Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 2289/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 1221/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1994 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X).
Der 1930 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien. Erstmals am 25. August 1989 beantragte er beim Versorgungsamt Fulda die Gewährung von Beschädigtenversorgung mit der Begründung, er sei als Kind während des Zweiten Weltkriegs in seiner Heimat schwer geschädigt worden. Im März 1943 habe er auf einer Wiese Vieh gehütet, dabei sei neben ihm eine Bombe explodiert. Deshalb sei bei ihm der rechte Unterarm amputiert worden und er habe das rechte Auge verloren. Wegen dieser Schädigung erhalte er in seiner Heimat Rente als ziviles Kriegsopfer. Zur weiteren Begründung fügte er mehrere Unterlagen bei, u.a. auch einen Zahlungsbeleg über seine Rente als ziviles Kriegsopfer. Nach weiteren Ermittlungen erkannte das Versorgungsamt Fulda mit Bescheid vom 21. Januar 1991 die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte ihm Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v.H. Zur Begründung führte es u.a. aus, daß die Leistung als sogenannte "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm das Versorgungsamt Fulda ohne vorherige Anhörung des Klägers durch Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück. Zur Begründung führte es aus, der Bewilligungsbescheid sei rechtswidrig gewesen, da der Kläger wegen derselben Ursache einen Invalidenrentenanspruch gegen seinen Heimatstaat habe. Eine Doppelversorgung sei jedoch gemäß § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Da diese gesetzliche Vorschrift bei Erteilung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nicht beachtet worden sei, sei dieser Bescheid rechtswidrig. Eine Rücknahme setze zwar voraus, daß das Interesse des Bürgers an der Aufrechterhaltung des Vorteils nicht höher zu bewerten sei, als das öffentliche Interesse des Staates und der Allgemeinheit an der Beseitigung der Rechtswidrigkeit. Die Beseitigung dieses rechtswidrigen Bescheides sei aus öffentlichem Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen der rechtswidrigen Bescheide allein in den Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung falle. Hieraus ergebe sich jedoch nicht die Schutzwürdigkeit dieses Vertrauens. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zu einer Ermessensausübung zugunsten des Klägers führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 16. Februar 1993 Widerspruch ein und hob hervor, daß er als ehemaliger Bürger der seitens der Serben zerstörten Stadt V. als Vertriebener nunmehr in Z. lebe und sowohl er als auch seine Familie äußerst bedürftig seien. Mit Schriftsatz vom 4. Januar 1992 hatte er zuvor dem Versorgungsamt mitgeteilt, daß er ein Haus in B. besessen habe, dies sei durch Granaten zerstört worden. Nun sei auch er Opfer dieses verrückten Krieges geworden. Mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück und führte u.a. aus, es sei ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden könne. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden bei Sozialleistungen vielfach zutreffen und könnten bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 22. September 1993 vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) Klage erhoben. Er hat die Ansicht geäußert, die Entziehung der Versorgungsleistungen sei rechtswidrig und habe nicht erfolgen dürfen.
Mit Urteil vom 7. Oktober 1994 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X erfolgen können. Es könne insoweit dahingestellt bleiben, ob der ursprüngliche Verwaltungsakt überhaupt rechtswidrig gewesen sei und ob der Aufhebungsbescheid vielleicht schon deshalb rechtswidrig sei, weil vor Erlaß dieses in die Rechte des Bürgers eingreifenden Verwaltungsaktes keine Anhörung erfolgt sei. Jedenfalls habe der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht. Der Beklagte habe in seinen Entscheidungen nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Hinsichtlich des Rücknahmebescheids sei dies schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und das beklagte Land folglich mangels aktueller Kenntnis der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung gar nicht vornehmen konnte. Gleiches gelte für die Ausführungen zur Ermessensausübung in der Begründung des Widerspruchsbescheids. Die dort gebrauchten Formulierungen deuteten darauf hin, daß das beklagte Land bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge hatte, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an Zivilkriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit in den Ausführungen zum Ermessen werde aber besonders deutlich durch die Verwaltungspraxis des beklagten Landes in Fällen wie dem vorliegenden. Es sei gerichtsbekannt, daß das beklagte Land nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rückforderung eingeleitet habe. Tatsächlich dürfte das beklagte Land in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen haben. Dieser Schluß lasse sich aufgrund des dem Gericht bekannten Akteninhalts von ca. 100 vergleichbaren Streitsachen ziehen. Auch aus der Tatsache, daß der Beklagte vor Erlaß des Widerspruchsverfahrens keine Anhörung durchgeführt habe, lasse sich schließen, daß er nicht die Absicht gehabt habe, individuelle Einzelfallentscheidungen zu treffen. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien deshalb wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben.
