L 8 SB 409/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 4 SB 4662/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 409/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 21. Dezember 2005 sowie der Bescheid des Beklagten vom 6. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Oktober 2004 abgeändert. Der Beklagte wird verurteilt, bei der Klägerin den Grad der Behinderung mit 70 seit 29. März 2004 festzustellen.

Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin ein Fünftel ihrer außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.

Tatbestand:

Die am 1965 geborene Klägerin begehrt die Neufeststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) sowie die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche (Merkzeichen) "G" und "B" nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX).

Auf den Erstantrag der Klägerin stellte das Versorgungsamt K. (VA) mit Bescheid vom 04.09.2003 wegen einer Dermatomyositis (Teil-GdB 40), einer seelischen Störung, Ohrgeräuschen - Tinnitus - (Teil-GdB 30) und einer Schilddrüsenerkrankung (Teil-GdB 10) den GdB mit 50 seit dem 16.05.2003 fest. Gesundheitliche Merkmale (Merkzeichen) wurden nicht festgestellt.

Am 29.03.2004 beantragte die Klägerin beim VA die Neufeststellung eines höheren GdB, am 13.04.2004 zusätzlich die Feststellung des Merkzeichens "B" und am 03.05.2004 des Merkzeichens "G".

Nach versorgungsärztlicher Auswertung der zu den Akten gelangten medizinischen Unterlagen (Arztbrief Dr. U. vom 09.03.2004, ärztliche Berichte an die Zürich Lebensversicherung AG Deutschland, Epikrise Dr. D. vom 15.03.2004, Auszug eines Entlassungsberichtes der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte über eine stationäre Maßnahmen vom 14.05.2002 bis 11.06.2002, Berichte des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden vom 16.06.2003 und 22.07.2003, Befundbericht Dr. Sch. vom 23.07.2003, Bericht der F.-St.-K. B. vom 15.12.2003, Berichte des St. K. K. vom 20.03.2003 und 05.12.2003 sowie Rentengutachten Dr. L. vom 22.03.2004 an die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte) durch Dr. D.-L. vom 30.06.2004 und nach Vorlage eines weitere Attestes des Dr. D. vom 21.06. 2004 und einer Bestätigung ihres Arbeitgebers vom 14.06.2004 durch die Klägerin entsprach das VA mit Bescheid vom 06.07.2004 dem Antrag auf Neufeststellung des GdB und auf Feststellung von gesundheitlichen Merkmalen (Merkzeichen "G", "B") nicht. Die vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen entzündliche-rheumatische Erkrankung (Teil-GdB 40), seelische Störung, Ohrgeräusche - Tinnitus - (Teil-GdB 30) und Schilddrüsenerkrankung (Teil-GdB 10) seien in vollem Umfang erfasst und mit dem bereits festgestellten GdB zutreffend bewertet. Die Voraussetzungen der gesundheitlichen Merkmale (Merkzeichen) "G", "B" seien nicht erfüllt.

Hiergegen erhob die Klägerin am 15.07.2004 Widerspruch. Sie führte zur Begründung unter Vorlage weiterer Unterlagen aus, dass sie nicht mehr erwerbsfähig sei. Dies habe die Zürich Versicherung anerkannt. Der Bescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte stehe noch aus. Sie müsse sieben verschiedene Medikamente einnehmen, die nicht bekannte Nebenwirkungen hätten. Insbesondere sei sie auf das Medikament T. angewiesen. Ihren Unterricht habe sich schon des öfteren wegen Panikattacken und starken Ängsten abbrechen müssen. Durch die Einnahme von T. seien Nebenwirkungen wie Benommenheit und Orientierungslosigkeit eingetreten. Sie habe des öfteren die Orientierung verloren. Sie habe ihr Fahrzeug stehen lassen und sich von ihrem Partner oder von Verwandten abholen lassen müssen und sei auf Mithilfe auch fremder Passanten angewiesen gewesen. Es sei schon vorgekommen, dass sie total benommen durch die Gegend gelaufen sei. Deshalb habe sie die Merkzeichen "G" und "B" beantragt.

