L 1 U 98/06

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Schleswig (SHS)
Aktenzeichen
S 8 U 36/04
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 1 U 98/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
In § 168 Abs. 2 SGB VII ist dem Versicherungsträger Ermessen eingeräumt.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 8. Mai 2006 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die gerichtlichen und außergerichtlichen Kosten auch für die zweite Instanz. Die Revision wird zugelassen. Der Streitwert wird auf 16.126,51 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über eine rückwirkende Erhöhung von Beiträgen zur gesetzlichen Unfallversicherung.

Der Kläger ist Diplom-Ingenieur und betreibt ein Ingenieurbüro für Schiffbau, für das er eine Erlaubnis zur gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung besitzt. Mit diesem Unternehmen ist der Kläger Mitglied der Beklagten.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 23. März 1998 veranlagte die Beklagte das Unternehmen ab 1. Januar 1998 zu der Unternehmensart Ingenieurbüro (Gefahrtarifstelle 04, Gefahrklasse 0,67), Arbeitnehmerüberlassung – kaufmännisch verwaltend im Büro (Gefahrtarifstelle 48, Gefahrklasse 0,57) und Arbeitnehmerüberlassung – ge¬werblich (Gefahrtarifstelle 49, Gefahrklasse 10,66). Nach den vom Kläger ausgefüllten Entgeltnachweisen für die Jahre 1998 bis 2000, wobei der Kläger für die Unternehmensart der Arbeitnehmerüberlassung – gewerblich jeweils eine Fehlanzeige vornahm, errechnete die Beklagte die Beiträge und erließ mit Bescheid vom 27. April 1999 den Beitragsbescheid für 1998, mit Bescheid vom 25. April 2000 den Beitragsbescheid für 1999 sowie mit Bescheid vom 25. April 2001 den Beitragsbescheid für das Jahr 2000.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 27. Juni 2001 veranlagte die Beklagte das Unternehmen des Klägers aufgrund des ab 1. Januar 2001 neuen Gefahrentarifs neu: Das Ingenieurbüro nach der Gefahrtarifstelle 04 (Gefahrklasse für das Jahr 2001 0,80 , ab dem Jahr 2002 0,88), die Arbeitnehmerüberlassung kaufmännisch verwaltend nach der Gefahrtarifstelle 52 (ab 2001 Gefahrklasse 0,56) und die Arbeitnehmerüberlassung gewerblich nach der Gefahrtarifstelle 53 (ab 2001 Gefahrklasse 10,66). Die vom Kläger ausgefüllten Entgeltnachweise für die Jahre 2001 und 2002 enthielten wiederum Fehlanzeige für die Arbeitnehmerüberlassung Gefahrtarifstelle 53. Mit Bescheid vom 24. April 2002 erließ die Beklagte den Beitragsbescheid für 2001 und mit Bescheid vom 23. April 2003 den Beitragsbescheid für 2002. Ein vom Kläger am 7. März 2003 gestellter Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens wurde am 28. Mai 2003 wieder zurückgenommen.

Am 10. Juni 2003 sowie am 20. Juni 2003 führte die Beklagte für die veranlagten Unternehmensarten des Klägers Prüfungen durch. Hierbei stellte sie falsche Zuordnungen bei den Gefahrtarifstellen 52 und 53 für die Jahre 1998 bis 2002 fest. Mit Bescheiden vom 25. Juli 2003 errechnete die Beklagte die Beiträge für die Jahre 1998 bis 2002 neu und forderte unter Änderung der ergangenen bestandskräftigen Bescheide vom 27. April 1999, 25. April 2000, 25. April 2001, 24. April 2002 und 23. April 2003 sowie jeweils unter Berücksichtigung der bereits gezahlten Beiträge für das Jahr 1998 3.991,79 EUR, für das Jahr 1999 2.046,89 EUR, für das Jahr 2000 5.483,46 EUR, für das Jahr 2001 3.218,76 EUR und für das Jahr 2002 1.385,06 EUR, insgesamt 16.126,51 EUR nach.