Gegen das ihm am 9. Dezember 1994 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner am 21. Dezember 1994 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangenen Berufung. Er ist der Ansicht, bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X sei im sozialen Entschädigungsrecht wenigstens im Regelfall überhaupt kein Ermessen auszuüben. Dies habe der 9/9 a Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Soweit sich das erstinstanzliche Gericht für seine Ansicht, es sei Ermessen auszuüben, auf Rechtsprechung anderer Senate des BSG beziehe, sei diese im sozialen Entschädigungsrecht nicht einschlägig. Im hier anhängigen Rechtsstreit liege jedoch ein klassischer Regelfall vor. Es hätte deshalb kein Ermessen ausgeübt werden müssen. Soweit das Sozialgericht meine, die Verwaltung habe überhaupt kein Ermessen ausgeübt, könne dem nicht gefolgt werden. Dies ergebe sich aus den Texten des angefochtenen Bescheids und des Widerspruchsbescheids. Es seien sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegungen einbezogen worden. Ermittlungen der aktuellen Einkommensverhältnisse seien nicht mehr erforderlich gewesen, da zugunsten des Klägers seine schwierigen persönlichen Verhältnisse als bekannt vorausgesetzt und unterstellt worden seien. Schließlich bemängele das Sozialgericht, daß der Beklagte die Auswirkungen des derzeitigen Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien nicht geprüft und entsprechend berücksichtigt habe. Es gehe im vorliegenden Fall aber um die Spätauswirkungen des Zweiten Weltkrieges. Für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert später entbrannt sei, sei die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich. Der Kläger habe zwar mitgeteilt, daß er durch den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien sein Haus verloren habe. Bei der Ermessensausübung hätte dieser Umstand aber nicht zu einem Verzicht auf die Rücknahme führen können.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, der Rücknahmebescheid sei rechtswidrig, weil der Beklagte sein Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt habe. Eine Ermessensausübung sei aber zwingend erforderlich gewesen, da schon die Gewährung der Leistung als Ermessensleistung erfolgte. Wenn aber die Leistungsgewährung im Wege der Ermessensentscheidung erfolge, müsse auch bei der Entziehung Ermessen ausgeübt werden. Insoweit sei die Rechtsprechung des 9. Senates des BSG nicht einschlägig. Vorsorglich werde geltend gemacht, daß diese Rechtsprechung auch nur für den Regelfall zutreffe. Ein Regelfall liege jedoch nicht vor.
In der mündlichen Verhandlung war der Kläger weder erschienen noch vertreten.
Wegen des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Über die Berufung konnte der Senat trotz Abwesenheit des Klägers aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden, weil er in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§§ 110, 124 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§ 151 i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Berufung ist sachlich jedoch unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 7. Oktober 1994 den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat und der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2). Auf das Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit
1) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Abs. 2 Satz 3).
Ein ursprünglich rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt liegt vor, denn das Versorgungsamt Fulda gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 21. Januar 1991 Versorgungsleistungen, obwohl er gleichzeitig Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat bezog. Diese Doppelversorgung ist jedoch nach § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung hierzu entschieden, daß einem Kriegsopfer, welches von seinem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhält, deutsche Versorgungsleistungen auch nicht im Rahmen der Ermessensentscheidung mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit nach § 8 BVG gewährt werden dürfen. Zunächst hat das BSG dies für ein Kriegsopfer festgestellt, das von seinem Heimatland Frankreich ähnliche Versorgungsleistungen erhielt, wie sie das BVG vorsieht (BSG in SozR 3100 § 7 Nr. 2). In mehreren Urteilen hat es sodann festgestellt, daß dies auch gilt, wenn die Versorgungsleistungen des Heimatlandes gegenüber der deutschen Versorgung erheblich geringer sind (BSG in SozR 3 – 3100 § 7 Nr. 1 und Nr. 2). Diesen Entscheidungen lagen insbesondere auch Fälle zugrunde, die von dem ehemaligen Staat Jugoslawien Versorgungsleistungen als zivile Kriegsopfer erhielten (BSG in SozR 3 – 3100 § 7 Nr. 1). Dieser Personenkreis hat auch heute noch, wie dem Senat aus mehreren gleichartigen Fällen bekannt ist, Ansprüche als zivile Kriegsopfer, denn zumindest die selbständigen Staaten Bosnien-Herzegowina, Slowenien und Kroatien haben insoweit die früheren jugoslawischen Rechtsnormen übernommen. Es kann hierbei dahingestellt bleiben, ob diese Staaten derzeit tatsächlich auch die Geldleistungen erbringen, denn darauf kommt es nach der Rechtsprechung des BSG nicht an (BSG a.a.O.). Es reicht vielmehr aus, daß die Geschädigten einen Anspruch gegen ihren Heimatstaat haben. Da der Bescheid des Versorgungsamtes Fulda vom 21. Januar 1991 somit rechtswidrig war und ist, konnte der Beklagte in das Verfahren nach § 45 SGB X eintreten.
Der angegriffene Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 1993 ist dabei nicht schon deshalb rechtswidrig, weil vor seinem Erlaß keine Anhörung erfolgte. Zwar ist gemäß § 24 Abs. 1 SGB X einem Betroffenen vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in seine Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Vorliegend konnte auch nicht nach § 24 Abs. 2 SGB X von der Anhörung abgesehen werden. Insbesondere § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X findet keine Anwendung, denn es liegen keine "gleichartigen Verwaltungsakte größerer Zahl” vor. Zwar hat der Beklagte, wie er selbst vorgetragen hat, in ca. 300 ähnlichen Fällen Rückforderungsansprüche geltend gemacht. Gleichartige Verwaltungsakte im Sinne des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X liegen jedoch nur dann vor, wenn die Verwaltungsakte aufgrund weniger, typisierter Grundmerkmale formularmäßig ergehen können und keine eingehenden individuellen Ermittlungen notwendig sind (vgl. Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch, § 24 Rdz. 16). Bei Aufhebungsbescheiden nach § 45 SGB X sind jedoch regelmäßig individuelle Ermittlungen und Abwägungen notwendig; dies geht schon aus dem Gesetzestext hervor. Ob der Beklagte sich auf § 24 Abs. 2 Nr. 2 SGB X berufen kann, konnte nicht festgestellt werden, denn er hat keine Tatsachen vorgetragen, weswegen er erst im Januar 1993 in das Verfahren eingetreten ist. Wie oben dargestellt, hat das BSG seine Rechtsprechung zur Unzulässigkeit einer Doppelversorgung schon mit Urteil vom 25. November 1976 (SozR 3100 § 7 Nr. 2) begründet. Auch das letztlich nur klarstellende Urteil zur Auslandsversorgung in Jugoslawien erging schon am 20. Mai 1992 (BSG SozR 3 – 3100 § 7 Nr. 1). In diesem Fall war der Beklagte Beteiligter, denn er ist zuständig für Auslandsversorgung auf dem Staatsgebiet des ehemaligen Jugoslawien. Von den tragenden Gründen dieser Entscheidung muß er somit innerhalb kürzester Zeit informiert gewesen sein. Dies kann jedoch letztlich dahingestellt bleiben, denn der ursprüngliche Mangel des Anhörungsverfahrens ist gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden, weil dem Kläger im Widerspruchsverfahren ausreichend Gelegenheit gegeben wurde, sich zu äußern. Durch den Bescheid vom 11. Januar 1993 waren ihm im wesentlichen die Tatbestandsmerkmale des § 45 SGB X und die von der Verwaltung zugrunde gelegten Tatsachen bekannt. Ein Formmangel besteht nicht.