Nach Einholung des Befundscheines des Dr. D. vom 12.10.2004 und der gutachtlichen Stellungnahmen des Versorgungsarztes Dr. C. vom 24.08.2004 und 25.10.2004 wurde der Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes Baden-Württemberg vom 27.10.2004 zurückgewiesen. Die bei der Klägerin vorliegende Behinderung sei mit dem GdB von 50 weiterhin ausreichend bewertet. Eine erhebliche Gehbehinderung sowie erhebliche Dauerausfälle auf psychiatrischem Gebiet, welche das selbstständige Benutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln verbieten würden, seien den ärztlichen Unterlagen nicht zu entnehmen. Anfallsartige, nicht dauerhafte Angst- oder Panikzustände reichten für die Gewährung der Merkzeichen "G" und "B" nicht aus.

Hiergegen erhob die Klägerin am 09.11.2004 Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG), mit dem Ziel den GdB auf 80 festzustellen und die Merkzeichen "G" und "B" zu gewähren. Die Klägerin führte zur Begründung aus, aufgrund ihrer psychischen Erkrankung, die einen GdB von 80 bedinge, sei ihre Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt. Darüber hinaus sei sie auf eine Begleitperson angewiesen. Die abweichende Ansicht des VA sei nicht nachzuvollziehen. Allein aufgrund ihrer psychischen Verfassung und der damit einhergehenden Medikation sei ihre Bewegungseinschränkung so weit fortgeschritten, dass die Voraussetzungen des § 145 SGB IX gegeben seien. Diese Auffassung habe auch Dr. D. zuletzt in seiner Stellungnahme vom 04.10.2004 vertreten. Allerdings sei die Befunderhebung nicht ausreichend gewürdigt worden. Die Klägerin legte medizinische Unterlagen vor.

Das SG holte von Amts wegen das nervenärztliche Gutachten des Dr. Sch., M., vom 03.08.2005 ein. Der Sachverständige diagnostizierte in seinem Gutachten nach einer ambulanten Untersuchung der Klägerin eine Normvariante der Persönlichkeit mit infantil retardierten und histrionischen Zügen, eine daraus resultierende neurotische Depressivität, verbunden mit Angst- und Panikzuständen, hoch dosierte Behandlung mit Psychopharmaka und daraus resultierende Müdigkeit und Konzentrationsschwäche. Die genannten Auffälligkeiten beeinträchtigten den geistigen und seelischen Zustand der Klägerin. Der Ausprägungsgrad der neurotischen Depressivität sei als mittelschwer einzuordnen. Der GdB für die Gesamtheit der psychischen Auffälligkeiten, die sich im Einzelnen nicht voneinander trennen ließen, werde mit 40 veranschlagt. Die psychischen Auffälligkeiten seien nicht so gravierend, dass durch sie die Behinderteneigenschaft "G" und "B" gerechtfertigt wären. Die Klägerin sei ohne weiteres in der Lage, Wegstrecken im Ortsverkehr, die heute noch üblicherweise gehend bewältigt werden, zurückzulegen. Es bestünden Zweifel, ob die Klägerin unter der Psychopharmakatherapie ausreichend sicher ein Kraftfahrzeug lenken könne. Sie könne jedoch ohne weiteres öffentliche Verkehrsmittel benutzen.

