L 6 B 14/08 U ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 6 U 35/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 B 14/08 U ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 6. Mai 2008 wird aufge-hoben.

Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 12. April 2006 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Kosten des Verfah-rens I. und II. Instanz zu erstatten.

Der Streitwert wird auf 2.930,57 EUR festgesetzt.

Gründe:

I

Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am 17. April 2008 gegen den Bescheid vom 12. April 2006 erhobenen Klage.

Die Beteiligten streiten im Hauptsacheverfahren unter dem Aktenzeichen S 6 U 54/08 vor dem Sozialgericht Halle darüber, ob der Antragsteller für Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung des Dirk Süßemilch für das Jahr 2005 in Höhe von 5.861,13 EUR haftet.

Der Antragsteller erhielt im Jahr 2005 den Auftrag, auf dem Gelände des ehemaligen St. G. Hospitals in B. einen Kohlenkeller ab zu reißen. Er beauftragte den Nachunternehmer D. S. mit der Erbringung dieser Bauleistungen, der ihm hierfür mindestens 230.000,00 EUR in mehreren Abschlägen in Rechnung stellte.

Mit Beschluss vom 1. August 2005 eröffnete das Amtsgericht Halle Saale über das Vermögen des D. S. das Insolvenzverfahren. Dieser befand sich mit Beiträgen in Höhe von 11.593,42 EUR für das Jahr 2005 bei der Antragsgegnerin in Rückstand, die diese vergeblich versucht hat, beizutreiben.

Mit Haftungsbescheid vom 12. April 2006 nahm die Antragsgegnerin den Antragsteller nach § 150 Abs. 3 Satz 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversiche-rung (SGB VII) für die Beitragsrückstände des Nachunternehmers in Höhe von 5.861,13 EUR aus dem Bauvorhaben St. G. Hospital in Haftung. Dabei ging sie von einer Auftragssumme von 143.592,00 EUR und einem Lohnanteil von 71.796,00 EUR aus. Den gegen diesen Haftungsbescheid am 19. April 2006 erhobenen Widerspruch wies der Widerspruchsausschuss der Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 6. März 2008 zurück.

Am 20. März 2008 beantragte der Antragsteller vor dem Sozialgericht Halle, die Vollziehung des Haftungsbescheides vom 12. April 2006 auszusetzen. Mit der am 17. April 2008 vor dem Sozialgericht Halle unter dem Aktenzeichen S 6 U 54/08 erhobenen Klage hat er zudem die Aufhebung des Haftungsbescheides in der Gestalt des Wider-spruchsbescheides weiter betrieben. Der Rechtsstreit ist noch nicht beendet.

Mit Beschluss vom 6. Mai 2008 hat das Sozialgericht Halle die Anordnung der auf-schiebenden Wirkung der Rechtsbehelfe gegen den Haftungsbescheid abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es fehle an einem Anordnungsgrund. Eine unbillige Härte für den Antragsteller bei Vollstreckung aus dem Haftungsbescheid sei nicht ersichtlich. Auch habe der Antragsteller hierzu nicht hinreichend vorgetragen, sondern im Gegenteil mit Schreiben vom 5. Mai 2008 auf seine gute wirtschaftliche Lage und Bonität hingewiesen. Die Gefahr einer Rechtsvereitelung oder Erschwerung der Rechtsverwirklichung ohne die Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes sei nicht erkennbar. Dem Antragsteller sei es nach Abwägung aller Umstände zuzumuten, den geforderten Betrag zu entrichten und den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzu-warten.

Gegen den am 13. Mai 2008 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller am 5. Juni 2008 Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, der Erfolg des Rechtsbehelfs sei wahrscheinlicher als sein Misserfolg. Der Anspruch bestehe bereits dem Grunde nach nicht. Es habe sich um reine Abbrucharbeiten gehandelt. Weitere Bauleistungen hätten Dritte nicht in Auftrag gegeben. Die Wert-grenze des § 28 e Abs. 3 d SGB IV von 500.000 EUR sei an dem Bauvorhaben St. G. Hospital nicht erreicht. Die Antragsgegnerin habe ein Überschreiten des Auftragswer-tes nicht nachgewiesen. Zudem hätte die Antragsgegnerin alle Möglichkeiten zum Beitragseinzug beim Nachunternehmer ausschöpfen müssen. Schließlich habe die Antragsgegnerin den Lohnsummenanteil mit 50 % der Auftragssumme willkürlich geschätzt.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 6. Mai 2008 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage unter dem Aktenzeichen S 6 U 54/08 gegen den Haftungsbescheid vom 12. April 2006 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie trägt vor, es sei sehr wahrscheinlich, dass die Mindestauftragssumme von 500.000,00 EUR für das jeweilige Bauwerk erreicht worden sei. Der frühere Eigentümer des Grundstücks, die V. AG, habe laut eines Zeitungsberichts der Berliner Zeitung vom 29. Mai 2004 geplant, ab September 2004 dort 103 Wohnungen zu errichten. Auf ihrer Internetseite habe die V. AG mit Stand 2009 mitgeteilt, dass 105 Eigentums-wohnungen auf dem Gelände des St. G. Hospitals errichtet worden und verkauft worden seien. Als Summe habe sie 20,6 Millionen Euro genannt. Im Übrigen trage der Hauptunternehmer die Beweislast für das Nichtvorliegen der Haftungsvoraussetzun-gen.

