L 12 AS 2544/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 9 AS 2202/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 2544/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 21.03.2007 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zur erstatten.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) im Streit.

Der Kläger befand sich im Anschluss an eine Haft seit dem 22.12.2003 im Maßregelvollzug im Zentrum für Psychiatrie R. (ZPR) in therapeutischer Behandlung. Die Staatsanwaltschaft räumte dem Kläger am 02.05.2005 Vollzugslockerungen zur Arbeitssuche und Arbeitsaufnahme in K. ein.

Daraufhin beantragte der Kläger am 11.05.2005 die Gewährung von Arbeitslosengeld II. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 01.07.2005 ab, da der Kläger sich seit mehr als 6 Monaten in einer stationären Einrichtung im Sinne von § 7 Abs. 4 SGB II befinde und deswegen nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II sei.

Seinen Widerspruch begründete der Kläger damit, dass er bald aus der stationären Behandlung entlassen werde und jetzt bereits dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe. Im Übrigen stünden sechs andere Patienten des ZPR, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden, im Leistungsbezug nach dem SGB II.

Mit Widerspruchsbescheid vom 04.08.2005 wies die Beklagte den Widerspruch aus den Gründen des Ablehnungsbescheides als unbegründet zurück. Der Kläger wurde hierbei auf Ansprüche nach dem SGB XII verwiesen.

Am 25.05.2005 hat der Kläger Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben. Wegen seiner Vollzugslockerungen stehe er trotz der Unterbringung nach § 64 Strafgesetzbuch (StGB) dem Arbeitsmarkt vollumfänglich zur Verfügung. Zudem bestünden auch aus medizinischer Sicht keine wesentlichen Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit, wozu er ein Attest seines Arztes Dr. M. vom 09.05.2005 vorlegte. Zweck des SGB II sei die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Die Vollzugslockerung sei ihm auch gerade deshalb eingeräumt worden, damit er eine Arbeitsstelle finden könne. Zielsetzung sei die Integration in den Arbeitsmarkt und die gesellschaftliche Wiedereingliederung. Es sei auch bereits ein befristetes Arbeitsverhältnis abgeschlossen worden. Die ablehnende Haltung der Beklagten laufe diesen Zielsetzungen zuwider.

Am 15.11.2005 bezog der Kläger im Rahmen einer Belastungserprobung eine eigene Wohnung. Am 03.04.2006 wurde er aus dem ZPR entlassen. Seit dem 01.01.2006 bezieht der Kläger von der Beklagten Arbeitslosengeld II.

Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 21.03.2007 unter Aufhebung ihrer Ablehnungsbescheide verurteilt, dem Kläger vom 11.05.2005 bis zum 31.12.2005 Arbeitslosengeld II in gesetzlicher Höhe zu bewilligen. Der Kläger erfülle die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 SGB II. Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 4 SGB II, wonach Leistungen nicht erhalte, wer für länger als 6 Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht sei, finde vorliegend keine Anwendung. Der Begriff einer stationären Einrichtung werde im SGB II nicht definiert. Die Regelung sei daher im Zusammenhang mit § 5 Abs. 2 SGB II und § 21 SGB XII zu interpretieren (unter Hinweis auf LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.03.2006 - L 8 AS 1171/06 ER-B). Da auch in stationären Einrichtungen Untergebrachte erwerbsfähig sein könnten, weil es nach der Definition der Erwerbsfähigkeit in § 8 Abs. 1 SGB II lediglich darauf ankomme, ob unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ein Leistungsvermögen von mindestens drei Stunden täglich bestehe, kämen für sie die Leistungen der Sozialhilfe nach § 35 SGB XII wegen § 5 Abs. 2 SGB II nicht in Betracht. Vor diesem Hintergrund sei § 7 Abs. 4, 1. Halbsatz SGB II als gesetzliche Fiktion der Nichterwerbsfähigkeit auszulegen (unter Hinweis auf Spellbrink in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2005, § 7 Rd. Nr. 33). Wer somit länger als 6 Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht sei, sei von vornherein nicht nur nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II, sonder auch nicht erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II; für ihn greife der Ausschluss des Sozialhilfeanspruchs gem. § 5 Abs. 2 SGB II i. V. m. § 21 SGB XII damit nicht durch. Als Einrichtung im Sinne des § 7 Abs. 4 1. Halbsatz SGB II könne jede vollstationäre Einrichtung aufgefasst werden, in welcher der Einrichtungsträger von der Aufnahme bis zur Entlassung des Hilfebedürftigen die Gesamtverantwortung für dessen tägliche Lebensführung übernehme und Gemeinschaftseinrichtung vorhanden sei. Diese Voraussetzungen seien beispielsweise bei der Verbüßung einer Strafhaft in einer Justizvollzugsanstalt erfüllt. Etwas anderes müsse jedoch gelten, wenn dem Gefangenen Vollzugslockerungen in Gestalt des Freigangs gewährt würden und er sich dementsprechend nicht umfassend in der Obhut der Einrichtung befinde, die unter diesen Umständen dann lediglich als "teilstationäre Einrichtung" anzusehen sei (unter Berufung auf LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.02.2006 - L 14 B 1307/05 AS). Letztlich beruhe der Leistungsausschluss auf der Fiktion, dass Personen mit einer Unterbringung von mehr als 6 Monaten Dauer in einer stationären Einrichtung nicht erwerbsfähig seien. Diese Fiktion könne für Freigänger bereits deswegen keine Geltung beanspruchen, weil diese oftmals nicht nur erwerbsfähig, sondern auch tatsächlich erwerbstätig seien. Für den Kläger könne vorliegend nichts anderes gelten. Die dem Kläger im ZPR eingeräumten Vollzugslockerungen ab dem 02.05.2005 seien ausdrücklich zum Zweck der Arbeitssuche und -aufnahme eingeräumt worden. Die Situation des Klägers habe damit im Hinblick auf die Einbeziehung in den nach § 7 SGB II leistungsberechtigten Personenkreis derjenigen von Freigängern entsprochen (unter Hinweis auf SG Berlin, Beschluss vom 27.10.2005 - S 94 AS 9350/05 ER). Diese Auslegung werde auch von Ziff. 7.36 der Durchführungshinweise der Bundesagentur für Arbeit zum SGB II (Stand 05.02.2007) gestützt, wonach lediglich eine teilstationäre Unterbringung vorliege, wenn von dem Einrichtungsträger nicht die Gesamt-, sondern lediglich eine Teilverantwortung übernommen und von dem Hilfebedürftigen ein gewisses Maß an Selbständigkeit verlangt werde. Weiter solle nach den genannten Durchführungshinweisen in derartigen Fällen kein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II vorliegen, wenn der Betroffene erwerbsfähig im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB II sei, wie dies im vorliegenden Fall gegeben sei. Das Urteil des SG wurde der Beklagten am 25.04.2007 zugestellt.