Mit Gerichtsbescheid vom 21.12.2005 wies das SG die Klage ab. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 50. Der Teil-GdB auf psychiatrischem Gebiet werde dem Sachverständigen folgend auf 40 geschätzt. Bei der Klägerin lägen zwei Behinderungen mit jeweils einem Teil-GdB von 40 vor. Trotz dieser Einzel-GdB-Werte sei ein Gesamt-GdB von 50 noch angemessen. In dem GdB-Wert für die rheumatische Erkrankung seien Schmerzen sowie psychische Begleiterscheinungen mit berücksichtigt. Die bei der Klägerin vorliegenden psychischen Beeinträchtigungen überschnitten sich mit der daneben bestehenden rheumatischen Erkrankung erheblich, wie sich aus dem Gutachten des Dr. Sch. ergebe. Die Voraussetzungen für die begehrten Merkzeichen "G" und "B" lägen nicht vor. Die Klägerin sei nicht erheblich gehbehindert. Es sei der Klägerin möglich, ortsübliche Gehstrecken zurückzulegen. Damit komme auch das Merkzeichen "B", das die Feststellung des Merkzeichens "G" zur Voraussetzung habe, nicht in Betracht.

Gegen den am 03.01.2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 25.01.2006 Berufung eingelegt. Sie hat zur Begründung ausgeführt, die Auffassung des SG, dass maximal ein GdB von insgesamt 50 erreicht sei, sei nicht nachvollziehbar. Das SG habe offensichtlich ihre psychischen Probleme, die die Zuerkennung eines GdB von 80 bis 100 rechtfertigten, nicht in ausreichendem Maße gewürdigt. Jedenfalls in einer Gesamtschau mit ihren sonstigen Gesundheitsstörungen ergebe sich ein GdB von mindestens 80. Beim SG sei ein Klageverfahren wegen der Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente gelaufen. Nach umfangreicher Beweisaufnahme sei das SG zu dem Ergebnis gekommen, dass bei ihr eine Erwerbsunfähigkeit gegeben sei. Ihr Zustand habe sich in den letzten Monaten nicht gebessert. Entgegen der Ansicht des SG seien ihr auch die Merkzeichen "G" und "B" zuzubilligen. Insbesondere die Wirkungen (Nebenwirkungen) der ärztlich verordneten Medikamente machten ihr eine ausreichende Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr unmöglich und die Notwendigkeit einer ständigen Begleitung sei gegeben. Die Klägerin hat das ärztliche Attest der Dr. K. vom 17.11.2005 und den Bericht des Kardiologen Dr. K. vom 15.09.2005 vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 21. Dezember 2005 sowie den Bescheid des Beklagten vom 6. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Oktober 2004 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr einen Grad der Behinderung in Höhe von mindestens 80 seit 29. März 2004 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale (Merkzeichen) "G" und "B" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Der Umstand des medikamentös bedingten Nichtführens eines Kraftfahrzeuges lasse nicht den Schluss zu, dass eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliege.

Der Senat hat - auf Antrag der Klägerin - die den Rechtsstreit der Klägerin gegen die Deutsche Rentenversicherung Bund (S 14 R 489/05) betreffende Akte des SG beigezogen. Aus dieser Akte geht hervor, dass das SG nach Einholung des - vom SG zum vorliegenden Verfahren in Kopie vorgelegten - nervenärztlichen Gutachtens des Dr. H., K. am W., W., vom 24.06.2005 die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund mit rechtskräftigem Urteil vom 23.11.2005 (S 14 R 489/05) verurteilt hat, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.12.2003 bis 31.08.2006 zu gewähren, da die Leistungsfähigkeit der Klägerin für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf unter drei Stunden täglich gesunken sei.