Die Verwaltungsakten - 0410299283 - der Antragsgegnerin waren Gegenstand der Entscheidung des Senats.

II

Die statthafte Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 6. Mai 2008 ist begründet. Der Antragsteller begehrt nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die aufschiebende Wirkung der unter dem Akten-zeichen S 6 U 54/08 geführten Anfechtungsklage gegen den Haftungsbescheid vom 12. April 2006. Dieses Hauptsachverfahren ist noch nicht erledigt.

Bei dem Haftungsbescheid vom 12. April 2006 handelt es sich um eine Entscheidung über den Beitrag zur Unfallversicherung im Sinne des § 86 a Abs. 2 Nr. 1 SGG, bei dem die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs und der Anfechtungsklage (§ 86 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) entfällt. Grundlage des Haftungsan-spruchs, den die Antragsgegnerin gegenüber dem Antragsteller mit dem Haftungsbe-scheid geltend macht, ist § 150 Abs. 3 Alternative 2 SGB VII. Nach der Systematik des Gesetzes handelt es sich um eine Art Beitragspflicht, die durch Verwaltungsakt gegenüber dem Beitragspflichtigen geltend zu machen ist (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 27. Mai 2008 - B 2 U 11/07 R). Hierauf findet § 86 a Abs. 2 Nr. 1 SGG Anwendung.

Gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht entscheidet aufgrund einer Interessenabwägung, wobei die Erfolgsaussichten der Klage abzuschätzen sind (Keller in Meyer-Ladewig/¬Keller/ Leitherer, 9. Auflage, § 86 b SGG RdNr. 12 b, 12 f). Bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes oder hätte die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge, so soll in der Regel die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Beitragsbescheid angeordnet werden (§ 86 a Abs. 3 Satz 2 SGG).

Der Senat hat nach dem bisherigen Sach- und Streitstand ernstliche Zweifel, ob die Voraussetzung des § 28 e Abs. 3 d Viertes Buch Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (SGB IV), um den Antragsteller nach § 150 Abs. 3 Alt. 2 SGB VII für Beitragsrückstände des Nachunternehmers in Haftung zu nehmen, vorliegt. Denn es ist bisher nicht nachgewiesen, dass der Mindestwert der Bauleistung von 500.000 EUR am Bauvorhaben St. G. Hospital erreicht ist.

