Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 2766/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 132/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 25. November 1994 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1932 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien.
Erstmals am 6. Juni 1989 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, am 11. Juni 1944 durch liegengebliebenes Kriegsmaterial verletzt worden zu sein. Er habe durch eine Explosion den linken Arm im Unterarm und das linke Auge verloren. Ferner habe er zahlreiche Narben im Bereich des Gesichtes. Er sei zu 90 % invalide und deshalb als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt. Er erhalte dementsprechende Invalidenrente. Er legte hierüber Zahlungsbelege vor. Nach weiteren Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 25. Juli 1991 die geltend gemachten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 v.H. Zur Begründung führte der Beklagte u.a. aus, daß die Leistung als sog. "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides in der Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten. Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 23. Februar 1993 Widerspruch ein und trug vor, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und er deshalb weiterhin die Auszahlung der Rente begehre. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand treffe bei Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Am 1. November 1993 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung von Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen. Ferner hat er vorgetragen, daß sein Haus am 13. Dezember 1991 durch Kriegseinwirkungen gebrannt habe und durch die Sprengung der Kirche in unmittelbarer Nähe erheblich beeinträchtigt worden sei. Es handele sich um einen 100 %-igen Schaden seines Hauses. Sein Eigentum sei völlig zerstört und er bitte als humanitäre Hilfe um weitere Gewährung der Rente. Durch diese Rente allein sei es ihm möglich, weiterhin wirtschaftlich zu existieren.
Mit Urteil vom 25. November 1994 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Formulierung benutzt wurde. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen das am 2. Februar 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 15. Februar 1995 beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Einzelfall kein Ermessen auszuüben sei. Dies habe der 9/9 a-Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Außerdem ergäbe sich aus den Texten des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relative geringe Einkommen in die Überlegung miteinbezogen worden seien. Schließlich könnten die derzeitigen Auswirkungen des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien nicht berücksichtigt werden. Denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem 2. Weltkrieg entbrannt sei, könne die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich gemacht werden.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 25. November 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger wiederholt im wesentlichen seine Widerspruchs- und Klagebegründung. Er ist der Ansicht, daß er weiterhin Anspruch auf Versorgungsleistungen habe und die Entziehung rechtswidrig sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte trotz Nichterscheinens des Kägers in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Ladung einen entsprechenden Hinweis enthielt (§ 10 Abs. 1 S. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§ 151 Abs. 1, §§ 143, 144 Abs. 1 SGG).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 25. November 1994 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig und beschweren den Kläger (§ 54 Abs. 2 SGG).
Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2 bis 4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hessisches Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995, L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95), entschieden, daß die Rücknahme der Bescheide rechtswidrig war. Diese Urteile sind bekannt und der Senat nimmt vollinhaltlich hierauf Bezug.
Entscheidend ist hiernach, daß die Entscheidung der Bewilligung von Versorgungsleistungen allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 8 RV 188/75; Urteil vom 20. Mai 1992 – 9a RV 11/91 und 9a RV 12/91; zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9a RV 39/92) entschieden, daß zivile Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach, dem BVG haben. Entscheidend ist grundsätzlich nur der Anspruch. Unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Der ehemalige Staat Jugoslawien gewährte auch Versorgungsleistungen. Der selbständige Staat Kroatien hat insoweit die früheren jugoslawischen Rechtsnormen auch übernommen.
Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat sieht im vorliegenden Fall keinen Regelfall, der jegliche Ermessenserwägungen der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Der Beklagte hat von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen und die Umstände des Klägers bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Es liegt eine sog. Ermessensunterschreitung vor, denn es wurden dieselben Formulierungen für eine Vielzahl von Fällen genutzt und damit die Verhältnisse nur pauschal, nicht aber alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt; jedenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Kläger lebt bzw. lebte in den Jahren 1991 bis 1993 in einem Kriegsgebiet. Zum Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung durch den Beklagten hatte der Kläger, wie er selbst vorgetragen hat, durch die Kriegseinwirkungen sein Haus verloren, weshalb er dringend auf die Rente nach dem BVG angewiesen gewesen sei. Dieser Fall war auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung tatsächlich hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrundegelegt und auch, nicht in der Begründung der Bescheide dargelegt hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1932 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien.