Unter Hinweis auf seine wirtschaftliche Situation beantragte der Kläger bei der Beklagten am 7. August 2003 die Stundung der Beiträge, weil er andernfalls gezwungen sei, einen erneuten Insolvenzantrag zu stellen. Mit am 26. August 2003 bei der Beklagten eingegangenem Schreiben legte der Kläger Widerspruch gegen die Beitragsbescheide vom 25. Juli 2003 ein. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass die durchgeführte Arbeitnehmerüberlassung nur auf ausdrücklichen Kundenwunsch von ihm durchgeführt worden sei und es sich hierbei nicht um einen eigenständigen Betrieb handele, sondern dazu diene, den Kunden zufriedenzustellen und neue Aufträge für das Ingenieurbüro zu sichern. Die Beklagte wies darauf hin, dass die im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung tätigen Ingenieure nicht ausschließlich kaufmännisch und verwaltend tätig seien. Dem widersprach der Kläger. Nach seiner Auffassung sei eine Zuordnung zu den Gefahrtarifstellen 48 (bis zum Jahr 2000) bzw. 52 (für die Jahre 2001 und 2002) zutreffend. Im Übrigen habe die Beklagte verkannt, dass es sich bei der Arbeitnehmerüberlassung lediglich um ein so genanntes Hilfsunternehmen handele, das dem Hauptunternehmen in Form des Ingenieurbüros überwiegend diene. Auch umsatzmäßig liege der Anteil des Hilfsunternehmens erheblich unter dem Anteil dem des Hauptunternehmens. Die Beitragsbescheide wie auch die Säumniszuschlagsbescheide vom 4. April 2004 seien deshalb rechtswidrig. Zugleich beantragte der Kläger die Veranlagungsbescheide gemäß § 44 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) bzw. gemäß § 160 Sozialgesetzbuch, Siebtes Buch (SGB VII) zu ändern.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22. April 2004 wies die Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom 25. Juli 2003 als unbegründet zurück. Die Beklagte wies betreffend die Widersprüche gegen die Beitragsbescheide 1998 bis 2000 darauf hin, dass sich die Widersprüche gegen die Veranlagung des Unternehmens und die Höhe der Gefahrklassen, nicht jedoch gegen die Berechnung der Beiträge richteten. Die Festsetzung der Gefahrklasse sei jedoch nicht Gegenstand des Beitragsbescheides. Diese sei bereits durch den bestandskräftigen Veranlagungsbescheid vom 31. März 1998 festgesetzt und betreffend diese Zeiträume nach den vom 1. Januar 1998 bis 31. Dezember 2000 gültigen Gefahrtarif veranlagt worden. Entsprechend wies die Beklagte die Widersprüche auch gegen die Beitragsbescheide 2001 und 2002 zurück. Auch diese Widersprüche richteten sich gegen die Veranlagung des Unternehmens und die Höhe der Gefahrklassen. Diese seien jedoch durch den Veranlagungsbescheid vom 27. Juli 2001 nach dem ab dem 1. Januar 2001 gültigen Gefahrtarif festgesetzt worden. Auch dieser Veranlagungsbescheid sei bindend geworden und es sei nicht möglich, die Veranlagung zu den Gefahrklassen aufgrund der Beitragsbescheide erneut anzugreifen.

Hiergegen hat der Kläger am 21. Mai 2004 Klage vor dem Sozialgericht Schleswig erhoben. Über sein bisheriges Vorbringen hinaus hat der Kläger weiter ausgeführt, dass die im Unternehmen des Klägers tätigen Zeichner und Ingenieure ausschließlich mit kaufmännischen und verwaltenden Tätigkeiten und ausschließlich in kaufmännischen und verwaltenden Unternehmensteilen der Verleiher und Entleiher im Sinne der Gefahrtarifstellen 48 bzw. 52 befasst gewesen seien. Sie arbeiteten allein in Büroräumen im Rahmen von PC-Arbeit. Ihr Gefährdungspotential entspreche der Beschäftigung eines normalen Bürokaufmanns. Im Übrigen habe die Beklagte über den nach § 44 SGB X gestellten Antrag im Hinblick auf die Veranlagungsbescheide noch nicht entschieden. Im Übrigen seien die Beitragsbescheide schon wegen nicht durchgeführter, aber erforderlicher vorheriger Anhörung rechtswidrig. Die Voraussetzungen für eine Bescheidaufhebung nach § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII lägen nicht vor. Die Beklagte habe das ihr durch § 168 SGB VII eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt. Hier liege der Fall des so genannten Ermessensnichtgebrauchs vor, weshalb die Bescheide ohne Heilungsmöglichkeit rechtswidrig seien.