Nach § 150 Abs. 3 SGB VII gilt für die Beitragshaftung bei der Ausführung eines Dienst- und Werkvertrages im Baugewerbe § 28 e Abs. 3 a SGB IV. Nach der Ent-scheidung des Bundessozialgerichts vom 27. Mai 2008 Az. B 2 U 11/07 R beinhaltet die derzeitige Fassung des § 150 Abs. 3 Alt. 2 SGB VII eine Gesetzeslücke in Form eines Redaktionsversehens des Gesetzgebers, welche im Rahmen der gesetzesim-manenten Rechtsfortbildung durch eine Erweiterung der Verweisung des § 150 Abs. 3 Alt. 2 SGB VII auf die Absätze 3 a bis 3 f des § 28 e SGB IV zu schließen ist. Danach gilt die Haftung des Hauptunternehmers auch im Unfallversicherungsrecht nur ab einem Mindestwert der Bauleistung von 500.000 EUR am Bauvorhaben. Grundlage ist der geschätzte Gesamtwert aller für ein Bauwerk in Auftrag gegebenen Bauleistungen. Für die Schätzung gilt aufgrund der Verweisung in § 28 e Abs. 3 d SGB IV § 3 der Verga-beordnung vom 9. Januar 2001 (BGBl. I S. 110) in der Fassung der Änderung vom 16. Mai 2001 (BGBl. I S. 876). Bei der Verweisung auf § 3 der Vergabeverordnung handelt es sich nicht um eine dynamische Verweisung, so dass der fixierte Wortlaut des § 3 Vergabeordnung in der Fassung vom 16. Mai 2001 zur Anwendung kommt (Werner in: jurisPK-SGB IV, § 28 e Rn. 78; Sehnert in: Hauck/Haines, § 28 e, RdNr. 19). So ist gemäß § 3 Abs. 7 Vergabeverordnung bei der Schätzung von Bauleistungen außer dem Auftragswert der Bauaufträge auch der geschätzte Wert der Lieferungen zu berücksichtigen, die für die Ausführung der Bauleistungen erforderlich sind und vom Auftraggeber zur Verfügung gestellt werden. Der Verwaltungsakte ist nicht zu entneh-men, dass die Antragsgegnerin eine entsprechende Schätzung tatsächlich vorgenom-men hat. Die Antragsgegnerin hat nicht einmal die Grundlagen der Schätzung ermittelt. So fehlt es bereits an der Ermittlung, dass der Eigentümer überhaupt Bauaufträge vergeben hat, so dass auch keine Lieferungen berücksichtigt werden können. Denn Lieferungen des Auftraggebers werden nur in dem in § 3 Abs. 7 Vergabeverordnung genannten Umfang bei der Schätzung des Auftragswertes berücksichtigt, nämlich nur in dem Umfang, in dem sie für die Ausführung der Bauleistungen erforderlich sind. Weder die Mitteilung der Berliner Zeitung vom 29. Mai 2004 über die beabsichtigte Errichtung von Wohnungen, noch die Mitteilung des früheren Eigentümers des Grund-stücks, er habe dort 105 Eigentumswohnungen mit einem Gesamtwert von 20,6 Millionen Euro errichtet und verkauft, macht eine Schätzung der in Auftrag gegebenen Bauleistungen nach § 3 Vergabeverordnung entbehrlich. Während der Bericht der Berliner Zeitung überhaupt keine relevanten Zahlen zu den Bauleistungen auf dem Gelände des ehemaligen St. G. Hospitals nennt, ist der auf der Internetseite der V. AG genannte Wert der Immobilie als Grundlage für eine Schätzung nach § 3 Vergabe-ordnung ungeeignet. Der Wert der Immobilie lässt keinen Rückschluss auf den Wert der zur Errichtung der Eigentumswohnungen vergebenen Bauleistungen zu. Dieser orientiert sich vielmehr an dem Marktwert der Immobilie innerhalb der Ortslage und dem Grundstückswert, nicht jedoch an dem Wert der vergebenen Bauleistungen zur Errichtung oder Instandsetzung. Anhaltspunkte für den Wert vergebener Bauleistungen sind auch nicht der Gerichts- und Verwaltungsakte zu entnehmen.

Die Schätzung des Gesamtwertes des Bauvorhabens obliegt der jeweiligen Einzugs-stelle und damit sinngemäß hier der Antragsgegnerin. Es kann dahingestellt bleiben, ob das Gericht eine eigene Schätzung vornehmen darf. Denn hierzu bedürfte es umfangreicher Ermittlungen zum Wert der vergebenen Bauleistungen, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssen. Denn im Hauptsachverfahren wird es nicht allein darauf ankommen, welche Bauleistungen in den vergangenen Jahren am Bauvorhaben St. G. Hospital vergeben worden sind, sondern auch, ob die jeweiligen Bauleistungen in einem sachlichen Zusammenhang zueinander stehen. So wird es nicht mit dem Sinn und Zweck der Haftung zu vereinbaren sein, dass ein Hauptunternehmer, der mit Abbrucharbeiten an einem Grundstück beauftragt ist, ohne dass weitere Bauleistungen konkret geplant sind, der Haftung nach § 150 SGB VII ausgesetzt wird, obgleich die Summe der Bauleistungen unterhalb des Mindestwertes von 500.000 EUR liegt. Erst wenn sich ein sachlicher Zusammenhang zwischen den Teilaufträgen an einem Bauvorhaben ergibt, sind die Werte der vergebenen Bauleis-tungen in die Schätzung nach § 3 der Vergabeordnung einzubeziehen.

Bisher steht lediglich fest, dass der Nachunternehmer dem Antragsteller 230.000,00 EUR für Bauleistungen am Grundstück des ehemaligen St. G. Hospitals in Rechnung gestellt hat. Dieser Betrag erreicht noch nicht die Mindestbausumme von 500.000 EUR.

Bereits aus dem Umstand, dass die Antragsgegnerin als Einzugsstelle die Schätzung der vergebenen Bauleistungen vorzunehmen hat, folgt auch die Beweislast für die der Schätzung zu Grunde zu legenden Tatsachen. Auf die Verteilung der Beweislast kommt es aber im Eilverfahren nicht entscheidend an. Denn auf die Beweislastregeln ist erst zurückzugreifen, wenn keine Ermittlungen mehr möglich sind. Dass dies der Fall ist, ist aber nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 197 a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz und beträgt ½ des Wertes der Hauptsache (Haftungs-bescheid 5.861,13 EUR).

Der Beschluss ist unanfechtbar gemäß § 177 SGG.

gez. Eyrich gez. Dr. Mecke gez. Boldt
Rechtskraft
Aus
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