Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 2361/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 36/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. Oktober 1994 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1933 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsbürger seinen Wohnsitz in der Republik ...
Erstmals am 19. April 1988 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, am 2. August 1944 durch die Explosion einer Flugzeugbombe schwer an Kopf und Augen verletzt worden zu sein. Er sei auf beiden Augen erblindet. Infolge dieses Ereignisses sei er als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt und erhalte dementsprechende Invalidenrente. Nach weiteren Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 14. Januar 1991
"1. Verlust des rechten, Erblindung des linken Auges 2. Narben, Verkürzung und in erheblicher Fehlstellung verheilter Bruch des linken Unterschenkels mit nichtkompensierter Instabilität des linken Kniegelenkes”
als Schädigungsfolge an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. sowie Schwerstbeschädigtenzulage Stufe I und Pflegezulage Stufe III ab 1. März 1991. Zur Begründung führte der Beklagte unter anderem aus, daß die Leistung als sogenannte "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung vom 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in der Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 11. Februar 1993 Widerspruch ein und trug vor, er sei davon ausgegangen, daß er diese Rente rechtmäßig erhalten habe. Er habe nichts verheimlicht oder verschwiegen und alle Unterlagen vorgelegt. Er könne nicht verstehen, wieso der seinerzeitige Rentenbescheid zurückgenommen werde. Durch Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand treffe bei Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Am 27. September 1993 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen. Er hat ergänzend vorgetragen, daß er total blind sei und umgerechnet von 30,00 DM Rente leben müßte, deshalb sei er dringend auf fremde Hilfe angewiesen.
Mit Urteil vom 28. Oktober 1994 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Formulierung benutzt wurde. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen das am 6. Januar 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 16. Januar 1995 beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall kein Ermessen auszuüben sei. Dies habe der 9/9 a Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Außerdem ergebe sich aus dem Text des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegungen miteinbezogen worden seien. Schließlich könnten die derzeitigen Auswirkungen des Bürgerkrieges im ehemaligen nicht berücksichtigt werden. Denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt sei, sei die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. Oktober 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger wiederholt im wesentlichen seine Widerspruchs- und Klagebegründung. Er ist der Ansicht, daß er weiterhin Anspruch auf Versorgungsleistungen habe und die Entziehung rechtswidrig sei.
Der Senat hat mit gerichtlichem Schreiben vom 24. September 1996 die Urteile des Senates vom 14. Dezember 1995 (L-5/V-345/95 und L-5/V-1221/94) in vergleichbaren Fällen in das Verfahren eingeführt.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden, da beide Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 in Verbindung mit §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 28. Oktober 1994 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.
Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2–4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hessisches Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95 –) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Diese Urteile sind bereits in das Verfahren eingeführt. Der Senat nimmt vollinhaltlich hierauf Bezug.
Entscheidend ist hiernach, daß die Entscheidung der Bewilligung von Versorgungsleistungen allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 8 RV 188/75; Urteile vom 20. Mai 1992 – 9a RV 11/91 und 9a RV 12/91 –, zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9a RV 39/92 –) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Der ehemalige Teilstaat der früheren SFR Jugoslawien gewährte auch Versorgungsleistungen, Der selbständige Staat "Republik ” hat insoweit die früher geltenden Rechtsnormen auch übernommen; sie gelten – zum Teil modifiziert – grundsätzlich weiter.
Entscheidend ist auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, weshalb die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat sieht im vorliegenden Fall keinen Regelfall, der jegliche Ermessenserwägung der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung, weil der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht hat, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen. Es liegt eine sogenannte Ermessensunterschreitung vor. Denn es wurden dieselben Formulierungen für eine Vielzahl von Fällen genutzt und damit die Verhältnisse nur pauschal berücksichtigt, aber nicht alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, jedenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden müssen. Der Kläger selbst hat bereits vorgetragen, daß er als Blinder vermehrt auf fremde Hilfe angewiesen ist. Er erhalte nur eine Rente von ca. 30,00 DM. In der Erblindung selbst sieht der Senat, wie in vergleichbaren Fällen, eine besondere Betroffenheit. Die Umstände dieses Falles waren auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in der Begründung der Bescheide dargetan hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1933 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsbürger seinen Wohnsitz in der Republik ...
