L 4 V 852/69

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 852/69
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 RV 668/71
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Entscheidung zur Frage, ob Verluste durch Vertreibung beim Berufsschadensausgleich zu berücksichtigen sind und zur Auslegung von Gesetzen durch die Rechtsprechung.
1. Bei Gewährung des Berufsschadensausgleiches ist von den Tatsachen auszugehen, die bei seiner Beantragung vorgelegen haben; deshalb können Vertreibungsschäden hierbei entgegen der Auffassung des Bundessozialgerichts in seinen Urteilen vom 6. Dezember 1966 und 17. März 1970 nicht berücksichtigt werden.
2. Klare und eindeutige Gesetze können nicht durch die Rechtsprechung anders „ausgelegt” werden.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 15. Juli 1969 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der in 1914 in G. in Pommern geborene Kläger war von Beruf Landwirt. Von 1937 an bewirtschaftete er in Pommern den Bauernhof seiner Ehefrau. Aufgrund einer Verwundung vom Juli 1944 wurde ihm im September des gleichen Jahres der rechte Oberschenkel amputiert. Hierdurch ergab sich bei ihm zunächst eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H. Sie wurde mit Bescheid vom 2. Februar 1967 wegen Leidensverschlimmerung um 80 v.H. bewertet und wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins auf 90 v.H. festgesetzt. Hierbei wurde davon ausgegangen, daß der Kläger wegen seiner Schädigungsfolgen seine Arbeit als Elektroschweißer im V.werk nur unter außergewöhnlicher Anstrengung vollwertig ausüben könne. Seine Schädiungsfolgen, hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen i.S. des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wurden wie folgt bezeichnet:

1) Verlust des rechten Oberschenkels,

2) Defektnarbe an der linken Großzehengruppe und Verformung des linken Groß- und Kleinzehennagels nach Erfrierung,

3) Narben an der linken Unterbauchseite,

4) fortschreitende periphere Durchblutungsstörungen mit deutlichen Zeichen von Gewebsernährungsstörungen der rechten Zehen,

5) Stumpfekzem,

6) beginnende Verschleißerscheinungen des linken Kniegelenks.

Der Kläger beantragte am 30. März 1967 die Gewährung von Berufsschadensausgleich. Er behauptete, nach dem Besuch der Volksschule sei er in der elterlichen Landwirtschaft in Pommern tätig gewesen. Hier habe er die Landwirtschaftsschule für zwei Winter-Halbjahre in F. besucht und die Abschlußprüfung bestanden. Vom Oktober 1937 bis zur Einberufung zum Wehrdienst ab 1. September 1939 habe er als selbständiger Landwirt den Hof seiner Ehefrau bewirtschaftet, der 21,12 ha in Z. umfaßt habe.

Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 26. August 1967 ab, da ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer jetzt bestehenden Einkommensminderung und den Schädigungsfolgen nicht gegeben sei, weil eine etwaige Einkommensminderung auf den Verlust der Landwirtschaft der Ehefrau zurückzuführen sei. Dem Widerspruch half der Beklagte mit Bescheid vom 24. Januar 1968 nicht ab.

Auf die Klage hat das Sozialgericht Kassel mit seinem Urteil vom 15. Juli 1969 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, dem Kläger Berufsschadensausgleich dem Grunde nach unter Zugrundelegung eines Durchschnittseinkommens der Besoldungsgruppe A 7 Bundesbesoldungsgesetz ab 1. März 1967 zu gewähren. Es hat sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 6. Dezember 1966 – 9 RV 1022/65 – bezogen, wonach die durch die Schädigungsfolgen eingetretene Behinderung im Beruf eines Landwirtes durch die Vertreibung nicht entfallen ist und die Vertreibung vielmehr die durch die Schädigungsfolgen eingetretene berufliche Situation noch verschlimmert hat. Das Sozialgericht sieht deshalb in der Kriegsbeschädigung des Klägers eine wesentliche Bedingung für die Minderung seines Einkommens.

Gegen dieses ihm am 5. August 1969 zugestellte Urteil hat der Beklagte schriftlich Berufung eingelegt, die am 13. August 1969 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangen ist. Er ist der Auffassung, daß die Schädigungsfolgen weder allein noch überwiegend zu der Berufsentwicklung des Klägers nach dem Kriege beigetragen haben, sondern die Vertreibung aus den Ostgebieten, die Ursache für den Verlust das Bauernhofes und eine etwaige Einkommensminderung darstellt.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 15. Juli 1969 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das sozialgerichliche Urteil für zutreffend. Bei gesunder Rückkehr aus dem Kriege hätte er wieder eine Landstelle als selbständiger Landwirt übernommen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Streitakte in beiden Rechtszügen und den der beiden Bände Versorgungsakten – Grundlistennummer: – Bezug genommen, der zum Vortrag gelangte.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet.