Der Kläger hat beantragt,

die Beitragsbescheide vom 25. Juli 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. April 2004 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat sich auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide bezogen. Nach ihrer Auffassung seien die verliehenen technischen Zeichner und Ingenieure nicht dem Ingenieurbüro, sondern dem Betriebsteil Arbeitnehmerüberlassung zuzuordnen. Die Beklagte beziehe sich auf eine Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Oktober 2003 – L 17 U 209/00 -. Nach Auffassung der Beklagten habe es einer Anhörung vor Erlass des Widerspruchsbescheides nicht bedurft, da die Rechtmäßigkeit der Beitragsbescheide 1998 bis 2002 vom 25. Juli 2003 bestätigt und nicht geändert worden seien. Im Übrigen sei nach ihrer Auffassung keine Ermessensentscheidung zu treffen gewesen, gegebenenfalls hätte sich das Ermessen auf Null reduziert. Im Übrigen habe die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 22. April 2004 auf Seite 2 im 5. Absatz sehr wohl Ermessen ausgeübt.

Bezüglich des vom Kläger am 30. August 2004 vor dem Sozialgericht erhobenen Antrages, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, haben sich die Beteiligten am 30. November 2004 außergerichtlich verglichen (S 8 U 34/04 ER).

Auf die mündliche Verhandlung vom 8. Mai 2006 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage sei zulässig und begründet. Die Beklagte sei nicht befugt, die ursprünglichen Beitragsbescheide für die Jahre 1998 bis 2002 mit den angefochtenen Bescheiden nachträglich zu ändern. Gemäß § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII dürfe ein Beitragsbescheid des Unfallversicherungsträgers mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten des Beitragsschuldners u.a. dann aufgehoben werden, wenn der Nachweis unrichtige Angaben enthalte oder sich die Schätzung als unrichtig erweise, worauf sich die Beklagte berufe. Nach den Feststellungen des Gerichts sei nicht nachgewiesen, dass die Lohnnachweise des Klägers im maßgeblichen Zeitraum tatsächlich unrichtige Angaben enthielten. Da sich die Beklagte im Rahmen der Beitragskorrektur auf die Unrichtigkeit der Angaben berufe, wirke sich die Nichterweislichkeit dieser Tatsache nach dem im Sozialrecht geltenden Grundsatz zur objektiven Beweislast dahingehend aus, dass die Bescheide rechtswidrig seien. Der Kläger habe plausibel dargelegt, dass die im Rahmen der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung tätigen technischen Zeichner und Ingenieure ausschließlich mit kaufmännischen und verwaltenden Tätigkeiten und ausschließlich in kaufmännischen und verwaltenden Unternehmensteilen der Verleiher und Entleiher tätig gewesen seien. Ihre Entgelte seien daher grundsätzlich wie geschehen nach den Gefahrtarifstellen 48 (für die Zeit bis einschließlich 2000) bzw. 52 (für die Jahre 2001 und 2002) mit den Gefahrklassen 0,57 bzw. 0,56 nachzuweisen gewesen. Soweit die Beklagte pauschal behaupte, dass die Entgelte der technischen Zeichner und Ingenieure zutreffend den Gefahrtarifstellen 49 bzw. 53 zuzuordnen gewesen wären, sei dies nicht mehr objektiv zu klären. Die Nichterweislichkeit der von der Beklagten behaupteten Tatsachen wirke sich jedoch dahingehend aus, dass die Beitragskorrekturbescheide rechtswidrig seien. Das Gericht weise ergänzend auf den Wortlaut des § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII hin, wonach im Rahmen dieser Vorschrift eine Ermessensentscheidung zu treffen sei. Hierfür spreche bereits eindeutig der Wortlaut des § 168 Abs. 2 SGB VII ("darf"). Auch Sinn und Zweck dieser Vorschrift stünden einer entsprechenden Auslegung nicht entgegen. Diese stelle eine Sonderregelung zu § 45 SGB X dar, bei der der Gesetzgeber jedoch eine Vertrauensschutzprüfung, wie sie § 45 Abs. 2 SGB X enthalte, nicht vorgesehen habe. Unter Berücksichtigung des Fehlens einer Vertrauensschutzprüfung sei vorliegend zumindest Ermessen auszuüben. Das Gericht gehe deshalb davon aus, dass bei Entscheidungen nach § 168 Abs. 2 SGB VII Ermessen auszuüben sei. Zu einer Ermessensreduzierung auf Null habe die Beklagte inhaltlich nichts vorgetragen. Nach den Feststellungen des Gerichts habe die Beklagte somit das ihr eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt und das Erfordernis, eine Ermessensentscheidung zu treffen, nicht wahrgenommen. Hierfür spreche jedenfalls das Vorbringen im Termin zur mündlichen Verhandlung am 8. Mai 2006, in dem die Beklagte zunächst die Auffassung vertreten habe, dass keine Ermessensentscheidung zu treffen gewesen sei bzw. sich das Ermessen gegebenenfalls auf Null reduziert habe. Später habe sich die Beklagte darauf berufen, dass in dem Widerspruchsbescheid vom 22. April 2004 auf Seite 2 im 5. Ab¬satz sehr wohl Ermessen ausgeübt worden sei. Ermessen könne jedoch nur ausgeübt werden, wenn den entsprechenden Entscheidern auch bewusst sei, dass ihnen Ermessen eingeräumt worden sei. Hiervon könne nach den Feststellungen des Gerichts nicht ausgegangen werden.

