L 18 AS 358/23 WA

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 104 AS 15981/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 358/23 WA
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufungen des Beklagten und des Beigeladenen wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. August 2021 geändert. Die Klage gegen den Beklagten wird abgewiesen.

Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig sind die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) II (seit 1. Januar 2023 Bürgergeld) und die Erstattung von insgesamt 58.524,19 € für die Zeit von Februar 2008 bis Januar 2016 wegen des Bezugs einer Altersrente (AR) vom Rentenfonds der Russischen Föderation.

Die 1953 in O/Russland geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige. Sie siedelte im Jahr 2001 von Russland nach Deutschland über. Der Rentenfonds der Russischen Föderation hatte ihr gemäß den Gesetzen Nr 173-FZ vom 17. Dezember 2001 bzw Nr 400-FZ vom 28. Dezember 2013 Altersarbeitsrente mit Vollendung des 55. Lebensjahres ab Januar 2008 bewilligt, die auf ein Sparkonto der Sbank von Russland (Filiale K) überwiesen wurde (Bescheinigung vom 19. Juli 2016; Höhe der AR Januar 2008 = 2.030,48 Russische Rubel <RUB>, Februar und März 2008 = mtl 2.086,94 RUB, April bis Juli 2008 mtl 2.247,70 RUB; August 2008 bis Februar 2009 = mtl 2.536,72 €, März 2009 = 2.692,72 RUB, April 2009 bis Juli 2009 = mtl 2.822,70 RUB, August 2009 bis November 2009 = mtl 2.888,15 RUB, Dezember 2009 = 3.500,15 RUB, Januar 2010 bis März 2010 = mtl 3.772,20 RUB, April 2010 bis Januar 2011 = mtl 4.009,85 RUB, Februar 2011 bis Januar 2012 = mtl 4.362,72 RUB, Februar und März 2012 = mtl 4.668,11 RUB, April 2012 bis Januar 2013 = mtl 4.827,29 RUB, Februar und März 2013 = mtl 5.145,89 RUB, März 2013 bis Januar 2014 = mtl 5.315,70 RUB, Februar und März 2014 = mtl 5.661,22 RUB, April 2014 bis Dezember 2014 = mtl 5.757,46 RUB, Januar 2015 = 5.782,12 RUB, Februar 2015 bis Januar 2016 = mtl 6.441,34 RUB, Februar 2016 bis Juni 2016 = mtl 6.699,09 RUB). Die auf das Sparkonto überwiesene Rente wurde ausweislich des vorliegenden Sparbuches monatlich mittels einer Bankkarte abgehoben.

Die Klägerin, die seit 1. Februar 2016 auch eine AR aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung erhält, bezog vom Beklagten seit Januar 2005 Alg II, so auch im Streitzeitraum von Februar 2008 bis Januar 2016. In den entsprechenden Fortzahlungsanträgen wie auch im Übrigen gab sie den Bezug der russischen AR nicht an und teilte diesen erst auf Aufforderung des Beklagten im Juni 2016 mit. Im Juli 2016 beantragte sie beim örtlichen Träger der Sozialhilfe, dem Beigeladenen, die Gewährung von Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – (SGB XII). Dieser bewilligte aufstockende SGB XII-Leistungen ab Juli 2016, lehnte aber den Antrag auf Leistungsgewährung für die Zeit vom Februar 2008 bis Juni 2016 ab (Bescheid vom 24. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Januar 2017), woraufhin die Klägerin Klage einreichte (S 90 SO 226/17).

Der Beklagte nahm in der Folge die Leistungsbewilligungen von Februar 2008 bis Januar 2016 zurück und forderte die Erstattung der erbrachten Leistungen iHv insgesamt 58.524,19 € (Bescheide vom 13. Oktober 2016 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 3. November 2016). Die Klägerin sei wegen des Bezugs der russischen AR von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen gewesen. Die fehlerhafte Bewilligung sei erfolgt, weil sie zumindest grob fahrlässig falsche und unvollständige Angaben gemacht bzw den Bezug der russischen AR nicht mitgeteilt habe.

