S 19 SO 104/09 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
19
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 19 SO 104/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Kosten sind nicht zu erstatten. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Herrn Rechtsanwalt A wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.

Die Antragstellerin bezog bis Juli 2009 Arbeitslosengeld II. Außerdem bezieht sie zwei Renten, die sich nach ihren eigenen Angaben auf insgesamt 185,11 Euro monatlich belaufen. Sie bewohnt eine Wohnung in einem Haus, das offenbar ihrer Tochter und deren Ehemann gehört.

Anlässlich der Antragstellung beim Antragsgegner am 17.06.2009 gab sie an, sie habe am 29.05.2009 einen Betrag i.H.v. 8.942,28 Euro aus einer von ihrer inzwischen verstorbenen Mutter abgeschlossen Lebensversicherung ausgezahlt erhalten. Zwar sei sie allein als Begünstigte vorgesehen gewesen, jedoch habe das Geld nach dem Willen ihrer Mutter der gesamten Familie zugute kommen sollen. Ein Testament o.ä. liege jedoch nicht vor. Sie habe 8.800.- Euro ihrer Tochter und ihrem Enkel zugewandt, die damit ein Kraftfahrzeug angeschafft und auf den Namen der Tochter angemeldet hätten.

Der Antragsgegner lehnte den Antrag mit Bescheid vom 24.06.2009 unter Hinweis auf die zur Auszahlung gekommene Lebensversicherung ab. Den nicht näher begründeten Widerspruch wies er mit Bescheid vom 13.08.2009 zurück, wogegen die Antragstellerin am 20.08.2009 Klage erhoben hat (Az. S 19 SO 90/09).

Am 19.09.2009 hat sich die Antragstellerin an das Gericht gewandt.

Sie führt ergänzend aus, der erhaltene Geldbetrag sei nicht als ihr Vermögen anzusehen gewesen, da seine "monetäre Auskehrung" nicht in ihre "Verfügungsgewalt" gekommen sei. Ihr drohe nunmehr Mittellosigkeit und - da sie inzwischen auch drei Monate mit der Miete in Rückstand sei - auch der Verlust ihrer Unterkunft.

Die Antragstellerin beantragt,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu zahlen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er führt aus, ein drohender Verlust der Unterkunft sei nicht dargetan und es sei schwer vorzustellen, dass gerade die durch die Weitergabe des Geldes begünstigte Familie der Antragstellerin eine Kündigung wegen Zahlungsverzug in Betracht ziehen solle. Weiterhin sei nicht belegt, dass die Antragstellerin das Geld tatsächlich zur Anschaffung des Kraftfahrzeugs verbraucht habe; insbesondere fehlten Nachweise über die Kontobewegungen. Es gebe auch keine objektiven Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin zur Weiterleitung des erhaltenen Geldes an andere Familienmitglieder verpflichtet gewesen sei.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte verwiesen.

II.

Der zulässige Antrag ist unbegründet. Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Erforderlich sind insoweit Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund (hierzu und zum Folgenden Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., 2008, § 86b Rn. 27 ff. m.w.N.).

Es fehlt bereits an einem Anordnungsanspruch. Ein Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach § 41 Sozialgesetzbuch - Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) scheitert daran, dass die Antragstellerin ihre Bedürftigkeit innerhalb der letzten zehn Jahre zumindest grob fahrlässig selbst herbeigeführt hat, § 41 Abs. 4 SGB XII.

Die - von der Antragstellerin selbst vorgetragene - Weitergabe von 8.800.- Euro an ihre Tochter bzw. deren Familie sind ursächlich für ihre nunmehr bestehende Bedürftigkeit (zum Kausalitätserfordernis nach § 41 Abs. 4 SGB XII siehe nur Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, a.a.O., § 41, Rn. 16): Hätte die Antragstellerin den Betrag behalten, so hätte dies zum Ausschluss eines Leistungsanspruchs nach §§ 41 Abs. 1, 90 SGB XII geführt, denn die Antragstellerin wäre in der Lage gewesen, ihren notwendigen Lebensunterhalt aus diesem Vermögen zu decken. Der durch Auszahlung einer Lebensversicherung erlangte Geldbetrag ist - wovon offenbar auch die Antragstellerin ausgeht - nicht als einmaliges Einkommen, sondern als Vermögen anzusehen (Wahrendorf, a.a.O., § 90, Rn. 9), das im vorliegenden Fall den für die Antragstellerin geltenden Schonbetrag ("kleinerer Barbetrag") von 2.600.- Euro (§ 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 Buchstabe a der Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs. 2 des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch) deutlich überstiegen hat. Eine - wie auch immer begründete - Verpflichtung zur Weitergabe des Betrags an Tochter und Enkel - ist hierbei schon deswegen nicht zu berücksichtigen, weil bei der Bewertung von Vermögen das Bruttoprinzip gilt: Vom Vermögen sind nicht etwa Verbindlichkeiten des Inhabers abzuziehen (Wahrendorf, a.a.O., Rn. 11). Für eine bloße Treuhänderstellung der Antragstellerin fehlt jedweder Anhaltspunkt.