Zutreffend ist das Sozialgericht Frankfurt am Main in seiner angegriffenen Entscheidung zu dem Ergebnis gekommen, daß der streitgegenständliche Bescheid rechtswidrig ist, weil der Beklagte das nach § 45 Abs. 1 SGB X erforderliche Ermessen nicht ausgeübt hat. Zwar ist es grundsätzlich für ein Gericht untunlich, Ermessensfragen zu prüfen, bevor es die gerichtlich voll nachprüfbaren Voraussetzungen des Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 2–4 SGB X erörtert hat (so im Ergebnis wohl: BSG in SozR 1300 § 45 Nr. 20). Im Einzelfall kann dies aus prozeßökonomischen Gründen jedoch geboten sein (vgl. Grüner, Verwaltungsverfahren, § 45 Erl. III. 7). Solche prozeßökonomischen Gründe liegen hier vor, denn die Tatsachenermittlung ist schon allein dadurch erschwert, daß der Schriftverkehr mit dem Kläger im Ausland geführt werden muß. Die Anhörung des Klägers zu seinen individuellen Lebensumständen, die im Rahmen der Prüfung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB X erforderlich wäre, kann nur über seinen Anwalt erfolgen. Das gleiche gilt für die Überprüfung der Einhaltung der "Zweijahresfrist” nach § 45 Abs. 3 SGB X, denn aus der Verwaltungsakte des Beklagten ergibt sich nicht, wann die streitgegenständlichen Bescheide zugestellt worden sind. Dies alles kann aber dahingestellt bleiben, weil der angegriffene Bescheid schon nach § 45 Abs. 1 SGB X rechtswidrig ist.
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Daraus folgt, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2–4 SGB X zugunsten einer Rücknahme bestehen, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (vgl.: BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZLw 11/82 – SozR 1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 – SozR 1300 § 45 Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 – SozR 1300 § 45 Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93; Steinwedel in Kasseler Kommentar § 45 SGB X, Rdnr. 52; Hauck/Haines, a.a.O., § 45 Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erl. III. 7). Nur in ganz wenigen Fällen kann von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgegangen werden. So ist allgemein anerkannt, daß diese bei betrügerischer Leistungserschieichung besteht; für den Fall der Bösgläubigkeit wird dies teilweise angenommen (BSG in SozR 3 – 1300 § 50 Nr. 16; teilweise anderer Ansicht: BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93).
Demgegenüber soll nach der bisher vertretenen Ansicht des 9/9 a-Senates des BSG im sozialen Entschädigungsrecht "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf Null eintreten und damit weitere Erwägungen der Verwaltung hierzu nicht erforderlich sein (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9a RVg 2/94 – BSGE 60, 147 ff.). Der Senat folgert das aus entsprechenden Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 KOVVfG. Diese Begründung kann jedoch nicht überzeugen, denn das SGB X hat die Vorschriften des KOVVfG gerade abgelöst und diente zur Verfahrensvereinheitlichung im gesamten Sozialrecht. Besonderheiten für ein Rechtsgebiet können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. Dies hat der Gesetzgeber für den Bereich des Arbeitsförderungsrechtes zuletzt mit seiner ab 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Novellierung des § 152 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) bekräftigt, denn damit hat er ausdrücklich das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in Spezialfällen eingeschränkt. Gleiches muß grundsätzlich auch im sozialen Entschädigungsrecht gelten. Aktuelle Normen im BVG, die eine Einschränkung des Ermessens begründen könnten, sind dem erkennenden Senat jedoch nicht ersichtlich. Es ist allerdings einzuräumen, daß es für die Verwaltung in einem Regelfall oft schwer fallen wird, weitere Erwägungen anzustellen, die sie nicht schon bei Prüfung des Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 2 SGB X vorgenommen hat (vgl. Haus in SGb 1987, Seite 190 ff.). Durch die gesetzliche Regelung ist es jedoch nicht ausgeschlossen, bei der Ermessensausübung unter anderem wiederum die Gesichtspunkte heranzuziehen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Steinwedel, a.a.O., § 45 Rdnr. 53 mit Verweis auf BSGE 59, Seite 157, 169 f.). Der Ansicht des 9/9 a-Senates des BSG hat sich der erkennende Senat deshalb bisher auch nicht angeschlossen (vgl. Hess. LSG, Urteil vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 –).
Letztlich kann es jedoch dahingestellt bleiben, ob der Ansicht des o.g. Senates des BSG zu folgen ist, denn der Fall des Klägers stellt keinen solchen Regelfall dar.