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat nach Verbindung des Verfahrens gegen den Beigeladenen (Beklagter zu 2. des erstinstanzlichen Verfahrens) zum Verfahren gegen den Beklagten die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide aufgehoben, soweit „die Klägerin in der Zeit von Februar 2008 bis Januar 2016 gegen den Beklagten zu 2. ein (sic!) Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII hat“, und die Klagen im Übrigen abgewiesen. Der Aufhebung und Erstattung gegenüber der Klägerin stehe entgegen, dass der Beklagte einen entsprechenden Erstattungsanspruch gegenüber dem Beigeladenen nach § 105 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) habe. § 105 Abs. 3 SGB X stehe dem nicht entgegen, weil auch im Erstattungsstreit die Kenntnis des Sozialhilfeträgers über § 18 Abs. 2 Satz 2 SGB XII fingiert werde. Der Beigeladene habe demgegenüber eine eigene Leistungsverpflichtung im Ergebnis zu Recht abgelehnt (Urteil vom 31. August 2021).

Mit ihren Berufungen haben sich sowohl der Beklagte als auch der Beigeladene und die Klägerin gegen das SG-Urteil gewandt. Der Senat hat die Verbindung des Verfahrens gegen den Sozialhilfeträger mit dem Verfahren gegen den Beklagten mit Beschluss vom 28. Februar 2024 aufgehoben und den Sozialhilfeträger zum Verfahren beigeladen.

Die Klägerin beruft sich insbesondere darauf, dass sie die bewilligte russische AR tatsächlich nicht bezogen habe. Das Geld auf dem Sparbuch der Sbank habe sie nur persönlich vor Ort abheben können, was zu einer fehlenden Erreichbarkeit gegenüber dem Beklagten geführt hätte.

Sie beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. August 2021 zu ändern und die Bescheide des Beklagten vom 13. Oktober 2016 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 3. November 2016 in vollem Umfang aufzuheben sowie die Berufungen des Beklagten und Beigeladenen zurückzuweisen.

Der Beklagte und der Beigeladene beantragen,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. August 2021 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Sie berufen sich auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 8. Dezember 2022 (B 7/14 AS 11/21 R).

Die Verwaltungsakten des Beklagten und die Gerichtsakten (3 Bände) nebst der Gerichtsakte S 90 SO 226/17 haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Die Berufungen des Beklagten und des Beigeladenen sind begründet; die Berufung der Klägerin ist hingegen unbegründet. Die Klage gegen die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide des Beklagten vom 13. Oktober 2016 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 3. November 2016 ist nicht begründet, so dass die in Klage hiergegen in vollem Umfang abzuweisen war.

Gegenstand des Verfahrens sind (nur) noch die vorgenannten Bescheide des Beklagten und das SG-Urteil, soweit es sich auf die Klage gegen den Beklagten bezieht. Über die im erstinstanzlichen Verfahren verbundene Klage gegen den Beigeladenen hat der Senat nach Aufhebung der Verbindung (§ 113 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) vorliegend nicht zu befinden. Die gegen den Beigeladenen geltend gemachten Leistungsansprüche sind nach der Aufhebung der Verfahrensverbindung nicht mehr Streitgegenstand des noch anhängigen und vorliegend zu entscheidenden Verfahrens gegen das beklagte Jobcenter (vgl auch BSG, Urteil vom 28. August 2013 – B 6 KA 41/12 R = SozR 4-5408 Art 14 Nr 1 – Rn 16). Sie sind – mit eigenem Aktenzeichen (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG 14. Aufl 2023, § 113 Rn 5b) – Gegenstand eines vom zuständigen Fachsenat des Landessozialgerichts (LSG) selbständig zu verhandelnden und zu entscheidenden Verfahrens. Die Klägerin verfolgt ihr Klagebegehren gegen den Beklagten zutreffend mit der isolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt 1 SGG).

Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Leistungsbewilligungen ist § 40 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende – SGB II (in der seit 1. August 2016 geltenden Fassung; zur Maßgeblichkeit des im Zeitpunkt der Aufhebung geltenden Rechts vgl BSG, Urteil vom 7. Dezember 2017 – B 14 AS 7/17 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 55 – Rn 10 mwN) iVm §§ 45 (bezüglich der Aufhebung für Juli 2008 bis Januar 2016), 48 (bezüglich der Aufhebung für Februar 2008 bis Juni 2008) SGB X und § 330 Abs. 2 und 3 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III). Danach ist eine rechtswidrige begünstigende Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II auch nach Unanfechtbarkeit ohne Ausübung von Ermessen mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sie auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat bzw soweit die Begünstigte die Rechtswidrigkeit der Bescheides kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X iVm § 330 Abs. 2 SGB III). Bei nachträglicher Rechtswidrigkeit gilt Gleiches mWv Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse, wenn die Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für sie nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (§ 48 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr 2 SGB X iVm § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III).