Am 22.05.2007 hat die Beklagte Berufung eingelegt. Das SG gehe in seiner Entscheidung davon aus, dass das ZPR bereits ab der Antragsstellung am 11.05.2005 für den Kläger nur noch eine Teilverantwortung übernommen habe. Demgegenüber sei jedoch zumindest bis zur Entlassung am 15.11.2005 noch von einer stationären Unterbringung auszugehen, da bis zu diesem Zeitpunkt die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung noch beim ZPR gelegen habe (unter Berufung auf Eicher/Spellbrink, a.a.O.; Bayrisches LSG, Beschluss vom 27.10.2005 - L 11 B 596/05 AS ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.05.2006 - L 19 B 327/06 AS ER). Das LSG Berlin-Brandenburg habe im Beschluss vom 18.09.2006 (L 19 B 416/06 AS ER) entschieden, dass dies bei Vollzugslockerungen auch dann noch gelte, wenn Gefangene außerhalb der Anstalt regelmäßig einer Beschäftigung unter Aufsicht oder ohne Aufsicht eine Vollzugsbeamten (Freigang) nachgingen. Die Vollzugslockerungen führten insbesondere nicht dazu, dass das ZPR lediglich als teilstationäre Einrichtung anzusehen sei. Die gleichen Überlegungen seien im Falle des Klägers zutreffend.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 21.03.2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des Sozialgerichts sowie die Akten des Landessozialgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist nicht begründet.

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird nach § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden und ausführlichen Entscheidungsgründe in dem angegriffenen Urteil des SG Bezug genommen, denen der Senat sich ausdrücklich anschließt.

Ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen: Zwar wurde, worauf die Beklagte zutreffend hinweist, mit dem am 01.08.2006 in Kraft getretenen Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 (BGBl I S. 1706 ff.) § 7 Abs. 4 SGB II geändert und nunmehr ausdrücklich der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung gleichgestellt. Es ist nach den Ausführungen in den Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 16/1410 S. 20; BT-Drucks. 16/1696 S. 25) davon auszugehen, dass der Gesetzgeber mit dieser Änderung eine Klarstellung vorgenommen hat, die auch zur Auslegung der Vorschrift vor dem Wirksamwerden der Änderung herangezogen werden kann (sog. authentische Interpretation).

Auch von der Neufassung wird aber nicht der vorliegende teilstationäre Aufenthalt wie im Falle des Klägers erfasst, welcher die Besonderheit hat, dass eine Integration in den Arbeitsmarkt erfolgen soll und dem Kläger eine Teilverantwortung für das Erreichen dieses Ziels übertragen wird, wozu gerade in maßgeblichen Teilen der Freizeit des Klägers faktisch keine Freiheitsentziehung mehr stattfindet.