Der Kläger lebt nicht in Deutschland, sondern einem Land, das sich zur Zeit im Krieg befindet. Er selbst ist auch ein Opfer dieses Krieges geworden. Schon mit Schreiben vom 4. Januar 1992 und im Widerspruchsverfahren hat er vorgetragen, daß sein Haus durch Granaten zerstört worden sei und er deshalb habe flüchten müssen. Im übrigen sind die Umstände dieses Krieges, der praktisch alle Republiken des früheren Jugoslawien betrifft, in der Bundesrepublik Deutschland durch ständige Veröffentlichungen in sämtlichen Medien allgemein bekannt. Gerade die Zivilbevölkerung ist diesen Zuständen ausgeliefert, die Maßnahmen der Kriegsparteien ihr gegenüber scheinen teilweise völkerrechtswidrig zu sein; es kommt nach Presseberichten hier zu Grausamkeiten, die im mitteleuropäischen Alltag zumeist kaum nachvollziehbar sind (hierzu exemplarisch: Der Spiegel, Heft 44/1995, Seite 160 f.). Allein die Tatsache, daß der Kläger in einem Gebiet lebt, in dem derzeit ein solcher Krieg herrscht, sind besondere Gründe, welche die Verwaltung ermächtigen und verpflichten, das nach § 44 Abs. 1 SGB X bestehende Ermessen bei der Rückforderung auszuüben.
Von diesem Ermessen hat der Beklagte jedoch nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3 – 1300 § 45 Nr. 2 und Nr. 5). Das Ermessen ist jedoch gerichtlich dahin zu prüfen, ob die Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, BVerwG in NJW 1975, Seite 2156 f.; Steinwedel a.a.O., § 45 Rdnr. 53). Um dies einer vernünftigen gerichtlichen Überprüfung unterziehen zu können, gelten die allgemeinen Grundsätze des § 35 SGB X. Nach § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X müssen in einem Verwaltungsakt, bei dem Ermessen auszuüben ist, die wesentlichen Gesichtspunkte mitgeteilt werden, von denen die Verwaltungsbehörde hätte ausgehen müssen. Berücksichtigt werden können dabei alle Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 1300 § 45 Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und z.B. das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG in SozR 3 – 1300 § 45 Nr. 2). Besondere Härtetatbestände sind einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter (Frehse in VersorgB 1987, S. 31), ebenso kann sich das psychische Befinden auswirken (Frehse a.a.O.). Zu den maßgeblichen Einzelumständen gehören auch die familiäre Situation, etwa unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten; dies hat die Verwaltung gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. Grüner, a.a.O., § 45 Erl. III. 7). Aus alledem folgt, daß bei einer Ermessensausübung eine höchst individuelle Entscheidung zu treffen ist, die dem Einzelfall gerecht wird. Nichtssagende Leerformeln in einem Verwaltungsakt reichen jedenfalls nicht aus (BSGE 59, S. 157 ff,).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Beklagte ermessensfehlerhaft gehandelt. In seinem angegriffenen Bescheid vom 11. Januar 1993 führt er hierzu aus: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen wird jedoch gerade nicht auf den Einzelfall des Klägers eingegangen, sondern nur auf alle vergleichbaren Fälle, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Insgesamt ist dies als Leerformel anzusehen, die einer individuellen Ermessensentscheidung nicht gerecht wird. Im Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993, mit dem eine Ermessensentscheidung noch nachgeholt werden konnte, führt der Beklagte aus: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch dies stellt zur Überzeugung des erkennenden Senates in weiten Teilen eine Leerformel dar. Zu Recht hat das Sozialgericht in seinem angegriffenen Urteil darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren benutzt worden ist. Dies sei ein Indiz dafür, daß eben gerade keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden seien. Dem Beklagten ist zwar insoweit zuzugestehen, daß dies bei der Verwendung von Textbausteinen in einem Bescheid durchaus der Fall sein kann, ohne daß die tatsächliche Ermessensabwägung fehlerhaft ist. Selbst wenn hier jedoch eine individuelle Ermessensabwägung stattgefunden hat, so ist diese rechtswidrig, weil die Verwaltung gerade nicht alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt hat. Schwierige finanzielle Verhältnisse sind nur pauschal berücksichtigt worden. Die Verwaltung hat jedoch nicht darauf abgestellt, welche besonderen Verhältnisse im Falle des Klägers bestehen. Der Kläger lebt in einem Kriegsgebiet, sein Haus ist zerstört worden, dieser Krieg im ehemaligen Jugoslawien wendet sich hauptsächlich gegen die Zivilbevölkerung (siehe oben). Dies sind eben gerade nicht allgemein wirtschaftlich schwierige Verhältnisse. Soweit die Verwaltung ergänzend darauf abstellt, daß diese Umstände bei Sozialleistungen vielfach zutreffen würden, vergleicht sie den Fall des Klägers mit dem üblichen Fall eines Deutschen, dem im Inland eine Sozialleistung entzogen wird. Gerade damit zeigt sie jedoch, daß sie bei ihrer Ermessensausübung auf die individuellen Verhältnisse des Klägers nicht eingeht, denn diese Fälle sind überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Die wichtigen Gesichtspunkte beim Kläger und seine Sondersituation sind nicht berücksichtigt worden. Zwar ist es richtig, wie der Beklagte im Berufungsverfahren vorträgt, daß für die Folgen des Bürgerkriegs, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt ist, nicht die Bundesrepublik Deutschland verantwortlich zu machen sei. Dies hat jedoch keinen Einfluß auf die Ermessensentscheidung, denn hier geht es nicht um eine Anspruchsgrundlage zur Begründung von Versorgungleistungen, sondern um eine Abwägung, ob im individuell vorliegenden Fall eine Entziehung gerechtfertigt ist. Wenn der Beklagte im Berufungsverfahren vorträgt, daß auch bei Berücksichtigung dieser Umstände kein Verzicht auf die Rücknahme hätte erfolgen können, dann ist dies genau die Entscheidung, die er im Verwaltungsverfahren unter sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte hätte vornehmen müssen. Im Berufungsverfahren kann er diese Ermessensabwägung jedoch nicht nachholen. Deshalb war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der in § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG genannten Gründe vorliegt.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X).