Auf diesen Grundlagen hat der Beklagte die Bewilligungen von Alg II für den streitbefangenen Zeitraum zu Recht mit der Begründung zurückgenommen, sie seien zum Zeitpunkt ihres Erlasses rechtswidrig bzw – für die Zeit von Februar 2008 bis Juni 2008 – mit Bewilligung der russischen AR rechtswidrig geworden. Die Klägerin war gemäß § 7 Abs. 4 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Auf schutzwürdiges Vertrauen kann sie sich nicht berufen. Der Rücknahme steht auch nicht die Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X entgegen, weil der Beklagte gegen die Beigeladene keinen Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff SGB X hat. Rechtmäßig ist der streitgegenständliche Bescheid zuletzt auch im Hinblick auf die geltend gemachte Rückforderung.

Die Bewilligungen von Alg II sind für die Zeit von Februar 2008 bis Januar 2016 rechtswidrig, weil die Klägerin von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen war. Ob die Klägerin die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II erfüllte, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen.

Nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II (in der ab 1. August 2006 geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20. Juli 2006 - BGBl I 1706) erhält Leistungen nach dem SGB II ua nicht, wer Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dies war bei der Klägerin im streitigen Zeitraum der Fall. § 7 Abs. 4 SGB II und § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II in der jeweils anwendbaren Fassung erstrecken sich auf den Bezug ausländischer Altersrenten. Bei diesen handelt es sich unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, systematischem Zusammenhang und dem Sinn und Zweck des § 7 Abs. 4 SGB II um Ansprüche nach dem SGB II ausschließende Leistungen, wenn sie die gleichen typischen Merkmale aufweisen wie eine deutsche AR (vgl schon BSG, Urteil vom 7. Dezember 2017 – B 14 AS 7/17 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 55 – Rn 15). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt eine Vergleichbarkeit dann vor, wenn die ausländischen Leistungen in ihrem Kerngehalt den gemeinsamen und typischen Merkmalen der inländischen Leistung entsprechen, dh nach Motivation und Funktion gleichwertig sind. Entscheidende Kriterien für die Vergleichbarkeit sind demnach die Leistungsgewährung durch einen öffentlichen Träger, das Anknüpfen der Leistung an das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze und der Lohnersatz nach einer im allgemeinen den Lebensunterhalt sicherstellenden Gesamtkonzeption (BSG aaO mwN).

Hinter dem Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II steht dabei die typisierende Annahme, dass Bezieher einer AR bereits vor Erreichen der Regelaltersgrenze aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und nicht mehr in Arbeit eingegliedert werden müssen. Sie sollen von der Förderung zur Integration in den Arbeitsmarkt durch eine steuerfinanzierte Leistung ausgeschlossen sein. Der Leistungsausschluss führt allerdings nicht dazu, dass bei Hilfebedürftigkeit kein Anspruch auf existenzsichernde Leistungen besteht. Wer nach § 7 Abs. 4 SGB II wegen AR-Bezugs keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II erhält, ist iS des § 21 Satz 1 SGB XII dem Grunde nach nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II und kann bei Hilfebedürftigkeit die auf gleicher Grundlage wie im SGB II bemessenen und vom Umfang im Wesentlichen identischen existenzsichernden Leistungen nach dem SGB XII unter Berücksichtigung des Renteneinkommens beanspruchen. Ob ein solcher alternativer Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt vorliegend bestand, kann dahinstehen, weil er nicht Streitgegenstand der vorliegend erhobenen Anfechtungsklage ist (vgl zum Ganzen BSG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – B 7/14 AS 11/21 R – juris – Rn 15 mwN aus der Rspr des BSG).

