L 27 P 8/09 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 86 P 349/08 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 P 8/09 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Januar 2009 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde ist zulässig; sie ist insbesondere statthaft gemäß § 172 SGG. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Die 86. Kammer des Sozialgerichts Berlin ist aufgrund des Geschäftsverteilungsbeschlusses vom 16. Dezember 2008 zum 1. Januar 2009 für den Rechtsstreit zuständig geworden. Eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter ist daher ausgeschlossen.

Das Sozialgericht hat im Ergebnis zu Recht den Antrag abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage des Antragstellers gegen die Bescheide der Antragsgegnerin vom 19. Februar 2008 und vom 6. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 2008 anzuordnen. Mit den angefochtenen Bescheiden hat die Antragsgegnerin das dem Antragsteller bislang gewährte Pflegegeld nach der Pflegestufe II seit dem 1. März 2008 entzogen und nur noch nach der Pflegestufe I gewährt.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zwar gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil die Klage abweichend von dem in § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG geregelten Grundsatz nach § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG keine aufschiebende Wirkung hat. Allerdings liegen die Voraussetzungen für die begehrte Anordnung nicht vor. Sie sind – bezogen auf den insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts – im Rahmen einer Interessenabwägung zu ermitteln. Dabei sind die jeweiligen Interessen der Beteiligten gegeneinander abzuwägen. Diese Abwägung hat die vom Gesetzgeber getroffene Grundentscheidung, den Eintritt der aufschiebenden Wirkung für den Regelfall auszuschließen, also dem Vollzugsinteresse der Versichertengemeinschaft Vorrang einzuräumen, zu respektieren. Die aufschiebende Wirkung ist daher nur anzuordnen, soweit die Abwägung des Interesses des jeweiligen Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs (Suspensivinteresse) das Vollzugsinteresse überwiegt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sich der angegriffene Bescheid als offensichtlich rechtswidrig erweist. An der sofortigen Vollziehung eines mit der Rechtsordnung nicht im Einklang stehenden Bescheides kann kein öffentliches Interesse bestehen. Lässt sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides nicht hinreichend sicher beantworten, kommt es unter Berücksichtigung der oben dargestellten Grundentscheidung des Gesetzgebers für die Begründetheit des Antrags entscheidend auf die sonstigen Interessen der Beteiligten an. In die Betrachtung ist eine Folgenabwägung im Lichte von Art 19 Abs 4 GG zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes mit einzubeziehen. Eine solche Folgenabwägung in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 des Bundesverfassungs-gerichtsgesetzes hat die Folgen in Blick zunehmen, die eintreten würden, wenn die begehrte Anordnung nicht erginge, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren aber obsiegen würde, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren indes keinen Erfolg hätte. Dabei sind insbesondere die möglichen Folgen für die Grundrechte des jeweiligen Antragstellers zu bedenken. Dies ist auch im vorliegenden Fall zu beachten, weil der Antragsteller sich hier gegen die Kürzung von Leistungen wendet, die dazu dienen, die Anspruchsberechtigten vor einer Gefährdung von Leib und Leben zu bewahren und ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, das sicherzustellen der Staat verfassungsrechtlich verpflichtet ist.

Gemessen an diesen Grundsätzen gelangt der Senat nicht zur Überzeugung, dass das Suspensivinteresse des Antragstellers überwiegt. Denn es lässt sich nach Lage der Akten nicht feststellen, dass der Entziehungsbescheid offensichtlich rechtswidrig ist. Dies sieht der Antragsteller ebenso, denn er konstatiert offene Erfolgsaussichten für die Hauptsache. Inwieweit der angefochtene Bescheid einer intensiveren rechtlichen Prüfung ggf. nach weiterer Ermittlung standhält, muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Daher kommt im Falle des Antragstellers die gesetzgerberische Grundentscheidung zugunsten des Vorrangs des Vollzugsinteresses zum Tragen, denn auch eine Folgenabwägung führt nicht zu einem anderen Ergebnis der Interessenbewertung.