Der 1930 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien. Erstmals am 25. August 1989 beantragte er beim Versorgungsamt Fulda die Gewährung von Beschädigtenversorgung mit der Begründung, er sei als Kind während des Zweiten Weltkriegs in seiner Heimat schwer geschädigt worden. Im März 1943 habe er auf einer Wiese Vieh gehütet, dabei sei neben ihm eine Bombe explodiert. Deshalb sei bei ihm der rechte Unterarm amputiert worden und er habe das rechte Auge verloren. Wegen dieser Schädigung erhalte er in seiner Heimat Rente als ziviles Kriegsopfer. Zur weiteren Begründung fügte er mehrere Unterlagen bei, u.a. auch einen Zahlungsbeleg über seine Rente als ziviles Kriegsopfer. Nach weiteren Ermittlungen erkannte das Versorgungsamt Fulda mit Bescheid vom 21. Januar 1991 die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte ihm Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v.H. Zur Begründung führte es u.a. aus, daß die Leistung als sogenannte "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm das Versorgungsamt Fulda ohne vorherige Anhörung des Klägers durch Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück. Zur Begründung führte es aus, der Bewilligungsbescheid sei rechtswidrig gewesen, da der Kläger wegen derselben Ursache einen Invalidenrentenanspruch gegen seinen Heimatstaat habe. Eine Doppelversorgung sei jedoch gemäß § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Da diese gesetzliche Vorschrift bei Erteilung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nicht beachtet worden sei, sei dieser Bescheid rechtswidrig. Eine Rücknahme setze zwar voraus, daß das Interesse des Bürgers an der Aufrechterhaltung des Vorteils nicht höher zu bewerten sei, als das öffentliche Interesse des Staates und der Allgemeinheit an der Beseitigung der Rechtswidrigkeit. Die Beseitigung dieses rechtswidrigen Bescheides sei aus öffentlichem Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen der rechtswidrigen Bescheide allein in den Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung falle. Hieraus ergebe sich jedoch nicht die Schutzwürdigkeit dieses Vertrauens. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden. Die niedrige Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zu einer Ermessensausübung zugunsten des Klägers führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 16. Februar 1993 Widerspruch ein und hob hervor, daß er als ehemaliger Bürger der seitens der Serben zerstörten Stadt V. als Vertriebener nunmehr in Z. lebe und sowohl er als auch seine Familie äußerst bedürftig seien. Mit Schriftsatz vom 4. Januar 1992 hatte er zuvor dem Versorgungsamt mitgeteilt, daß er ein Haus in B. besessen habe, dies sei durch Granaten zerstört worden. Nun sei auch er Opfer dieses verrückten Krieges geworden. Mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück und führte u.a. aus, es sei ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden könne. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden bei Sozialleistungen vielfach zutreffen und könnten bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 22. September 1993 vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) Klage erhoben. Er hat die Ansicht geäußert, die Entziehung der Versorgungsleistungen sei rechtswidrig und habe nicht erfolgen dürfen.
Mit Urteil vom 7. Oktober 1994 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X erfolgen können. Es könne insoweit dahingestellt bleiben, ob der ursprüngliche Verwaltungsakt überhaupt rechtswidrig gewesen sei und ob der Aufhebungsbescheid vielleicht schon deshalb rechtswidrig sei, weil vor Erlaß dieses in die Rechte des Bürgers eingreifenden Verwaltungsaktes keine Anhörung erfolgt sei. Jedenfalls habe der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht. Der Beklagte habe in seinen Entscheidungen nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Hinsichtlich des Rücknahmebescheids sei dies schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und das beklagte Land folglich mangels aktueller Kenntnis der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung gar nicht vornehmen konnte. Gleiches gelte für die Ausführungen zur Ermessensausübung in der Begründung des Widerspruchsbescheids. Die dort gebrauchten Formulierungen deuteten darauf hin, daß das beklagte Land bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge hatte, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an Zivilkriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit in den Ausführungen zum Ermessen werde aber besonders deutlich durch die Verwaltungspraxis des beklagten Landes in Fällen wie dem vorliegenden. Es sei gerichtsbekannt, daß das beklagte Land nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rückforderung eingeleitet habe. Tatsächlich dürfte das beklagte Land in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen haben. Dieser Schluß lasse sich aufgrund des dem Gericht bekannten Akteninhalts von ca. 100 vergleichbaren Streitsachen ziehen. Auch aus der Tatsache, daß der Beklagte vor Erlaß des Widerspruchsverfahrens keine Anhörung durchgeführt habe, lasse sich schließen, daß er nicht die Absicht gehabt habe, individuelle Einzelfallentscheidungen zu treffen. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien deshalb wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben.