Dr. H. ist in seinem im Rentenstreit erstatteten Gutachten vom 24.06.2005 nach einer ambulanten Untersuchung der Klägerin zusammenfassend zu der Beurteilung gelang, der körperlich-neurologische Befund sei unauffällig. Eine muskuläre Schwäche habe sich nicht nachweisen lassen. Im Rahmen der Untersuchung habe eine depressive Verstimmung - gegenwärtig mittelgradige Episode - im Vordergrund gestanden. Des Weiteren seien die Kriterien einer Panikstörung erfüllt. Durch die festgestellten psychischen Erkrankungen würden die Leistungsfähigkeit und die Belastbarkeit erheblich beeinträchtigt. Das Leistungsvermögen der Klägerin sei neben qualitativen Einschränkungen auch quantitativ auf weniger als drei Stunden für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eingeschränkt. Die Klägerin sei in der Lage, täglich viermal einen Fußweg von mehr als 500 Metern jeweils in 15 bis 18 Minuten zurückzulegen. Sie sei in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Grundsätzlich sei die Klägerin auch in der Lage, ein Fahrzeug zu führen. Die vorliegenden Erkrankungen seien grundsätzlich einer Therapie und Besserung zugänglich. Zunächst erscheine die Durchführung einer ambulanten nervenärztlichen Behandlung sinnvoll und erforderlich. Der Erfolg einer therapeutischen Maßnahme mit Wahrscheinlichkeit vorauszusagen, sei grundsätzlich schwierig. Der bisherige Krankheits- und Behandlungsverlauf stelle sicher einen eher ungünstigen Prädiktor dar.

Der Senat hat ferner Professor Dr. K./Dr. G., St. K. K., schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Sie haben in ihrer Stellungnahme vom 30.11.2006 unter Vorlage von Berichten über den Verlauf einer zweimaligen stationären Behandlung der Klägerin, zuletzt am 06.10.2006 berichtet. Hinsichtlich der Dermatomyositis schätzten sie den GdB aktuell auf 40 ein. Dieser GdB resultiere aus der vorliegenden gering- bis mittelgradigen Muskelschwäche und der Beeinträchtigung des Tastempfindens an den Fingern durch Hautveränderungen. Es handele sich um eine chronische, in Schüben verlaufende Erkrankung, weshalb sich der GdB im Laufe der Erkrankung ändern könne.

Der Beklagte hat daraufhin ein Vergleichsangebot dahin abgegeben, dass ausgehend von einer seelischen Störung, Ohrgeräusche - Tinnitus - (Teil-GdB 40), entzündlich-rheumatische Erkrankung (Teil-GdB 30), Hauterkrankung (Teil-GdB 20) und Schilddrüsenerkrankung (Teil-GdB 10) der GdB 60 ab 29.03.2004 beträgt. Er hat außerdem die versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. G. vom 31.05.2006 zum Gutachten des Dr. H., von Dr. W. vom 26.02.2007 zur schriftlichen sachverständigen Zeugenauskunft von Professor Dr. K./Dr. G. und vom 10.04.2007 zu den begehrten Merkzeichen vorgelegt.

Die Klägerin hat das Vergleichsangebot des Beklagten nicht angenommen. Sie lege in jedem Falle Wert auf die Zuerkennung der Merkmale "G" und "B", da sie insbesondere durch die notwendige Medikamenteneinnahmen nicht in der Lage sei, sich in der Öffentlichkeit ohne Begleitung zu bewegen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz des vorliegenden Verfahrens, die Akte des SG S 14 R 489/05 sowie ein Band Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig. Die Berufung der Klägerin ist auch teilweise begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Neufeststellung des GdB in Höhe von 70 (seit der Antragstellung) ab dem 29.03.2004. Im Übrigen ist ihre auf die Feststellung eines höheren GdB sowie auf Zuerkennung der Nachteilsausgleiche (Merkzeichen) "G" und "B" gerichtete Berufung jedoch nicht begründet, weshalb insoweit ihre Berufung zurückzuweisen ist.

Der Beklagte wird seit 01.01.2005 wirksam durch das Regierungspräsidium Stuttgart vertreten. Nach § 71 Abs. 5 SGG wird in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts das Land durch das Landesversorgungsamt oder durch die Stelle, der dessen Aufgaben übertragen worden sind, vertreten. In Baden-Württemberg sind die Aufgaben des Landesversorgungsamts durch Art 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Reform der Verwaltungsstruktur, zur Justizreform und zur Erweiterung des kommunalen Handlungsspielraums (Verwaltungsstruktur-Reformgesetz - VRG -) vom 01.07.2004 (GBI S. 469) mit Wirkung ab 01.01.2005 (Art 187 VRG) auf das Regierungspräsidium Stuttgart übergegangen.