Die Antragstellerin hat die Bedürftigkeit auch zumindest grob fahrlässig herbeigeführt. Grob fahrlässig handelt, wer außer Acht lässt, was in der konkreten Situation jedem besonnenen Menschen hätte einleuchten müssen. Regelfall von § 41 Abs. 4 SGB XII sind gerade Schenkungen an Kinder und Eltern, deren bürgerlich-rechtliche Unterhaltsverpflichtungen im Recht der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nur in den sehr engen Grenzen des § 43 Abs. 2 SGB XII zum Tragen kommen (vgl. Niewald, in: LPK-SGB XII, 8. Aufl., 2008, § 41, Rn. 19). Insbesondere spricht für grobe Fahrlässigkeit ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der zur Bedürftigkeit führenden Vermögensverfügung und dem Sozialhilfeantrag (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04.03.2008, L 20 B 18/08 SO ER, juris, Rn. 17; anders etwa, wenn die Hilfebedürftigkeit erst durch ein unvorhergesehenes Ereignis nach der Vermögensverfügung eintritt: Niewald, a.a.O., Rn. 20).

Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt: Die Antragstellerin hat bei noch laufenden Bezug von Arbeitslosengeld II und praktisch im Angesicht des bevorstehenden Sozialhilfeantrags einen Betrag, der ihren Bedarf über den Zeitraum beinahe eines Jahres gedeckt hätte, offenbar ohne jede Gegenleistung an Dritte weitergegeben. Wer - wie die Antragstellerin - bereits steuerfinanzierte bedürftigkeitsabhängige Leistungen bezieht und abgesehen davon nur über ein sehr geringes sonstiges Einkommen verfügt, handelt gegen jede wirtschaftliche Vernunft, wenn er einen derart erheblichen Geldbetrag einfach weggibt.

Es kann offenbleiben, auf welchem rechtlichen Weg (etwa einem Erlaubnisirrtum) die Annahme einer moralisch-ideellen Verpflichtung zur Weiterleitung des Geldes überhaupt im Rahmen der Prüfung von § 41 Abs. 4 SGB XII Berücksichtigung finden könnte. Auf eine Rechtspflicht kann sich die Antragstellerin insoweit nicht berufen und tut dies offenbar auch nicht. Abgesehen davon, dass sich eine derartige Verwendungsbestimmung seitens der verstorbenen Mutter nicht beweisen lässt, muss das Sozialhilferecht an die tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten anknüpfen. Zudem ist der Vortrag der Antragstellerin in sich widersprüchlich, wenn sie einerseits anführt, das Geld sei nach dem Willen ihrer verstorbenen Mutter "für die ganze Familie" bestimmt gewesen, andererseits aber betont, dass das aus diesem Vermögen angeschaffte Fahrzeug ihr in keiner Form zuzurechnen sei.

Es kann dahinstehen, ob § 41 Abs. 4 SGB XII darüber hinaus auch ein im engerem Sinne rechtsmißbräuchliches Handeln verlangt (so Wahrendorf, a.a.O., § 41, Rn. 16). Auch dies wäre im vorliegenden Fall erfüllt, denn die Weitergabe des Geldes erklärt sich bei einer objektiven Betrachtungsweise allein aus der Erwartung, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen.

Auch hinsichtlich eines Anspruchs auf Sozialhilfe nach dem Dritten Kapitel des SGB XII fehlt es - ganz abgesehen von der Frage, ob dies angesichts des eindeutig auf Leistungen nach § 41 SGB XII abzielenden Antrags überhaupt Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist - an einem Anordnungsanspruch, da jedwede Angaben zu einem grundsätzlich vorrangigen bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruch gegenüber Tochter und Enkel fehlen.

Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung von § 193 SGG.

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe (PKH) hat keinen Erfolg, da es aus den genannten Gründen an den hinreichenden Erfolgsaussichten der beabsichtigte Rechtsverfolgung fehlt, § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO).
Rechtskraft
Aus
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