Erstmals am 6. Juni 1989 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, am 11. Juni 1944 durch liegengebliebenes Kriegsmaterial verletzt worden zu sein. Er habe durch eine Explosion den linken Arm im Unterarm und das linke Auge verloren. Ferner habe er zahlreiche Narben im Bereich des Gesichtes. Er sei zu 90 % invalide und deshalb als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt. Er erhalte dementsprechende Invalidenrente. Er legte hierüber Zahlungsbelege vor. Nach weiteren Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 25. Juli 1991 die geltend gemachten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 70 v.H. Zur Begründung führte der Beklagte u.a. aus, daß die Leistung als sog. "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides in der Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten. Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 23. Februar 1993 Widerspruch ein und trug vor, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und er deshalb weiterhin die Auszahlung der Rente begehre. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand treffe bei Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Am 1. November 1993 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung von Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen. Ferner hat er vorgetragen, daß sein Haus am 13. Dezember 1991 durch Kriegseinwirkungen gebrannt habe und durch die Sprengung der Kirche in unmittelbarer Nähe erheblich beeinträchtigt worden sei. Es handele sich um einen 100 %-igen Schaden seines Hauses. Sein Eigentum sei völlig zerstört und er bitte als humanitäre Hilfe um weitere Gewährung der Rente. Durch diese Rente allein sei es ihm möglich, weiterhin wirtschaftlich zu existieren.
Mit Urteil vom 25. November 1994 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Formulierung benutzt wurde. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen das am 2. Februar 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 15. Februar 1995 beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Einzelfall kein Ermessen auszuüben sei. Dies habe der 9/9 a-Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Außerdem ergäbe sich aus den Texten des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relative geringe Einkommen in die Überlegung miteinbezogen worden seien. Schließlich könnten die derzeitigen Auswirkungen des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien nicht berücksichtigt werden. Denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem 2. Weltkrieg entbrannt sei, könne die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich gemacht werden.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 25. November 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger wiederholt im wesentlichen seine Widerspruchs- und Klagebegründung. Er ist der Ansicht, daß er weiterhin Anspruch auf Versorgungsleistungen habe und die Entziehung rechtswidrig sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte trotz Nichterscheinens des Kägers in der mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Ladung einen entsprechenden Hinweis enthielt (§ 10 Abs. 1 S. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§ 151 Abs. 1, §§ 143, 144 Abs. 1 SGG).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 25. November 1994 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig und beschweren den Kläger (§ 54 Abs. 2 SGG).
Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2 bis 4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hessisches Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995, L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95), entschieden, daß die Rücknahme der Bescheide rechtswidrig war. Diese Urteile sind bekannt und der Senat nimmt vollinhaltlich hierauf Bezug.
Entscheidend ist hiernach, daß die Entscheidung der Bewilligung von Versorgungsleistungen allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 8 RV 188/75; Urteil vom 20. Mai 1992 – 9a RV 11/91 und 9a RV 12/91; zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9a RV 39/92) entschieden, daß zivile Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach, dem BVG haben. Entscheidend ist grundsätzlich nur der Anspruch. Unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Der ehemalige Staat Jugoslawien gewährte auch Versorgungsleistungen. Der selbständige Staat Kroatien hat insoweit die früheren jugoslawischen Rechtsnormen auch übernommen.
Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat sieht im vorliegenden Fall keinen Regelfall, der jegliche Ermessenserwägungen der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Der Beklagte hat von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen und die Umstände des Klägers bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt. Es liegt eine sog. Ermessensunterschreitung vor, denn es wurden dieselben Formulierungen für eine Vielzahl von Fällen genutzt und damit die Verhältnisse nur pauschal, nicht aber alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt; jedenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Kläger lebt bzw. lebte in den Jahren 1991 bis 1993 in einem Kriegsgebiet. Zum Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung durch den Beklagten hatte der Kläger, wie er selbst vorgetragen hat, durch die Kriegseinwirkungen sein Haus verloren, weshalb er dringend auf die Rente nach dem BVG angewiesen gewesen sei. Dieser Fall war auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung tatsächlich hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrundegelegt und auch, nicht in der Begründung der Bescheide dargelegt hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
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