Rechtsgrundlage ist zunächst § 48 SGB X. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine wesentliche Änderung im Hinblick auf den GdB gegenüber einer vorausgegangenen Feststellung liegt nur dann vor, wenn im Vergleich zu den den GdB bestimmenden Funktionsausfällen, wie sie der letzten Feststellung des GdB tatsächlich zugrunde gelegen haben, insgesamt eine Änderung eingetreten ist, die einen um wenigstens 10 geänderten Gesamt-GdB bedingt. Dabei ist die Bewertung nicht völlig neu, wie bei der Erstentscheidung, vorzunehmen. Vielmehr ist zur Feststellung der Änderung ein Vergleich mit den für die letzte bindend gewordene Feststellung der Behinderung oder eines Nachteilsausgleichs maßgebenden Befunden und behinderungsbedingten Funktionseinbußen anzustellen. Eine ursprünglich falsche Entscheidung kann dabei grundsätzlich nicht korrigiert werden, da die Bestandskraft zu beachten ist. Sie ist lediglich in dem Maße durchbrochen, wie eine nachträgliche Veränderung eingetreten ist.

Dabei kann sich ergeben, dass das Zusammenwirken der Funktionsausfälle im Ergebnis trotz einer gewissen Verschlimmerung unverändert geblieben ist. Rechtsverbindlich anerkannt bleibt nur die festgestellte Behinderung mit ihren tatsächlichen Auswirkungen, wie sie im letzten Bescheid in den Gesamt-GdB eingeflossen, aber nicht als einzelne (Teil-)GdB gesondert festgesetzt worden sind. Auch der Gesamt-GdB ist nur insofern verbindlich, als er im Sinne des § 48 Abs. 3 SGB X bestandsgeschützt ist, nicht aber in der Weise, dass beim Hinzutreten neuer Behinderungen der darauf entfallende Teil-GdB dem bisherigen Gesamt-GdB nach den Maßstäben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2004, (AHP) hinzuzurechnen ist (vgl. BSG SozR 1300 § 48 Nr. 29). Die Verwaltung ist nach § 48 SGB X berechtigt, eine Änderung zugunsten und eine Änderung zuungunsten des Behinderten in einem Bescheid festzustellen und im Ergebnis eine Änderung zu versagen, wenn sich beide Änderungen gegenseitig aufheben. (BSG SozR 3-3870 § 3 Nr. 5).

Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet (vgl. Nr. 19 Abs. 1 der AHP). In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (Nr. 19 Abs. 3 der AHP). Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Nr. 19 Abs. 4 der AHP). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der AHP in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3-3879 § 4 Nr. 5).

Unter Anwendung dieser Grundsätze und nach dem Ergebnis der vom SG und vom Senat durchgeführten Ermittlungen steht zur Überzeugung des Senats fest, dass bei der Klägerin eine Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes auf nervenärztlichem Gebiet eingetreten ist, die die Neufeststellung des GdB mit 70 rechtfertigt.