Das Urteil ist der Beklagten am 24. August 2006 zugestellt worden. Zur Begründung ihrer am 29. August 2006 eingegangenen Berufung führt die Beklagte aus, dass der Kläger keinen Anspruch auf eine Eingruppierung der im Rahmen der gewerblichen Arbeitnehmerüberlassung tätigen Ingenieure in eine andere Gefahrtarifstelle mit einer geringeren Gefahrklasse habe. Rechtsgrundlage für den Veranlagungsbescheid sei § 159 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Es sei nicht Aufgabe der Gerichte zu überprüfen, ob der von der Vertreterversammlung des Unfallversicherungsträgers festgesetzte Gefahrtarif die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Regelung sei. Dies habe das BSG in seinen Entscheidungen vom 21. August 1991 und 18. Oktober 1994 entschieden. Die Veranlagung der Unternehmen der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung in nur zwei Gefahrtarifen sei rechtmäßig. Es bestehe kein Anspruch darauf, dass die Ingenieure des Klägers in der Gefahrklasse für kaufmännische und verwaltende Beschäftigte eingesetzt würden. Unstreitig sei, dass die Ingenieure keine kaufmännische oder verwaltende Tätigkeit in einem Betrieb ausübten, sondern technische Leistungen erbrächten. Im Übrigen bestehe im Rahmen des § 168 SGB VII für eine Ermessensentscheidung kein Raum.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 8. Mai 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger bezieht sich auf sein bisheriges Vorbringen. Im Übrigen weist er darauf hin, dass er sich auch gegen die rechtsverbindliche Veranlagung in den Bescheiden vom 23. Mai 1998 und 27. Juni 2001 wende und diesbezüglich bereits vorgerichtlich einen entsprechenden Antrag nach § 44 SGB X bzw. § 160 SGB VII gestellt habe. Diesen Antrag habe die Beklagte mit Bescheid vom 24. Juli 2006 abgelehnt. Über den vom Kläger hiergegen eingelegten Widerspruch habe die Beklagte noch nicht entschieden.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 22. November 2007 hat der Senat das Sach- und Streitverhältnis mit den Beteiligten erörtert. Hierbei haben die den Kläger betreffenden Akten der Beklagten sowie die Gerichtsakten vorgelegen. Auf diese Unterlagen wird wegen der weiteren Einzelheiten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht Schleswig die angefochtenen Beitragsbescheide vom 25. Juli 2003 für die Jahre 1998 bis 2002 jeweils in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. April 2004 aufgehoben. Denn diese Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.

Gemäß § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII darf der Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten der Beitragspflichtigen nur dann aufgehoben werden, wenn der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthält oder sich die Schätzung als unrichtig erweist.