Erstmals am 19. April 1988 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, am 2. August 1944 durch die Explosion einer Flugzeugbombe schwer an Kopf und Augen verletzt worden zu sein. Er sei auf beiden Augen erblindet. Infolge dieses Ereignisses sei er als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt und erhalte dementsprechende Invalidenrente. Nach weiteren Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 14. Januar 1991
"1. Verlust des rechten, Erblindung des linken Auges 2. Narben, Verkürzung und in erheblicher Fehlstellung verheilter Bruch des linken Unterschenkels mit nichtkompensierter Instabilität des linken Kniegelenkes”
als Schädigungsfolge an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. sowie Schwerstbeschädigtenzulage Stufe I und Pflegezulage Stufe III ab 1. März 1991. Zur Begründung führte der Beklagte unter anderem aus, daß die Leistung als sogenannte "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung vom 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in der Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 11. Februar 1993 Widerspruch ein und trug vor, er sei davon ausgegangen, daß er diese Rente rechtmäßig erhalten habe. Er habe nichts verheimlicht oder verschwiegen und alle Unterlagen vorgelegt. Er könne nicht verstehen, wieso der seinerzeitige Rentenbescheid zurückgenommen werde. Durch Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand treffe bei Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Am 27. September 1993 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen. Er hat ergänzend vorgetragen, daß er total blind sei und umgerechnet von 30,00 DM Rente leben müßte, deshalb sei er dringend auf fremde Hilfe angewiesen.
Mit Urteil vom 28. Oktober 1994 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Formulierung benutzt wurde. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen das am 6. Januar 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 16. Januar 1995 beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall kein Ermessen auszuüben sei. Dies habe der 9/9 a Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Außerdem ergebe sich aus dem Text des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegungen miteinbezogen worden seien. Schließlich könnten die derzeitigen Auswirkungen des Bürgerkrieges im ehemaligen nicht berücksichtigt werden. Denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt sei, sei die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 28. Oktober 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger wiederholt im wesentlichen seine Widerspruchs- und Klagebegründung. Er ist der Ansicht, daß er weiterhin Anspruch auf Versorgungsleistungen habe und die Entziehung rechtswidrig sei.
Der Senat hat mit gerichtlichem Schreiben vom 24. September 1996 die Urteile des Senates vom 14. Dezember 1995 (L-5/V-345/95 und L-5/V-1221/94) in vergleichbaren Fällen in das Verfahren eingeführt.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden, da beide Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 in Verbindung mit §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 28. Oktober 1994 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.
Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2–4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hessisches Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95 –) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Diese Urteile sind bereits in das Verfahren eingeführt. Der Senat nimmt vollinhaltlich hierauf Bezug.
Entscheidend ist hiernach, daß die Entscheidung der Bewilligung von Versorgungsleistungen allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 8 RV 188/75; Urteile vom 20. Mai 1992 – 9a RV 11/91 und 9a RV 12/91 –, zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9a RV 39/92 –) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Der ehemalige Teilstaat der früheren SFR Jugoslawien gewährte auch Versorgungsleistungen, Der selbständige Staat "Republik ” hat insoweit die früher geltenden Rechtsnormen auch übernommen; sie gelten – zum Teil modifiziert – grundsätzlich weiter.
Entscheidend ist auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, weshalb die angefochtenen Bescheide rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat sieht im vorliegenden Fall keinen Regelfall, der jegliche Ermessenserwägung der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung, weil der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht hat, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen. Es liegt eine sogenannte Ermessensunterschreitung vor. Denn es wurden dieselben Formulierungen für eine Vielzahl von Fällen genutzt und damit die Verhältnisse nur pauschal berücksichtigt, aber nicht alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, jedenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden müssen. Der Kläger selbst hat bereits vorgetragen, daß er als Blinder vermehrt auf fremde Hilfe angewiesen ist. Er erhalte nur eine Rente von ca. 30,00 DM. In der Erblindung selbst sieht der Senat, wie in vergleichbaren Fällen, eine besondere Betroffenheit. Die Umstände dieses Falles waren auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in der Begründung der Bescheide dargetan hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
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