Die von der Klägerin bezogene russische AR erfüllt die Kriterien für eine nach § 7 Abs. 4 SGB II zum Ausschluss von Alg II führende AR. Die Rente wird von dem Rentenfonds der Russischen Föderation als öffentlich-rechtlichem Träger gewährt. Zudem knüpft sie an das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze an. Voraussetzung für den Bezug einer russischen Altersarbeitsrente sind auch unter Berücksichtigung verschiedener Reformen des Rentenrechts stets bestimmte Beschäftigungs- und Wartezeiten sowie das Erreichen des Renteneintrittsalters, das im Regelfall für Männer bei Vollendung des 60. Lebensjahres und für Frauen – wie bei der Klägerin – des 55. Lebensjahres lag. Bei der Klägerin erfolgte der Rentenbezug nach russischem Recht regulär mit dem Renteneintrittsalter für Frauen ab Vollendung des 55. Lebensjahres. Für den Bezug einer anderen Rentenform wie einer Invalidenrente sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Des Weiteren erfüllte die russische Rente der Klägerin die Funktion des Lohnersatzes nach einer im allgemeinen den Lebensunterhalt sicherstellenden Gesamtkonzeption. Der für die Vergleichbarkeit wesentliche Zweck dieser Leistung nach ihrer Gesamtkonzeption, den Lebensunterhalt sicherzustellen, ergibt sich aus ihrer Stellung im System der Alterssicherung im Herkunftsstaat. Dementsprechend nicht entscheidend ist, ob die Höhe der Leistung ausreicht, um im Aufenthaltsstaat den Lebensunterhalt sicherzustellen (vgl schon BSG, Urteil vom 16. Mai 2012 – B 4 AS 105/11 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 30 – Rn 25). Unerheblich ist auch, ob sie im Einzelfall ausreichen würde, um den Lebensunterhalt im Herkunftsstaat zu sichern. Die Leistung muss nur ihrer Gesamtkonzeption nach so bemessen sein, dass sie den Unterhalt des Berechtigten in der Regel gewährleisten soll (vgl zum Ganzen BSG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – B 7/14 AS 11/21 R – Rn 17 ff mwN; im Einzelnen zur russischen Altersarbeitsrente vgl LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26. November 2020 – L 4 AS 173/18 ZVW – juris – Rn 60 ff; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22. November 2018 – L 19 AS 2281/16 – juris – Rn 41 ff). Der Lohnersatzfunktion zur Sicherstellung des allgemeinen Lebensunterhalts im Alter steht daher die geringe Rentenhöhe, die erst im Jahr 2011 einen Betrag von umgerechnet 100,- € im Monat überstieg, nicht entgegen, zumal das Rentenniveau in Russland ohnehin niedrig war und ist.

Die Klägerin hat zur Überzeugung des Senats die russische AR auch bezogen. Dies folgt zweifelsfrei aus dem vorgelegten Sparbuch der Sbank, auf das die Rentenbeträge vom Rentenfonds überwiesen und regelmäßig mittels Bankkarte in der Filiale K abgehoben wurden. Sie standen daher der Klägerin auch zur Verfügung, und zwar ungeachtet dessen, ob sie ggf eine andere Person zur Abhebung bevollmächtigt hatte. Ihr Vorbringen, die AR habe sie im Streitzeitraum gar nicht abheben bzw nur unter Verstoß gegen die gesetzlich geforderte Erreichbarkeit abheben können, trifft somit nicht zu. Sie hätte im Übrigen auch für den Streitzeitraum die Überweisung der Rente nach Deutschland tatsächlich und rechtlich jederzeit bis 1. Januar 2015 beantragen können (vgl Regierungsverordnung der Russischen Föderation Nr 1386 vom 17. Dezember 2014; zur erst seit 2015 eingeschränkt möglichen Auslandsüberweisung vgl zB Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, WD 6: Arbeit und Soziales, WD 6-3000-011/17, Abschluss der Arbeit: 27.2.2017, Seite 6 und http://www.russische-rente.de > Überweisung der russischen Rente ins Ausland ab dem 01.01.2015; zum Grundsatz der bereiten Mittel für die Berücksichtigung von Einnahmen als Einkommen bei eigener Verwendungsentscheidung des Hilfebedürftigen vgl zB BSG, Urteil vom 24. Mai 2017 – B 14 AS 32/16 R – juris – Rn 23 ff). Letztlich ist für einen Bezug der Rente allein darauf abzustellen, ob der zuständige Träger – wie hier – die Rentenzahlungen aufgenommen hatte (vgl für eine russische AR insoweit LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Februar 2016 – L 9 AS 2914/15 B – Rn 5) und es dem bzw der Begünstigten möglich war bzw ist, über den Zahlbetrag zu verfügen. Ansonsten hätte es der Rentenbezieher in der Hand, zB durch Nichtabhebung der Rentenbeträge oder durch Einschaltung einer empfangsberechtigten Person über seine Zugehörigkeit zum Regime des SGB II oder aber des SGB XII selbst zu bestimmen, was auch dem Sinn der Regelung des § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II zuwider liefe, mit der klargestellt werden sollte, dass Personen, die endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und AR beziehen, nicht mehr in Arbeit eingegliedert werden und aus dem Leistungsregime des SGB II herausfallen.