Die Beklagte hat die Beitragsbescheide vom 25. Juli 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. April 2004 darauf gestützt, dass der Kläger Rechenfehler/Zuordnungen zu den Gefahrtarifstellen falsch vorgenommen hat. Ob die angefochtenen Beitragsbescheide damit materiell-rechtlich rechtmäßig sind oder ob die Entgelte der verliehenen technischen Zeichner und Ingenieure tatsächlich wie vom Kläger angegeben in den Gefahrtarifstellen 48 (bis 2000) bzw. 52 (für die Jahre 2001 und 2002) nachzuweisen gewesen wären, kann im Ergebnis offen bleiben, weil die Bescheide bereits formell rechtswidrig sind.

Die Rechtswidrigkeit folgt nicht bereits daraus, dass der Kläger zu den Beitragsbescheiden vom 25. Juli 2003 nicht ordnungsgemäß angehört worden wäre.

Denn die Anhörung wäre jedenfalls durch die Durchführung des Widerspruchsverfahrens nach § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X nachgeholt und der Mangel damit geheilt worden.

Die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide folgt vorliegend aber daraus, dass die Beklagte das ihr durch § 168 Abs. 2 SGB VII eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt hat.

a) Bei der Entscheidung nach § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (so auch LSG Berlin-Brandenburg vom 20. März 2007 – L 2 U 46/03 – mit eingehender Begründung; LSG Rheinland-Pfalz vom 20. Februar 2004 – L 2 ER 59/03 U; LSG Baden-Württemberg Beschlüsse vom 10. Juli 2007 L 10 U 2777/07 ER – B L 10 U 2778/07 W-A, L 10 U 2777/07, L 10 U 2778/07 (alle Entscheidungen zitiert nach juris); Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Bd. 3/2 § 168 Anm. 11; Kater/Läubel, Gesetzliche Unfallversicherung 1997 § 168 Anm. 13). Hierfür spricht zunächst der Wortlaut der Vorschrift. Diese ist ausdrücklich im Sinne einer Kann-Vorschrift formuliert: "Darf( ...) nur dann aufgehoben werden, wenn ( ...) ".

In den Materialien zu § 168 Abs. 2 SGB VII heißt es, dass die Vorschrift die Fälle aufzähle, in denen ein Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zu Ungunsten des Unternehmers aufgehoben werden "kann"; sie entspreche im Wesentlichen dem geltenden Recht (§ 749 RVO). Im Übrigen richte sich die Aufhebung von Beitragsbescheiden nach den §§ 44 ff. SGB X (Bundestagsdrucksache 13/2204, Seite 113 zitiert nach Brackmann a.a.O. Anm. 3). Auch die Formulierung des Satz 1 1. Halbsatz der Materialien spricht damit für eine Ermessensentscheidung im oben genannten Sinn, wenn dort von "kann" gesprochen wird.

Für eine Ermessensentscheidung spricht weiter die gleichlautende Formulierung von § 45 Abs. 1 SGB X, zu dem § 168 SGB VII nach einhelliger Auffassung die Spezialvorschrift ist. Auch § 45 Abs. 1 SGB X stellt in einem allgemeinen Programmsatz fest, dass ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt für die Zukunft oder für die Vergangenheit aufgehoben werden "darf", dies also im Ermessen der Behörde steht, falls eine Rücknahme nicht nach den Abs. 2 bis 4 ausgeschlossen ist (vgl. z.B. von Wulffen SGB X § 45 Anm. 3). Hätte der Gesetzgeber mit § 168 SGB VII eine gebundene Entscheidung normieren wollen, hätte er eine hierauf abzielende Formulierung gewählt: "Ist ( ...) aufzuheben, wenn" oder z.B. "wird (nur) aufgehoben, wenn". Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Gesetzgeber die Ermessensentscheidung des § 45 Abs. 1 SGB X auch durch Spezialregelungen wieder eingeschränkt hat, z.B. durch § 330 SGB III im Bereich der Arbeitsförderung. Im dortigen Abs. 2 ist ausdrücklich normiert, dass im Falle des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X die Rücknahme des Verwaltungsaktes auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist. Auch das spricht dafür, dass der Gesetzgeber mit der Spezialregelung des § 168 Abs. 2 SGB VII eine Ermessensentscheidung durch die Behörde ausdrücklich normieren wollte.