Der erkennende Senat hatte auch nach der Entscheidung des BSG vom 17. März 1970 – Breithaupt 1970, Seite 698 ff. (unter Nr. 250) keinen Anlaß, von seiner im rechtskräftig gewordenen Urteil vom 26. August 1969 – L-8/V-184/68 – zum Ausdruck gebrachten Auffassung abzugehen, wonach eine Schädigung, deren Nachwirkungen sich noch in einem Vertreibungsgebiet gezeigt hatten, nicht unbedingt auch nach der Vertreibung ursächlich für eine Minderung des Einkommens nach Verkündung der Vorschriften über den Berufsschadensausgleich sein muß. Daß das in der Literatur hierzu oft zitierte Urteil des BSG vom 6. Dezember 1966 – 9 RV 1022/65 – nicht als grundsätzliche Stellungnahme anzusehen ist, hatte der erkennende Senat bereits in dem oben angegebenen Urteil dargelegt. Den Gedankengängen des Urteils vom 17. März 1970 aber kann – abgesehen von der Frage, daß die hier gegebene MdE von 90 % der Erwerbsunfähigkeit im BSG-Urteil nicht gleichsteht – der Senat aus folgenden Erwägungen nicht beitreten: Der Wortlaut der Absätze 3 und 4 des § 30 BVG (3. NOG) erscheint klar und eindeutig, gibt mithin keinen Anlaß zu einer Auslegung nach irgend einer der in der Rechtswissenschaft bekannten Methoden (vgl. BVerf.G. v. 21.5.52 = NJW 1952, S. 737, Reinike in NJW 1951, S. 681 ff., Zimmermann in NJW 1956, S. 1262; Enneccerus, Lehrbuch, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts 15. Aufl., 1. Halbband, § 56 und Palandt, BGB allgemeiner Teil 29. Auflage V 2 a der Einleitung). Deshalb tragen nach Auffassung des erkennenden Senats die Ausführungen des BSG hierzu zwangsläufig rechtspolitischen, also der Legislative zuzuordnenden Charakter. Die These, daß von den beiden Möglichkeiten der Betrachtung, nämlich die rückblickende oder die voraussehende zu prüfen sei, ist nicht mit überzeugenden Rechtsausführungen versehen. Vielmehr ist zur Argumentation beispielsweise aufgeführt, daß ein anderer Standpunkt allen Schwerbeschädigten des 1. Weltkrieges die Anerkennung eines Berufsschadens allein deshalb verweigern konnte, weil sie nach mehr als 20 Jahren aus den Ostgebieten vertrieben worden sind. Wenn dies die Folge ist, dann hat sie der Gesetzgeber durch seine Regelung geschaffen, und es ist seine Sache, gegebenenfalls eine Änderung zu treffen, kann aber nicht – von der seltenen Rechtsfortentwicklung abgesehen Beweggrund einer Gesetzesanwendung sein. Auch die Abstellung der Auslegung auf die Sachdarstellung eines Beteiligten sind nach Ansicht des erkennenden Senats nicht objektiv genug, weil es nicht der mehr oder weniger zielstrebigen Klagbehauptung überlassen bleiben kann, welche Folgerungen gezogen werden müssen. Deshalb war dem Senat nicht überzeugend, daß "dies dann der Fall ist, wenn der Beschädigte – wie hier – nicht geltend macht ”.

Geht man aber davon aus, daß ein Gesetz grundsätzlich kurz nach Verkündung in Kraft tritt (Art. 82 GG) und rückwirkende Kraft nur begrenzt, zumindest nur dort hat, wo es sie sich selbst ausdrücklich beilegt (vgl. Maunz-Dürig, Grundgesetz Anm. III, 10 u. 11 zu Art. 82, BVerf.G. E 7/92; 11, 64; BGH 18/94), dann folgt daraus, daß im Zweifel die einen Anspruch begründenden Tatsachen nach ihrem Vorliegen im Zeitpunkt des Inkrafttretens zu prüfen sind, das wäre hier also der Zeitpunkt, in dem der Berufsschadensausgleich für alle Schwerbeschädigten erstmals geschaffen wurde, also frühestens der 1. Januar 1964.

