennen, die nicht schon bereits bei der Prüfung des Vertrauenstatbestandes Erwähnung gefunden haben (vgl. hierzu Haus, SGb 1987, S. 190 ff.). Die gesetzliche Regelung schließt es jedoch nicht aus, bei der Ermessensausübung wieder auf die Gesichtspunkte zurückzugreifen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Kasseler Kommentar – Steinwedel, a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53 unter Bezugnahme auf BSGE 59, 157 ff., 169 f.). Die bislang – soweit erkennbar – vom 9/9 a-Senat des BSG noch ausdrücklich vertretene Auffassung zur Reduzierung des den Verwaltungsbehörden eingeräumten Ermessens auf "Null” kann der erkennende Senat, wie schon bisher, nicht zur Grundlage seiner Entscheidungen machen (vgl. HLSG, Urteile vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 – und vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-124/94 – und – L-5/V-343/95 –).
Jedenfalls für den vorliegenden Fall geht der Senat davon aus, daß es sich nicht um einen solchen Regelfall handelt, bei dem die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die besonderen Umstände des Klägers vermissen ließen, von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen. Insoweit handelt es sich um den Fall des Ermessensfehlgebrauchs durch "Ermessensunterschreitung” (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 5. Aufl., § 54 Rdnrn. 25, 30). Von Ermessensunterschreitung wird gesprochen, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Spielraum irrtümlich zu eng einschätzt oder wenn sie grob gegen Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind, verstößt (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 30).
Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die sorgfältige und differenzierte Ermittlungen erforderlich und – nachfolgend – eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen. Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der Entscheidung in Kroatien, einem Teil der ehemaligen SFRJ, in dem Krieg herrschte, bei dem es zu teilweise völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien kam. Er hat geltend gemacht, daß seine wirtschaftliche Existenz von Leistungen nach dem BVG – auch wenn sie rechtswidrig bewilligt sein sollten – abhänge und aufs äußerste gespannt und bedroht war. Soweit man nicht allein die Tatsache, daß der Kläger zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen beeinträchtigt worden war, für ausreichend hält, um zusätzliche weitere Ermessenserwägungen zu fordern, so ist der Beklagte jedoch in keiner Weise erkennbar dem Vorbringen des Klägers weiter nachgegangen, daß der vollständige Entzug der seit Erlaß des Bescheides im Jahre 1991 bewilligten Leistung für ihn eine besondere Härte bedeuten würde und zur Verarmung des Klägers sowie zu Versorgungsschwierigkeiten für seine Familie führen müßte. Auch hat der Beklagte den Gesundheitszustand des Klägers und seine besonders schwierige Lage als Blinder nicht gesondert und besonders berücksichtigt, obwohl der Kläger ausdrücklich darauf hingewiesen hat. Insoweit erweisen sich die von dem Beklagten angestellten Ermessenserwägungen zur Überzeugung des Senates als rechtlich nicht haltbar, weil der Beklagte Härtegesichtspunkte nicht weiter aufgeklärt hat und deshalb von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch machen konnte. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nrn. 2 und 5). Ermessen ist dann von den Gerichten allein daraufhin zu überprüfen, ob von der Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt worden sind (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, Kasseler Kommentar, Steinwedel a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53). Um die Ermessensentscheidung überhaupt einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich zu machen, sieht aber § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X vor, daß bei einem Verwaltungsakt, der nach pflichtgemäßem Ermessen ergeht, die wesentlichen Gesichtspunkte schriftlich mitgeteilt werden müssen, von denen die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Dabei können Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und – nicht zuletzt – das Verschulden des Leistungsträgers ebenso wie das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG, SozR 3-1300 a.a.O. Nr. 2) berücksichtigt werden. Auf jeden Fall aber sind die sog. besonderen Härtetatbestände mit einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter und das psychische Befinden (Frehse, VersorgB 1987, S. 31 ff.), die familiäre Situation, unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten und auch solche besonderen Umstände, die es allgemein rechtfertigen, von einer besonderen Härte auszugehen. Das Vorliegen solcher Härtegesichtspunkte hat die Verwaltung im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. z.B. Grüner a.a.O., § 45 SGB X, Erl. III/7.). Ermessensentscheidungen – insbesondere dann, wenn Anlaß für die Einbeziehung von Härtegesichtspunkten besteht – sind dann als individuelle Einzelfallentscheidungen zu treffen, die auf jede Besonderheit abstellen und versuchen müssen, ihr gerecht zu werden. Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht hat. In dem angefochtenen Bescheid vom 11. Januar 1993 heißt es lediglich: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen hat der Beklagte jedoch gerade nicht auf den Einzelfall Bezug genommen und ist nicht auf die besondere Situation des Klägers eingegangen. Er hat nur auf alle ähnlichen bzw. vergleichbaren Fälle von denjenigen Leistungsempfängern verwiesen, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Die Ausführungen im Bescheid vom 11. Januar 1993 lassen nicht erkennen, inwieweit eine individuelle Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Auch im Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994, in dem der Beklagte eine Ermessensentscheidung noch hätte nachholen können, wird lediglich ausgeführt: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch hierin liegt zur Überzeugung des erkennenden Senates lediglich ein standardisierter, leerformelartiger Text vor, der in keinem Fall geeignet war und ist, auf die jeweils besondere Lebenslage der in den Teilstaaten der ehemaligen SFRJ, in denen Krieg herrschte, lebenden Leistungsempfänger einzugehen. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main deshalb darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren und in insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren benutzt worden ist. Dies ist, wie das Sozialgericht zur Überzeugung des Senates zutreffend ausgeführt hat, gerade ein entscheidender Hinweis darauf, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und auch nicht geprüft werden sollten. Zwar ist für den Bereich einer Massenverwaltung dem Beklagten gegenüber einzuräumen, daß er ohne die Verwendung von Textbausteinen heute nicht mehr würde arbeiten können. Dies steht einer sorgfältigen und auf den Einzelfall bezogenen Ermessenserwägung aber auch nicht entgegen. Neben der Verwendung von standardisierten Texten enthalten heutige Textverarbeitungssysteme ausreichende Möglichkeiten, um ergänzende Textteile einzufügen, in denen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt, gewürdigt und in die Begründung des Bescheides miteinbezogen werden können. Der Kläger war zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen in seiner Heimat betroffen. Er hat sich ausdrücklich darauf berufen, daß er zur Sicherung des Lebensunterhaltes für sich und seine Familie auf die seit der Erteilung des Anerkennungsbescheides im Jahre 1991 zufließenden Versorgungsleistungen angewiesen ist. Insoweit ist nicht auszuschließen, daß der Kläger, der trotz der bereits im Kindesalter erlittenen Verletzung und Erblindung einen Beruf erlernt und ausgeübt hat, nunmehr diese Beschäftigung verlieren und in große Not geraten könnte. Ein solcher Umstand hätte zumindest geeignet sein können, eine Ermessensentscheidung auch dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Der Senat kann dahinstehen lassen, ob eine solche Entscheidung richtig gewesen wäre und hätte ergehen können und dürfen. Auf jeden Fall hat der Beklagte schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in die Begründung des Bescheides und des Widerspruchsbescheides mit auf genommen hat.
Gerade weil sich der Beklagte darauf beruft, daß auch bei Berücksichtigung der zur Überzeugung des Senats zu diskutierenden Härtegesichtspunkte kein Verzicht auf die Rücknahme hätte erfolgen können, wird zur Überzeugung des Senates deutlich, daß ein Verwaltungsverfahren mit sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte eben gerade nicht stattgefunden hat und auch nicht hat stattfinden sollen. Nach übereinstimmender Auffassung in der Rechtsprechung aber kann im Klage- und Berufungsverfahren bezüglich des angegriffenen Rücknahmebescheides und des Widerspruchsbescheides die Ermessensprüfung durch den Beklagten nicht mehr nachgeholt werden. Zu Recht hat deshalb das Sozialgericht Frankfurt am Main die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Aus denselben Gesichtspunkten war auch die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
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