In der Rechtsprechung zur Vorgängervorschrift des § 749 RVO findet eine eigentliche Auseinandersetzung mit der Problematik nicht statt. Das LSG Niedersachsen urteilt in seiner Entscheidung vom 29. Juli 1997 – L 3 U 223/97 -, dass § 749 Ziffer 3 RVO die Behörde bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen zur nachträglichen Beitragserhebung nicht nur berechtigt, sondern zugleich verpflichtet sei. Das LSG Niedersachsen weist hierbei auf Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. Dezember 1985 – 2 RU 49/84 und 30/85 – hin, in welchen das BSG zu § 734 Abs. 2 RVO sowie § 749 RVO nicht die Ausübung eines Ermessens gefordert habe. Zur Frage der Ermessensausübung hat sich das BSG in diesen Entscheidungen jedoch gerade nicht geäußert.

Die gegenteilige Ansicht (Ricke in Kasseler Kommentar, SGB VII, § 168 Anm. 4; Bigge in juris PR-SozR 22/2207 Anm. 3; derselbe in Wannagat, Sozialgesetzbuch SGB VII, § 168 Anm. 13; Sozialgericht Dortmund Urteil vom 25. Juli 2002 – S 17 U 45/00 – unter Hinweis auf das Urteil des LSG Niedersachsen vom 29. Juli 1997 a.a.O.; unklar insoweit Freischmidt in Hauck/Noftz SGB VII K § 168 Anm. 7, der eine eingeschränkte Ermessensausübung für § 168 Abs. 2 Ziffer 1 fordert – hiergegen LSG Rheinland-Pfalz vom 20. Februar 2004 a.a.O.) vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Diese Auffassung argumentiert, dass die Gesetzesformulierung in § 168 Abs. 2 SGB VII im Sinne von "ist nur zulässig, wenn" und damit als Tatbestandsmerkmal im Gegensatz zur Rechtsfolge in § 45 SGB X zu verstehen sei. Zudem müssten im Falle einer Nichtberücksichtigung andere Unternehmer den Ausfall über die Umlage mittragen, was dem Solidargedanken widersprechen würde. Eine Prüfung der Nichterhebung käme nur unter den strengen Voraussetzungen der sich aus § 76 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) folgenden Verpflichtung zur rechtzeitigen und vollständigen Beitragshebung in Betracht.

Diese Argumentation vermag den eindeutigen Wortlaut in der Gesetzesformulierung, die Ausgangspunkt jeder Auslegung darstellt, wie auch in den Gesetzesmaterialien nicht zu widerlegen. Auch setzt sich diese Auffassung nicht hinreichend damit auseinander, dass § 168 SGB VII als Spezialvorschrift im Gefüge der §§ 44 ff. SGB X zu bewerten ist, die nur unter besonderen Voraussetzungen die Durchbrechung der materiellen Bestandskraft und der Bindungswirkung ermöglichen sollen. Keinesfalls vermögen praktische Schwierigkeiten der Behörde, wie die Ermessensabwägung zu treffen ist, eine gebundene Entscheidung begründen zu können (so aber Bigge in juris PR-SozR a.a.O.). Soweit das LSG Rheinland-Pfalz in seiner Entscheidung vom 20. Februar 2004 (a.a.O. Rz 26) ausführt, dass es im Rahmen einer Ermessensentscheidung im Einzelfall genügen könne, wenn der Unfallversicherungsträger darauf hinweise, dass er nach den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit Beiträge, soweit rechtlich zulässig, erhebe und Gründe, davon abzusehen, nicht ersichtlich seien, steht dies nicht im Widerspruch zu den Ausführungen des LSG Baden-Württemberg in seinen Beschlüssen vom 10. Juli 2007 (a.a.O.). In diesen Entscheidungen hatte das LSG Baden-Württemberg darüber zu befinden, ob von der dortigen Beschwerdegegnerin Ermessen ausgeübt worden war. In den zu überprüfenden Nachforderungsbescheiden hatte es geheißen:" Nach § 76 SGB IV sind Beiträge vollständig zu erheben. Gründe, die es rechtfertigen, von der Nacherhebung abzusehen, sind in Ihrem Fall nicht ersichtlich." Nach Auffassung des Senats wird diese Textpassage auch den erleichterten Anforderungen bei der Ermessensausübung, so wie vom LSG Rheinland-Pfalz angenommen, nicht gerecht. Zu Recht weist daher das LSG Baden-Württemberg darauf hin, dass es sich hierbei um eine formelhafte Textpassage handelt, die augenscheinlich routinemäßig und ohne inhaltliche Prüfung ausgedruckt wird, auf die konkreten Umstände des Einzelfalles also gerade nicht abstellt. Zudem bestehen Zweifel, ob sich die entscheidende Stelle überhaupt darüber im Klaren war, dass Ermessen ausgeübt werden musste. Zudem bezieht sich die Passage in erster Linie auf § 76 SGB IV und nicht auf die im Vordergrund stehende und Ermessen erfordernde Frage der Rücknahme bestandskräftiger Beitragsbescheide.