Wenn § 30 Abs. 3 BVG trotz der Formulierung in der Gegenwart (Präsens) "gemindert ist” Zweifel offen lassen sollte, so werden diese durch § 30 Abs. 4 BVG beseitigt. Das "derzeitige Bruttoeinkommen”, also das bei Antragstellung und in der Folgezeit erzielte Einkommen, ist nämlich nach § 30 Abs. 4 BVG für die Berechnung des Berufsschadensausgleichs dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe gegenüberzustellen, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte. Der bisher betätigte Arbeits- und Ausbildungswille zeigt sich einmal in dem Arbeits- und Ausbildungswillen vor der Schädigung wie auch in dem nach der Schädigung. Da unter "bisher” der Gesamtzeitraum zu verstehen ist, der vor der Gegenwart (Zeitpunkt der Antragstellung, als Zeitpunkt von dem an Berufsschadensausgleich gewährt werden kann) liegt, und das derzeitige Bruttoeinkommen dem Einkommen gegenübergestellt wird, das zum gleichen Zeitpunkt ohne die Schädigung erzielt worden wäre, ist die Kausalitätsprüfung auf die Gegenwart abgestellt. Es wäre auch unlogisch, einem derzeitigen(-gegenwärtigen) Einkommen, nicht das ohne die Schädigung wahrscheinliche gegenwärtige Einkommen, sondern ein früheres Einkommen gegenüber stellen zu wollen.

Auch die einschlägige Literatur vermochte den Senat nicht von der Unrichtigkeit seiner Auffassung zu überzeugen. So übersieht beispielsweise Wagner in der Besprechung eines Urteils des 5. Senats des Hessischen Landessozialgerichts vom 10. April 1968 (SGb 1968 Seite 586 ff.), daß für die Gewährung von Berufsschadensausgleich nicht von den Verhältnissen auszugehen ist, die im Jahre 1944, 1945 oder 1946 vorgelegen haben, sondern eben von den "derzeitigen” also gegenwärtigen Verhältnissen. Diese Erwägungen lassen auch eine Prüfung dahin überflüssig erscheinen, ob des BSG die Erwerbsunfähigkeit als streng auf 100 % zu begrenzen voraussetzte, also den hier vorliegenden Fall anders beurteilt, weil eine MdE von 80 %, nach Anwendung des § 30 Abs. 2 BVG 90 % vorliegt. Damit wäre dann auch der Tatsache Rechnung getragen, daß, wie dem Senat aus seiner Spruchpraxis bekannt ist, auch Oberschenkelamputierte, als Landwirte, wenn auch unter nach § 30 Abs. 2 BVG zu berücksichtigenden besonderen Anstrengungen – hier mit 10 % angesetzt – tätig sind. Es wäre also durchaus denkbar, daß der Kläger, wenn er einen Bauernhof im Gebiete der Bundesrepublik gehabt hätte, diesen Hof unter Beschäftigung zusätzlicher Hilfskräfte weiter bewirtschaftet hätte und 1967 im Alter von fast 53 Jahren von seinem Sohn als künftigen Hoferben hierbei unterstützt worden wäre. Bei dieser Sachlage tritt die Beeinträchtigung in der Tätigkeit als, Landwirt weit hinter die Tatsache zurück, daß nur ein geringer Prozentsatz (vgl. o.a. Urteil des Senats vom 28.8.69) nach der Vertreibung hat wieder als Landwirt tätig werden können. Mithin können entsprechend dem Zeitpunkt der Antragstellung des Klägers nur die ab 1. März 1967 vorhandenen Verhältnisse zugrunde gelegt werden und es war festzustellen, welcher Berufs- oder Wirtschaftsgruppe der Kläger ohne seine Schädigungsfolgen wahrscheinlich ab 1. März 1967 angehören würde.

Daß der Kläger aber ohne seine Schädigungsfolgen vom Jahre 1967 an selbständiger Landwirt wäre, ist dabei in hohem Maße unwahrscheinlich. Der Kläger hat nichts Konkretes dafür vorgetragen, daß er ohne seine Schädigungsfolgen einen bestimmten Bauernhof in West-Deutschland nach seiner Vertreibung aus Pommern hätte übernehmen können. Es spricht nichts dafür, daß es ausgerechnet dem Kläger gelungen wäre, ohne seine Kriegsbeschädigung unter den ca. 5 % wieder eingegliederter vertriebener Landwirte (s.o.) zu sein. Die wesentliche Bedingung dafür, daß der Kläger seinen Beruf als Landwirt seit dem Jahre 1967 nicht mehr ausüben kann, stellt somit nicht seine Kriegsbeschädigung, sondern vielmehr seine Vertreibung und die seiner Ehefrau aus Pommern dar. Er kann deshalb unter dem Gesichtspunkt, daß er nicht mehr als selbständiger Landwirt tätig ist, Berufsschadensausgleich nach dem BVG nicht verlangen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, weil das BSG im Urteil vom 17. März 1970 offen gelassen hat, ob es auch bei einer MdE von wenig unter 100 v.H. die Vertreibung bei Beurteilung der Ursachenfrage in den Hintergrund treten lassen will und weil der erkennende Senat aus rechtlichen Erwägungen von den Gedankengängen dieses Urteils abgewichen ist (§ 162 SGG).
Rechtskraft
Aus
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