Die Dermatomyositis bedingt bei der Klägerin einen bei der Bildung des Gesamt-GdB zu berücksichtigenden Teil-GdB von 40. Hiervon gehen auch die vom Senat als sachverständige Zeugen schriftlich gehörten Prof. Dr. K./Dr. G. in ihrer Stellungnahme vom 30.11.2006 aus. Diese chronisch-entzündliche rheumatische Erkrankung bewirkt eine gering- bis mittelgradige Herabsetzung der Muskelkraft, die mit muskelkaterartigen Schmerzen einhergeht. Parallel dazu liegt bei der Klägerin ein Hautbefall vor allem der Finger durch Hyperkaratosen mit tiefen Rhagaden vor. Dies führt zu einer Schmerzhaftigkeit der Finger und einer Einschränkung des Tastempfindens, wie Prof. Dr. K./Dr. G. in ihrer schriftlichen Stellungnahme an den Senat ausgeführt haben. Ihrer nach den von ihnen mitgeteilten Befunden, den von ihnen vorgelegten Befundberichten und den sonst zu den Akten gelangten zahlreichen Befundunterlagen überzeugenden Ansicht schließt sich der Senat an. Hiergegen hat die Klägerin im Übrigen auch keine Einwendungen erhoben. Ob der vom Beklagten entsprechend der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. W. vom 26.02.2007 vorgenommenen Aufteilung in Funktionssysteme (entzündlich-rheumatische Erkrankung Teil-GdB 30, Hauterkrankung Teil-GdB 20) zu folgen ist, kann offenbleiben, denn diese Aufteilung wirkt sich auf die Höhe des Gesamt-GdB nicht aus.

Bei der Klägerin stehen im Vordergrund Funktionsbehinderungen wegen einer seelischen Störung. Sie leidet an einer rezidivierenden depressiven Störung sowie an einer Panikstörung, die durch wiederkehrende schwere Angstattacken (Panik) gekennzeichnet ist. Dies steht für den Senat aufgrund der im Rentenverfahren der Klägerin vom Rentenversicherungsträger eingeholten Gutachten des Dr. L. vom 22.03.2004 und des vom SG im Klageverfahren eingeholten Gutachtens des Dr. H. vom 24.06.2005 fest, die übereinstimmend aufgrund der durchgeführten Untersuchungen der Klägerin diese Erkrankungen diagnostiziert haben. Diese Gutachten verwertet der Senat im Wege des Urkundenbeweises. Diese Erkrankungen der Klägerin bewirken nach der übereinstimmenden Ansicht der Sachverständigen Dr. L. und Dr. H. eine erhebliche Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit und der Belastbarkeit der Klägerin, die ihr Leistungsvermögen für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf unter drei Stunden herabsetzt. Dementsprechend verurteilte das SG die Deutsche Rentenversicherung Bund mit rechtskräftigem Urteil vom 23.11.2005 (S 14 R 489/05), der Klägerin (bis 31.08.2006 befristet) Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Hiervon ausgehend ist bei der Klägerin, entgegen der Ansicht des SG und der Bewertung des Dr. Sch. in seinem an das SG erstatteten Gutachten vom 03.08.2005, ein GdB für die seelische Störung der Klägerin von 40 nicht angemessen.

Mit einem GdB von 30 bis 40 werden nach den AHP (Nr. 26.3, Seite 48) stärker behindernde Störungen bewertet. Damit sind die bei der Klägerin durch ihre seelische Störung hervorgerufenen Funktionsbeeinträchtigungen zur Überzeugung des Senates aber unterbewertet. Vielmehr muss bei der Klägerin von einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ausgegangen werden, die nach den AHP (a.a.O.) einen GdB von 50 bis 70 rechtfertigen. Dies folgt vor allem aus der Tatsache, dass aufgrund der psychischen Beeinträchtigungen die berufliche Tätigkeit der Klägerin nicht nur stark gefährdet ist, sondern für Jahre ganz ausgeschlossen war. Außerdem leidet die Klägerin nicht nur an einer rezidivierenden depressiven Störung, sondern auch an einer Panikstörung. Beide Gesichtspunkte rechtfertigen es, von mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten auszugehen.