b) Ausgehend von dem Erfordernis einer Ermessensausübung im Rahmen des § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII ist vorliegend festzustellen, dass die Beklagte kein Ermessen ausgeübt hat.

Gemäß § 35 SGB X ist ein schriftlicher Verwaltungsakt mit Gründen zu versehen und die wesentlichen und tatsächlichen rechtlichen Gründe sind mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Bei der Ermessensentscheidung muss die Begründung darüber hinaus auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von der die Behörde bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (Abs. 1 Satz 1 bis 3). Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) besteht auf die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens ein Anspruch. In den Bescheiden vom 25. Juli 2003 hat die Beklagte kein Ermessen ausgeübt. Dies ist zwischen den Beteiligten zu Recht auch nicht strittig.

Soweit die Beklagte vorträgt, im Widerspruchsbescheid vom 22. April 2004 Seite 2 5. Absatz Ermessen ausgeübt zu haben, ist dies nicht nachzuvollziehen. Denn es ist nicht erkennbar, von welchen Überlegungen die Beklagte sich bei ihrer Entscheidung hat leiten lassen. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Beklagte den ihr gegebenen Ermessensspielraum nicht angenommen hat. Soweit die Beklagte vorträgt, dass sie wegen § 76 Abs. 1 SGB IV verpflichtet sei, geltend gemachte Beiträge vollständig und rechtzeitig zu erheben, weshalb gegebenenfalls sich das Ermessen auf Null reduziert habe, ist dies im Ergebnis unerheblich. Denn selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass das Ermessen im Falle des § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII wegen § 76 Abs. 1 SGB IV deutlich reduziert ist, bedarf es auch für diesen Fall der Ermessensbestätigung. Gerade im Fall der Ermessensreduzierung auf Null müssen nämlich die besonderen Gründe, warum nur diese eine Entscheidung in Betracht kommt, erkennbar sein. Im vorliegenden Fall ergibt sich das besondere Begründungserfordernis schon daraus, dass es sich um die Nacherhebung zu einer bereits stattgefundenen Beitragserhebung handelt (LSG Berlin-Brandenburg a.a.O. – LSG Rheinland-Pfalz a.a.O.). Ein möglicher Gesichtspunkt im Rahmen der Erwägungen wäre hier zudem die wirtschaftliche Situation des Klägers gewesen.

Da die Beklagte weder im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren noch im Berufungsverfahren Gründe im Rahmen einer Ermessensbetätigung nachgeschoben hat, so dass von einem nicht nachgeholten Ermessen auszugehen ist (vgl. § 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB X), erübrigt sich im vorliegenden Fall auch die Auseinandersetzung mit der Frage, ob bei einem – wie hier – vorliegenden Ermessensausfall überhaupt eine Heilung möglich ist (vgl. verneinend LSG Berlin-Brandenburg a.a.O.; von Wulffen SGB X 4. Aufl., § 41 Anm. 6 – anderer Ansicht LPK SGB X § 41 Anm. 12b, wonach in diesen Fällen eine Aussetzung nach § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht zu ziehen ist; hiergegen LSG Thüringen vom 3. November 2005 – L 3 AL 108/04).

Die Bescheide der Beklagten vom 25. Juli 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. April 2004 erweisen sich damit insgesamt gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG als rechtswidrig.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO.

Die Revisionszulassung folgt vorliegend aus § 160 Abs. 2 SGG, da bezüglich der streitentscheidenden Frage, ob § 168 Abs. 2 SGB VII eine Ermessensbetätigung erfordert, noch keine höchstrichterliche Entscheidung vorliegt.

Die Streitwertentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 52 Abs. 1 GKG und orientiert sich an der von der Beklagten geltend gemachten Beitragsforderung für die Jahre 1998 bis 2002.
Rechtskraft
Aus
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