Gegen das ihm am 9. Dezember 1994 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner am 21. Dezember 1994 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangenen Berufung. Er ist der Ansicht, bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X sei im sozialen Entschädigungsrecht wenigstens im Regelfall überhaupt kein Ermessen auszuüben. Dies habe der 9/9 a Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Soweit sich das erstinstanzliche Gericht für seine Ansicht, es sei Ermessen auszuüben, auf Rechtsprechung anderer Senate des BSG beziehe, sei diese im sozialen Entschädigungsrecht nicht einschlägig. Im hier anhängigen Rechtsstreit liege jedoch ein klassischer Regelfall vor. Es hätte deshalb kein Ermessen ausgeübt werden müssen. Soweit das Sozialgericht meine, die Verwaltung habe überhaupt kein Ermessen ausgeübt, könne dem nicht gefolgt werden. Dies ergebe sich aus den Texten des angefochtenen Bescheids und des Widerspruchsbescheids. Es seien sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegungen einbezogen worden. Ermittlungen der aktuellen Einkommensverhältnisse seien nicht mehr erforderlich gewesen, da zugunsten des Klägers seine schwierigen persönlichen Verhältnisse als bekannt vorausgesetzt und unterstellt worden seien. Schließlich bemängele das Sozialgericht, daß der Beklagte die Auswirkungen des derzeitigen Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien nicht geprüft und entsprechend berücksichtigt habe. Es gehe im vorliegenden Fall aber um die Spätauswirkungen des Zweiten Weltkrieges. Für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert später entbrannt sei, sei die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich. Der Kläger habe zwar mitgeteilt, daß er durch den Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien sein Haus verloren habe. Bei der Ermessensausübung hätte dieser Umstand aber nicht zu einem Verzicht auf die Rücknahme führen können.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, der Rücknahmebescheid sei rechtswidrig, weil der Beklagte sein Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt habe. Eine Ermessensausübung sei aber zwingend erforderlich gewesen, da schon die Gewährung der Leistung als Ermessensleistung erfolgte. Wenn aber die Leistungsgewährung im Wege der Ermessensentscheidung erfolge, müsse auch bei der Entziehung Ermessen ausgeübt werden. Insoweit sei die Rechtsprechung des 9. Senates des BSG nicht einschlägig. Vorsorglich werde geltend gemacht, daß diese Rechtsprechung auch nur für den Regelfall zutreffe. Ein Regelfall liege jedoch nicht vor.
In der mündlichen Verhandlung war der Kläger weder erschienen noch vertreten.
Wegen des Sach- und Streitstandes im übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Über die Berufung konnte der Senat trotz Abwesenheit des Klägers aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden, weil er in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§§ 110, 124 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§ 151 i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Berufung ist sachlich jedoch unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 7. Oktober 1994 den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat und der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2). Auf das Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit
1) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Abs. 2 Satz 3).
Ein ursprünglich rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt liegt vor, denn das Versorgungsamt Fulda gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 21. Januar 1991 Versorgungsleistungen, obwohl er gleichzeitig Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat bezog. Diese Doppelversorgung ist jedoch nach § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung hierzu entschieden, daß einem Kriegsopfer, welches von seinem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhält, deutsche Versorgungsleistungen auch nicht im Rahmen der Ermessensentscheidung mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit nach § 8 BVG gewährt werden dürfen. Zunächst hat das BSG dies für ein Kriegsopfer festgestellt, das von seinem Heimatland Frankreich ähnliche Versorgungsleistungen erhielt, wie sie das BVG vorsieht (BSG in SozR 3100 § 7 Nr. 2). In mehreren Urteilen hat es sodann festgestellt, daß dies auch gilt, wenn die Versorgungsleistungen des Heimatlandes gegenüber der deutschen Versorgung erheblich geringer sind (BSG in SozR 3 – 3100 § 7 Nr. 1 und Nr. 2). Diesen Entscheidungen lagen insbesondere auch Fälle zugrunde, die von dem ehemaligen Staat Jugoslawien Versorgungsleistungen als zivile Kriegsopfer erhielten (BSG in SozR 3 – 3100 § 7 Nr. 1). Dieser Personenkreis hat auch heute noch, wie dem Senat aus mehreren gleichartigen Fällen bekannt ist, Ansprüche als zivile Kriegsopfer, denn zumindest die selbständigen Staaten Bosnien-Herzegowina, Slowenien und Kroatien haben insoweit die früheren jugoslawischen Rechtsnormen übernommen. Es kann hierbei dahingestellt bleiben, ob diese Staaten derzeit tatsächlich auch die Geldleistungen erbringen, denn darauf kommt es nach der Rechtsprechung des BSG nicht an (BSG a.a.O.). Es reicht vielmehr aus, daß die Geschädigten einen Anspruch gegen ihren Heimatstaat haben. Da der Bescheid des Versorgungsamtes Fulda vom 21. Januar 1991 somit rechtswidrig war und ist, konnte der Beklagte in das Verfahren nach § 45 SGB X eintreten.
Der angegriffene Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Juli 1993 ist dabei nicht schon deshalb rechtswidrig, weil vor seinem Erlaß keine Anhörung erfolgte. Zwar ist gemäß § 24 Abs. 1 SGB X einem Betroffenen vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in seine Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Vorliegend konnte auch nicht nach § 24 Abs. 2 SGB X von der Anhörung abgesehen werden. Insbesondere § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X findet keine Anwendung, denn es liegen keine "gleichartigen Verwaltungsakte größerer Zahl” vor. Zwar hat der Beklagte, wie er selbst vorgetragen hat, in ca. 300 ähnlichen Fällen Rückforderungsansprüche geltend gemacht. Gleichartige Verwaltungsakte im Sinne des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X liegen jedoch nur dann vor, wenn die Verwaltungsakte aufgrund weniger, typisierter Grundmerkmale formularmäßig ergehen können und keine eingehenden individuellen Ermittlungen notwendig sind (vgl. Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch, § 24 Rdz. 16). Bei Aufhebungsbescheiden nach § 45 SGB X sind jedoch regelmäßig individuelle Ermittlungen und Abwägungen notwendig; dies geht schon aus dem Gesetzestext hervor. Ob der Beklagte sich auf § 24 Abs. 2 Nr. 2 SGB X berufen kann, konnte nicht festgestellt werden, denn er hat keine Tatsachen vorgetragen, weswegen er erst im Januar 1993 in das Verfahren eingetreten ist. Wie oben dargestellt, hat das BSG seine Rechtsprechung zur Unzulässigkeit einer Doppelversorgung schon mit Urteil vom 25. November 1976 (SozR 3100 § 7 Nr. 2) begründet. Auch das letztlich nur klarstellende Urteil zur Auslandsversorgung in Jugoslawien erging schon am 20. Mai 1992 (BSG SozR 3 – 3100 § 7 Nr. 1). In diesem Fall war der Beklagte Beteiligter, denn er ist zuständig für Auslandsversorgung auf dem Staatsgebiet des ehemaligen Jugoslawien. Von den tragenden Gründen dieser Entscheidung muß er somit innerhalb kürzester Zeit informiert gewesen sein. Dies kann jedoch letztlich dahingestellt bleiben, denn der ursprüngliche Mangel des Anhörungsverfahrens ist gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden, weil dem Kläger im Widerspruchsverfahren ausreichend Gelegenheit gegeben wurde, sich zu äußern. Durch den Bescheid vom 11. Januar 1993 waren ihm im wesentlichen die Tatbestandsmerkmale des § 45 SGB X und die von der Verwaltung zugrunde gelegten Tatsachen bekannt. Ein Formmangel besteht nicht.