Die Klägerin kann sich nicht auf Vertrauen berufen, weil die ihr gegenüber ergangenen Leistungsbewilligungen auf Angaben beruhten, die sie zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig bzw unvollständig gemacht hat (vgl § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr 2 SGB X). Ausgehend von einem insoweit anzusetzenden subjektiven Fahrlässigkeitsmaßstab ist unter Berücksichtigung der intellektuellen Fähigkeiten bzw der  Einsichts- und Kritikfähigkeit der Klägerin und der klaren Hinweise in den Bewilligungsbescheiden und dem im Oktober 2007 ausgehändigten Merkblatt mit dem SG davon auszugehen, dass der Klägerin zumindest eine grobe Fahrlässigkeit anzulasten ist; ihr hätte sich in jedem Fall aufdrängen müssen, dass sie den Bezug der russischen AR dem Beklagten mitzuteilen hat bzw diesbezüglich den Beklagten um Klärung hätte ersuchen müssen. Diese „Bösgläubigkeit“ gilt auch für die Verletzung ihrer aus § 60 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) resultierenden Mitteilungspflicht wesentlicher für sie nachteiliger Änderungen der Verhältnisse im Rahmen von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr 2 SGB X. Etwaige fehlende Sprachkenntnisse, die die Klägerin im Übrigen nicht substantiiert behauptet hat, entschuldigen die Klägerin nicht (vgl BSG aaO Rn 24).

Die Aufhebungsentscheidungen sind auch formell rechtmäßig ergangen. Die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X (ggf iVm § 48 Abs. 4 SGB X) ist gewahrt. Gleiches gilt für die Zehnjahresfrist des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X (ggf iVm § 48 Abs. 4 SGB X). Die angefochtenen Bescheide genügen auch dem Bestimmtheitsgebot (vgl § 33 Abs. 1 SGB X). Zwar hat der Beklagte die Klägerin vor Erlass der in ihre Rechtsposition eingreifenden Aufhebungsentscheidungen nicht angehört (vgl § 24 Abs. 1 SGB X). Es ist aber bereits während des Widerspruchsverfahrens, in dessen Rahmen sich die Klägerin zu den aus Sicht des Beklagten entscheidungserheblichen und in den Ausgangsbescheiden im Einzelnen benannten Tatsachen äußern konnte und auch geäußert hat, die erforderliche Anhörung nachgeholt und damit der Verfahrensmangel gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X geheilt worden (vgl hierzu BSG, Urteil vom 29. November 2012 – B 14 AS 6/12 R = SozR 4-1300 § 45 Nr 12 – Rn 21).