Dabei berücksichtigt der Senat das besondere grundrechtliche Gewicht des mit dem Antrag verfolgten Begehrens mit Blick auf die durch das Pflegegeld geschützten Grundrechte von Leben und Gesundheit sowie einer menschenwürdigen Existenz. Dem Antragsteller drohen keine Nachteile, die er nicht auch bei Erfolglosigkeit seiner Rechtsverfolgung in der Hauptsache hinzunehmen hätte. Seine Grundrechte sind nicht in einem Maße gefährdet, dass ihm bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens bei einem Erfolg seiner Rechtsverteidigung die mit dem weiteren Vollzug des angefochtenen Bescheides verbundenen Nachteile nicht zuzumuten wären. Der Antragsteller hat zwar geäußert, der Verlust des Pflegegeldes auf dem Niveau der Pflegestufe II sei für ihn nicht hinnehmbar. Er selbst hat jedoch keine konkreten schweren, unabwendbaren Nachteile behauptet oder dargelegt, dass ihm erhebliche Gefahren für Leben, Gesundheit und Würde drohen würden, die über den Verlust der finanziellen Leistung Pflegegeld hinausgehen würden. Solche sind auch nicht nach Aktenlage zu erkennen.

Nach seinem eigenen Vortrag kann der Antragsteller mit einer halbseitigen Lähmung nach einem Schlaganfall kurze Strecken innerhalb der Wohnung ohne Rollstuhl bewältigen. Die von ihm inzwischen bezogene Wohnung ist rollstuhlgerecht. Den Rollstuhl kann der Antragsteller selbst bewegen. Viele Verrichtungen des täglichen Lebens kann der Antragsteller mit dem gesunden rechten Arm selbst ausführen. Dass er darüber hinaus Anspruch auf Pflegeleistungen hat, ist ausweislich des Bezuges von Pflegegeld für die Pflegestufe I unbestritten. Ob und welche schwerwiegenden Nachteile ihm für den Fall, dass der von ihm behauptete weitergehende Bedarf nicht gedeckt wird, drohen, lässt sich seinem Vortrag nicht entnehmen.

Eine erhebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes droht nicht. Er trägt zwar vor, zunehmend psychische Probleme zu haben. Welches Ausmaß diese annehmen, wie sie sich konkret über eine Verlangsamung von Abläufen hinaus auswirken und inwieweit diese behandelt werden, verdeutlicht der Antragsteller nicht. Psychische Probleme nach einem schweren Trauma, wie es der Kläger erlitten hat, und wie sie mit der Pflegesituation verbunden sind, können sich auch auf den Pflegebedarf auswirken. Allerdings sind posttraumatische psychische Leiden medizinischer Behandlung zugänglich. Überdies haben sich Art und Umfang der Pflege auch am Ziel zu orientieren, dem Versicherten zu helfen, trotz des Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen; die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte wiederzugewinnen oder zu erhalten (§ 2 Abs. 1 SGB XI). Die Leistungen der Pflegeversicherung und der Rehabilitationsträger sind mithin darauf angelegt, die Hilfeleistung langfristig zu reduzieren, möglichst überflüssig zu machen. Der Versicherte hat dabei mitzuwirken und seine Möglichkeiten, sich in die Pflege und Rehabilitation einzubringen, zu nutzen. Optimale Pflege bedeutet daher nicht maximale Leistung, die nach dem Konzept der Sozialen Pflegeversicherung ohnehin nicht zu gewähren ist, sondern die Mitwirkung und Aktivierung des Versicherten zu fördern, insbesondere wenn die Aktivierung, etwa bei psychischen Problemen, therapeutischen Wert hat. Unter diesen Umständen lassen sich dem wenig konkreten Hinweis des Antragstellers auf seine psychischen Probleme keine besondere Gefahr für seine Gesundheit oder sonstige drohende Nachteile entnehmen. Inwieweit sich diese Probleme konkret auf die einzelnen Pflegeverrichtungen auswirken, lässt sich derzeit ebenfalls nicht erkennen.

Zudem hat der Antragsteller keine Pflegesituation beschrieben, die ohne Zahlung der zwischen dem Pflegegeld der Pflegestufe I und dem der Pflegestufe II bestehenden Differenz monatlich mit erheblichen gesundheitlichen Risiken sowie Gefahren für ein menschenwürdiges Leben verbunden sein könnten. Dass der Antragsteller solchen Risiken und Gefahren aus eigener Kraft mit Hilfe seiner Familie und Freunde, ggf. unter Inanspruchnahme von ihm bereits bezogener Sozialhilfe nicht abwenden könnte, ist nicht ersichtlich. Die Realisierung des vom Gesetzgeber vorgegebenen Vorrangs des Vollzuges der Leistungsminderung ist dem Antragsteller daher zuzumuten.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG. Sie berücksichtigt die Erfolglosigkeit der Rechtsverfolgung.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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