Zutreffend ist das Sozialgericht Frankfurt am Main in seiner angegriffenen Entscheidung zu dem Ergebnis gekommen, daß der streitgegenständliche Bescheid rechtswidrig ist, weil der Beklagte das nach § 45 Abs. 1 SGB X erforderliche Ermessen nicht ausgeübt hat. Zwar ist es grundsätzlich für ein Gericht untunlich, Ermessensfragen zu prüfen, bevor es die gerichtlich voll nachprüfbaren Voraussetzungen des Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 2–4 SGB X erörtert hat (so im Ergebnis wohl: BSG in SozR 1300 § 45 Nr. 20). Im Einzelfall kann dies aus prozeßökonomischen Gründen jedoch geboten sein (vgl. Grüner, Verwaltungsverfahren, § 45 Erl. III. 7). Solche prozeßökonomischen Gründe liegen hier vor, denn die Tatsachenermittlung ist schon allein dadurch erschwert, daß der Schriftverkehr mit dem Kläger im Ausland geführt werden muß. Die Anhörung des Klägers zu seinen individuellen Lebensumständen, die im Rahmen der Prüfung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB X erforderlich wäre, kann nur über seinen Anwalt erfolgen. Das gleiche gilt für die Überprüfung der Einhaltung der "Zweijahresfrist” nach § 45 Abs. 3 SGB X, denn aus der Verwaltungsakte des Beklagten ergibt sich nicht, wann die streitgegenständlichen Bescheide zugestellt worden sind. Dies alles kann aber dahingestellt bleiben, weil der angegriffene Bescheid schon nach § 45 Abs. 1 SGB X rechtswidrig ist.
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Daraus folgt, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2–4 SGB X zugunsten einer Rücknahme bestehen, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (vgl.: BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZLw 11/82 – SozR 1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 – SozR 1300 § 45 Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 – SozR 1300 § 45 Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93; Steinwedel in Kasseler Kommentar § 45 SGB X, Rdnr. 52; Hauck/Haines, a.a.O., § 45 Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erl. III. 7). Nur in ganz wenigen Fällen kann von einer Ermessensreduzierung auf Null ausgegangen werden. So ist allgemein anerkannt, daß diese bei betrügerischer Leistungserschieichung besteht; für den Fall der Bösgläubigkeit wird dies teilweise angenommen (BSG in SozR 3 – 1300 § 50 Nr. 16; teilweise anderer Ansicht: BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93).
Demgegenüber soll nach der bisher vertretenen Ansicht des 9/9 a-Senates des BSG im sozialen Entschädigungsrecht "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf Null eintreten und damit weitere Erwägungen der Verwaltung hierzu nicht erforderlich sein (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9a RVg 2/94 – BSGE 60, 147 ff.). Der Senat folgert das aus entsprechenden Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 KOVVfG. Diese Begründung kann jedoch nicht überzeugen, denn das SGB X hat die Vorschriften des KOVVfG gerade abgelöst und diente zur Verfahrensvereinheitlichung im gesamten Sozialrecht. Besonderheiten für ein Rechtsgebiet können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. Dies hat der Gesetzgeber für den Bereich des Arbeitsförderungsrechtes zuletzt mit seiner ab 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Novellierung des § 152 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) bekräftigt, denn damit hat er ausdrücklich das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in Spezialfällen eingeschränkt. Gleiches muß grundsätzlich auch im sozialen Entschädigungsrecht gelten. Aktuelle Normen im BVG, die eine Einschränkung des Ermessens begründen könnten, sind dem erkennenden Senat jedoch nicht ersichtlich. Es ist allerdings einzuräumen, daß es für die Verwaltung in einem Regelfall oft schwer fallen wird, weitere Erwägungen anzustellen, die sie nicht schon bei Prüfung des Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 2 SGB X vorgenommen hat (vgl. Haus in SGb 1987, Seite 190 ff.). Durch die gesetzliche Regelung ist es jedoch nicht ausgeschlossen, bei der Ermessensausübung unter anderem wiederum die Gesichtspunkte heranzuziehen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Steinwedel, a.a.O., § 45 Rdnr. 53 mit Verweis auf BSGE 59, Seite 157, 169 f.). Der Ansicht des 9/9 a-Senates des BSG hat sich der erkennende Senat deshalb bisher auch nicht angeschlossen (vgl. Hess. LSG, Urteil vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 –).
Letztlich kann es jedoch dahingestellt bleiben, ob der Ansicht des o.g. Senates des BSG zu folgen ist, denn der Fall des Klägers stellt keinen solchen Regelfall dar.