Der Rücknahme der Leistungsbewilligung steht nicht die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X entgegen.  Gemäß § 107 Abs. 1 SGB X gilt der Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch (nach §§ 102 ff SGB X) besteht. Folge ist, dass der erstattungsberechtigte Leistungsträger die rechtswidrig erfolgten Leistungsbewilligungen gegenüber dem Leistungsempfänger nicht gemäß §§ 44 ff SGB X aufheben darf (vgl zB BSG, Urteil vom 20. Dezember 2011 – B 4 AS 203/10 R = SozR 4-1300 § 107 Nr 5 – Rn 19; BSG, Beschluss vom 8. April 2020 – B 13 R 80/18 B – juris – Rn 10). Der erstattungsberechtigte Leistungsträger ist dann gehalten, seinen Erstattungsanspruch gegenüber dem erstattungspflichtigen Leistungsträger durchzusetzen. Er hat kein Wahlrecht, die Erstattung entweder vom anderen Leistungsträger oder vom Leistungsempfänger zu verlangen (vgl BSG, Urteil vom 29. April 1997 – 8 RKn 29/95 = SozR 3-1300 § 107 Nr 10 – Rn 19). Die von dem Gesetzgeber aus Gründen der Rechtsklarheit und der Verwaltungsökonomie mit der Erfüllungsfiktion geschaffene unkomplizierte und im Rahmen des Sozialleistungsrechts einheitliche Form des Ausgleichs von Leistungsbewilligungen ist für den vorleistenden Träger mit einer Befreiung von dem Risiko der Durchsetzung eines Anspruchs nach den §§ 4548 SGB X iVm § 50 SGB X verbunden (BSG, Urteil vom 20. Dezember 2011 – B 4 AS 203/10 R – aaO). Der Leistungsberechtigte kann insofern nicht mehr gegen den eigentlich zur Leistung verpflichteten Leistungsträger vorgehen (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Sozialgesetzbuch - Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten - BT-Drucks 9/95 S 26).

Dem Beklagten steht indes kein Erstattungsanspruch gegen den beigeladenen Sozialhilfeträger nach §§ 102 ff SGB X zu. Von den möglichen Anspruchsgrundlagen nach §§ 102 ff SGB X kommt allein ein Anspruch des Jobcenters als unzuständiger Träger in Betracht (§ 105 SGB X). Insbesondere scheidet ein Anspruch nach § 104 SGB X aus (Anspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers), weil hinsichtlich der Ansprüche auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach §§ 7 ff, 19 ff SGB II einer- und derjenigen auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach §§ 27 ff SGB XII andererseits kein Vorrang-/Nachrangverhältnis besteht (vgl § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB II, § 21 Satz 1 SGB XII). Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen des § 102 Abs. 1 SGB X vorliegen, soweit der zuständige Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Vorliegend kann dahinstehen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X vorliegen. Dem Erstattungsanspruch steht jedenfalls § 105 Abs. 3 SGB X entgegen. Gemäß § 105 Abs. 3 SGB X gelten die Absätze 1 und 2 gegenüber den Trägern der Sozialhilfe, der Kriegsopferfürsorge und der Jugendhilfe nur von dem Zeitpunkt ab, von dem ihnen bekannt war, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen. Hieran fehlt es. Der Beigeladene hatte vorliegend im streitgegenständlichen Zeitraum keine (positive) Kenntnis von den Voraussetzungen seiner möglichen eigenen Leistungspflicht. Er wusste auch nichts von dem russischen AR-Bezug. Im Gegensatz dazu hatte der Beklagte Kenntnis von der Hilfebedürftigkeit der Klägerin, wenngleich nicht vom Bezug der russischen AR. Anders als im Leistungsfall ermöglicht es § 105 Abs. 3 SGB X nicht, die Kenntnis eines anderen Leistungsträgers zuzurechnen. Dies gilt insbesondere für die Kenntnis des erstattungsberechtigten Leistungsträgers, weil für die Regelung dann kein Anwendungsbereich verbliebe. Soweit eine solche Zurechnung im Leistungsverhältnis auf der Grundlage von § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I und § 18 Abs. 2 SGB XII allgemein anerkannt ist, gilt dies nicht für das Erstattungsverhältnis im Rahmen des § 105 Abs. 3 SGB X (vgl BSG, Urteil vom 8. Dezember 2022 – B 7/14 AS 11/21 R – Rn 29,30).

Die Erstattungsverpflichtung der Klägerin für die bezogenen SGB II-Leistungen iHv insgesamt 58.524,19 € ergibt sich aus § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II iVm § 50 SGB X. Ein Forderungserlass (§ 44 SGB II) bzw eine Niederschlagung sind nicht Streitgegenstand (vgl BSG, Urteil vom 25. April 2018 – B 14 AS 15/17 R - BSGE 125, 301 = SozR 4-4200 § 40 Nr 14 – Rn 33).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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