Dagegen liegen schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten noch nicht vor. So bestehen aufgrund der psychischen Erkrankungen zwar Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit, aber keine schwerwiegenden Probleme im privaten Bereich, dh in der Familie und im Freundes- bzw. Bekanntenkreis. Nach den von der Klägerin bei der Untersuchung durch Dr. Heinrich gemachten Angaben lebt sie nach der Trennung von ihrem Ehemann mit einem Partner in gutem Verständnis zusammen. Weiter gab sie zur Zeit der Untersuchung an einer Schule ein bis zwei Stunden an drei Tagen pro Woche Musikunterricht. Sie war an der Gründung eines Vereines "Musik für Menschen" beteiligt. Sie beteiligt sich an der Hausarbeit, soweit es geht. Sie bereitet meistens das warme Abendessen zu, unternimmt Spaziergänge mit dem Hund ihres früheren Ehemannes und passt auf den Hund auf. Manchmal trifft sie sich auch mit Freunden und trinkt Bier. Tiere sind das Hobby der Klägerin. Sie besitzt zwei Meerschweinchen. Zwischenzeitlich hat die Klägerin auch Freunde, die sie verstünden. Damit kann bei der Klägerin nicht davon ausgegangen werden, dass bei ihr in allen Lebensbereichen schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten im Sinne der AHP vorliegen. Insgesamt erachtet der Senat deshalb wegen der seelischen Störung der Klägerin einen GdB von 50 für angemessen. Eine Anhebung des GdB innerhalb des nach den AHP vorgesehenen Rahmens auf 60 oder 70 hält der Senat im Hinblick auf die im Vergleich zu den Auswirkungen auf das Erwerbsleben weit geringeren Beeinträchtigungen im privaten Bereich der Klägerin für nicht gerechtfertigt.

Der Ansicht von Dr. Sch. in seinem Gutachten an das SG vom 03.08.2005, der den GdB wegen der seelischen Störung der Klägerin mit 40 veranschlagte, kann nicht gefolgt werden. Dr. Sch. berücksichtigt in seinem Gutachten nicht hinreichend die durch die seelische Störung hervorgerufenen Leistungseinschränkungen der Klägerin im Hinblick auf ihre Erwerbsfähigkeit. Der Senat vermag sich deshalb seiner Ansicht nicht anzuschließen.

Sonstige Gesundheitsstörungen, die bei der Bildung des Gesamt-GdB zu berücksichtigen sind, liegen bei der Klägerin nicht vor. Solche hat die Klägerin im Übrigen im Verlaufe des Verfahrens auch nicht geltend gemacht.

Nach den dargestellten Grundsätzen zur Bildung des Gesamt-GdB ist ausgehend von einem Teil-GdB von 50 für die seelische Störung der Klägerin sowie einem Teil-GdB von 40 (entzündlich-rheumatische Erkrankung Teil-GdB 30, Hauterkrankung Teil-GdB 20) der GdB bei der Klägerin auf 70 seit der Antragstellung am 29.03.2004 festzustellen. Insoweit ist die Berufung der Klägerin erfolgreich. Ein höherer GdB als 70 liegt bei der Klägerin jedoch nicht vor, weshalb ihre Berufung insoweit zurückzuweisen ist.

Die Berufung der Klägerin ist auch unbegründet, soweit sie die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche (Merkzeichen) "G" und "B" begehrt. Das SG hat die für die Entscheidung über das Begehren einschlägigen Rechtsgrundlagen im angefochtenen Gerichtsbescheid vollständig und zutreffend genannt. Hierauf nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug.

Der Senat gelangt mit dem SG nach eigener Überprüfung ebenfalls zu der Überzeugung, dass bei der Klägerin die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "G" nicht vorliegen, weshalb auch die Feststellung des Merkzeichens "B" nicht in Betracht kommt. Er nimmt zur Begründung seiner eigenen Entscheidung auf die insoweit zutreffenden Ausführungen des SG im angefochtenen Gerichtsbescheid (Seite 6f) Bezug, die er sich zur Begründung seiner eigenen Entscheidung insoweit zu eigen macht und auf die er zur Vermeidung von Wiederholungen verweist (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend und im Hinblick auf das Berufungsvorbringen bleibt auszuführen:

Die Erkrankung der Klägerin an Dermatomyositis rechtfertigt für sich die Annahme der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches (Merkzeichen) "G" nicht. Für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" vorliegen, sind vielmehr das erreichte Krankheitsstadium, die Krankheitsphase und die konkreten individuellen Auswirkungen auf das Gehvermögen entscheidend (vgl. BSG, Beschluss vom 15.08.2000 B 9 SB 33/00 B, auf den sich die Klägerin berufen hat). Dass die Klägerin durch ihre Erkrankung an Dermatomyositis in ihrem Gehvermögen in einer Weise eingeschränkt ist, dass bei ihr eine erhebliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt, lässt sich den zahlreich vorliegenden medizinischen Befundunterlagen nicht entnehmen. So war insbesondere bei der Untersuchung durch Dr. H. das Gangbild der Klägerin sicher und ausreichend flüssig. Eine muskuläre Schwäche ließ sich im Rahmen der Untersuchung nicht nachweisen. Die Kraftprüfung war regelrecht. Insgesamt war bei der Klägerin der körperlich-neurologische Befund unauffällig. Die Ansicht von Dr. H. in seinem Gutachten, dass die Klägerin noch in der Lage ist, täglich viermal einen Fußweg von mehr als 500 Metern innerhalb von 15 bis 18 Minuten zurückzulegen, ist danach überzeugend. Dem entspricht auch die Bewertung von Dr. Sch. in seinem Gutachten an das SG. Auch die vom Senat gehörten Prof. Dr. K./Dr. G. haben in ihrer Stellungnahme vom 30.11.2006 bei einer gering- bis mittelgradigen Muskelschwäche der Klägerin von einer Beeinträchtigung des Gehvermögens der Klägerin nicht berichtet. Dies hat auch Dr. D. in seinem Befundbericht vom 12.10.2004 an das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg bestätigt. Im Übrigen hat sich auch die Klägerin selbst nicht auf eine Einschränkung ihres Gehvermögens wegen ihrer Dermatomyositis-Erkrankung berufen.

Soweit sich die Klägerin im Berufungsverfahren (zuletzt) darauf berufen hat, ihr seien die Merkzeichen "G" und "B" deswegen zuzuerkennen, weil sie wegen der notwendigen Medikamenteneinnahmen beim Gehen beeinträchtigt und infolge von Schwindelgefühlen und Sinnestäuschungen teilweise orientierungslos sei, findet dieses Vorbringen in den zahlreich vorliegenden medizinischen Befundunterlagen keine Grundlage. Vielmehr hat Dr. D. in seinem Befundbericht vom 12.10.2004 an das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg mitgeteilt, dass eine Gehbehinderung der Klägerin nur in seltenen Ausnahmen, wenn im Rahmen von Angstzuständen Schwindelerscheinungen auftreten, vorliegt. Auch eine Orientierungslosigkeit der Klägerin hat er lediglich in wenigen Momenten bejaht, wenn Schwindel und Angst die Klägerin anfallsartig überkommen. Er hat lediglich eine indirekte Einschränkung der Gehstrecke und Gehsicherheit für den Fall genannt, dass die Klägerin Angst hat, allein das Haus zu verlassen. Dies rechtfertigt die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr jedoch nicht. Dem entspricht auch die insoweit überzeugende Bewertung des Dr. Sch. in seinem Gutachten vom 03.08.2005, wonach die psychischen Auffälligkeiten bei der Klägerin nicht so gravierend sind, dass dadurch die Behinderteneigenschaft "G" und "B" gerechtfertigt wäre. Unabhängig davon weist Dr. W. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 10.04.2007, die der Senat als urkundlich belegtes substantiiertes Parteivorbringen verwertet, überzeugend daraufhin, dass selbst dann, wenn durch die Medikamenteneinnahmen eine dauernde Orientierungsstörung gegeben wäre, die Möglichkeit einer anderen Medikation besteht. Dass dies bei der Klägerin erfolglos durchgeführt wurde, ist nicht ersichtlich und wird von ihr auch nicht dargetan. Die Berufung der Klägerin war daher insoweit ebenfalls zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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