Der Kläger lebt nicht in Deutschland, sondern einem Land, das sich zur Zeit im Krieg befindet. Er selbst ist auch ein Opfer dieses Krieges geworden. Schon mit Schreiben vom 4. Januar 1992 und im Widerspruchsverfahren hat er vorgetragen, daß sein Haus durch Granaten zerstört worden sei und er deshalb habe flüchten müssen. Im übrigen sind die Umstände dieses Krieges, der praktisch alle Republiken des früheren Jugoslawien betrifft, in der Bundesrepublik Deutschland durch ständige Veröffentlichungen in sämtlichen Medien allgemein bekannt. Gerade die Zivilbevölkerung ist diesen Zuständen ausgeliefert, die Maßnahmen der Kriegsparteien ihr gegenüber scheinen teilweise völkerrechtswidrig zu sein; es kommt nach Presseberichten hier zu Grausamkeiten, die im mitteleuropäischen Alltag zumeist kaum nachvollziehbar sind (hierzu exemplarisch: Der Spiegel, Heft 44/1995, Seite 160 f.). Allein die Tatsache, daß der Kläger in einem Gebiet lebt, in dem derzeit ein solcher Krieg herrscht, sind besondere Gründe, welche die Verwaltung ermächtigen und verpflichten, das nach § 44 Abs. 1 SGB X bestehende Ermessen bei der Rückforderung auszuüben.
Von diesem Ermessen hat der Beklagte jedoch nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3 – 1300 § 45 Nr. 2 und Nr. 5). Das Ermessen ist jedoch gerichtlich dahin zu prüfen, ob die Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt hat (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, BVerwG in NJW 1975, Seite 2156 f.; Steinwedel a.a.O., § 45 Rdnr. 53). Um dies einer vernünftigen gerichtlichen Überprüfung unterziehen zu können, gelten die allgemeinen Grundsätze des § 35 SGB X. Nach § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X müssen in einem Verwaltungsakt, bei dem Ermessen auszuüben ist, die wesentlichen Gesichtspunkte mitgeteilt werden, von denen die Verwaltungsbehörde hätte ausgehen müssen. Berücksichtigt werden können dabei alle Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 1300 § 45 Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und z.B. das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG in SozR 3 – 1300 § 45 Nr. 2). Besondere Härtetatbestände sind einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter (Frehse in VersorgB 1987, S. 31), ebenso kann sich das psychische Befinden auswirken (Frehse a.a.O.). Zu den maßgeblichen Einzelumständen gehören auch die familiäre Situation, etwa unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten; dies hat die Verwaltung gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. Grüner, a.a.O., § 45 Erl. III. 7). Aus alledem folgt, daß bei einer Ermessensausübung eine höchst individuelle Entscheidung zu treffen ist, die dem Einzelfall gerecht wird. Nichtssagende Leerformeln in einem Verwaltungsakt reichen jedenfalls nicht aus (BSGE 59, S. 157 ff,).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Beklagte ermessensfehlerhaft gehandelt. In seinem angegriffenen Bescheid vom 11. Januar 1993 führt er hierzu aus: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen wird jedoch gerade nicht auf den Einzelfall des Klägers eingegangen, sondern nur auf alle vergleichbaren Fälle, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Insgesamt ist dies als Leerformel anzusehen, die einer individuellen Ermessensentscheidung nicht gerecht wird. Im Widerspruchsbescheid vom 9. Juli 1993, mit dem eine Ermessensentscheidung noch nachgeholt werden konnte, führt der Beklagte aus: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch dies stellt zur Überzeugung des erkennenden Senates in weiten Teilen eine Leerformel dar. Zu Recht hat das Sozialgericht in seinem angegriffenen Urteil darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren benutzt worden ist. Dies sei ein Indiz dafür, daß eben gerade keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden seien. Dem Beklagten ist zwar insoweit zuzugestehen, daß dies bei der Verwendung von Textbausteinen in einem Bescheid durchaus der Fall sein kann, ohne daß die tatsächliche Ermessensabwägung fehlerhaft ist. Selbst wenn hier jedoch eine individuelle Ermessensabwägung stattgefunden hat, so ist diese rechtswidrig, weil die Verwaltung gerade nicht alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt hat. Schwierige finanzielle Verhältnisse sind nur pauschal berücksichtigt worden. Die Verwaltung hat jedoch nicht darauf abgestellt, welche besonderen Verhältnisse im Falle des Klägers bestehen. Der Kläger lebt in einem Kriegsgebiet, sein Haus ist zerstört worden, dieser Krieg im ehemaligen Jugoslawien wendet sich hauptsächlich gegen die Zivilbevölkerung (siehe oben). Dies sind eben gerade nicht allgemein wirtschaftlich schwierige Verhältnisse. Soweit die Verwaltung ergänzend darauf abstellt, daß diese Umstände bei Sozialleistungen vielfach zutreffen würden, vergleicht sie den Fall des Klägers mit dem üblichen Fall eines Deutschen, dem im Inland eine Sozialleistung entzogen wird. Gerade damit zeigt sie jedoch, daß sie bei ihrer Ermessensausübung auf die individuellen Verhältnisse des Klägers nicht eingeht, denn diese Fälle sind überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Die wichtigen Gesichtspunkte beim Kläger und seine Sondersituation sind nicht berücksichtigt worden. Zwar ist es richtig, wie der Beklagte im Berufungsverfahren vorträgt, daß für die Folgen des Bürgerkriegs, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt ist, nicht die Bundesrepublik Deutschland verantwortlich zu machen sei. Dies hat jedoch keinen Einfluß auf die Ermessensentscheidung, denn hier geht es nicht um eine Anspruchsgrundlage zur Begründung von Versorgungleistungen, sondern um eine Abwägung, ob im individuell vorliegenden Fall eine Entziehung gerechtfertigt ist. Wenn der Beklagte im Berufungsverfahren vorträgt, daß auch bei Berücksichtigung dieser Umstände kein Verzicht auf die Rücknahme hätte erfolgen können, dann ist dies genau die Entscheidung, die er im Verwaltungsverfahren unter sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte hätte vornehmen müssen. Im Berufungsverfahren kann er diese Ermessensabwägung jedoch nicht nachholen. Deshalb war die Berufung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da keiner der in § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG genannten Gründe vorliegt.
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