Der Leistungssausschluss nach § 7 Abs. 4 SGB II kann daher auch nach der Gesetzesänderung nicht mehr gelten, wenn ein Häftling Freigänger ist oder jedenfalls wesentliche Teile seiner Freizeit außerhalb der Vollzugsanstalt verbringt (Peters in Estelmann, SGB II, Stand 10/06, § 7 Rdnrn. 68 ff. unter Hinweis auf LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.02.2006 - L 14 B 1307/05 AS ER). Dem von der Beklagten ausführlich zitierten anderslautenden Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg kann nach dem Sinn der Vorschriften nicht gefolgt werden, da die Vollzugslockerungen nach § 64 StGB gerade den Sinn der Wiedereingliederung in Arbeit und Gesellschaft haben und es widersprüchlich wäre, dies im Rahmen der Leistungsgewährung nach dem SGB II anders zu beurteilen und nicht anzuerkennen.

Der Gesetzgeber macht hierzu in den Materialien zu der Gesetzesänderung folgende Ausführungen (BT-Drucks. 16/1410 S. 20; vgl. auch BT-Drucks. 16/1696 S. 25):

"Der neu gefasste Satz 2 stellt den Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung einem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung gleich. Personen in Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung sind damit ebenfalls vom Leistungsbezug nach diesem Buch ausgeschlossen. Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung liegt insbesondere vor bei dem Vollzug von Strafhaft, Untersuchungshaft, Maßregeln der Besserung und Sicherung, einstweiliger Unterbringung, ( ...) Der neu angefügte Satz 3 regelt, welche Personengruppen von dem grundsätzlichen Leistungsausschluss nach Satz 1 ausgenommen sind und damit Leistungen nach diesem Buch beziehen können. Die erste Gruppe sind Personen, die für voraussichtlich weniger als sechs Monate in Krankenhäusern untergebracht sind. ( ...) Die zweite Gruppe sind Personen, die in stationären Einrichtungen untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens 15 Stunden die Woche erwerbstätig sind. Da bei einer Person, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig ist, zwingend davon auszugehen ist, dass sie erwerbsfähig und damit in der Lage ist, drei Stunden zu arbeiten, jedoch auch Personen erfasst werden sollen, die an einzelnen Tagen der Woche oder teilzeitbeschäftigt sind, lehnt sich die Regelung an § 119 SGB III an. Es muss sich demnach um eine Beschäftigung handeln, die mindestens 15 Stunden wöchentlich ausgeübt wird. Ein genereller Leistungsausschluss erscheint vor diesem Hintergrund für die beschriebenen Personengruppen daher nicht gerechtfertigt. Voraussetzung für den Leistungsbezug ist das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 dieses Buches. ( ...)"

Aus diesen Gesetzesmaterialien geht hervor, dass die tatsächliche Ausübung einer Erwerbstätigkeit von wenigstens 15 Stunden Dauer wöchentlich deswegen wieder zur Leistungsberechtigung nach dem SGB II führen soll, weil diese die Erwerbsfähigkeit des Betroffenen hinreichend belegt. Erst recht muss dies im Falle des Klägers gelten, der zwar tatsächlich keine Beschäftigung ausübte, dem aber mit dem Ziel der Integration in den Arbeitsmarkt Vollzugslockerungen gewährt wurden, bei denen sogar von einem vollschichtigen Leistungsvermögen ausgegangen wurde.

Im Übrigen wäre es widersinnig, dem Erwerbsfähigen und gleichzeitig Erwerbstätigen nach § 7 Abs. 4 Satz 3 SGB II eine Grundsicherung zu gewähren, obwohl er Sachleistungen der JVA und zusätzlich ein Arbeitseinkommen erzielt, hingegen dem Erwerbsfähigen und Arbeitsuchenden dies nach derselben Vorschriften zu verweigern; ersterer erhielte nämlich trotz der bereits vorhandenen zwei anderen Einkommensarten eine zusätzliche "Grundsicherung", wohingegen der Letztere alleine auf die Sachleistungen seiner Unterbringungsanstalt angewiesen wäre, ohne dass insoweit eine andere Bedarfslage erkennbar wäre.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 29.11.2007 - L 12 AS 1181/07) bei dem Leistungsbezug nach dem SGB II während einer stationären Unterbringung eine Anrechnung von Sachleistungen vorzunehmen ist, um einen unzulässigen doppelten Leistungsbezug zu vermeiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Zulassung der Revision erfolgte wegen der grundsätzlichen Bedeutung der aufgeworfenen Rechtsfrage.
Rechtskraft
Aus
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