L 12 RJ 604/01

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 21 RJ 4562/98
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 12 RJ 604/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 17. Januar 2001 sowie der Bescheid der Beklagten vom 2. Oktober 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 1998 mit der Maßgabe abgeändert, dass die Rückforderung nur für die Zeit bis zum 15. Januar 1996 zulässig ist.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger zwei Drittel der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rücknahme einer Rente wegen Berufsunfähigkeit und die Rückforderung geleisteter Zahlungen in Höhe von insgesamt 30.119,97 DM. Der 1935 in Jugoslawien geborene Kläger lebt seit 1964 in der Bundesrepublik Deutschland und war zuletzt als Trockenbaumonteur beschäftigt. Vom 4. November 1994 bis 2. April 1995 bezog er Krankengeld von der AOK in Hessen. Vom 3. April 1995 bis zum 27. November 1997 zahlte das Arbeitsamt X. Arbeitslosengeld, zunächst bis zum 30. Dezember 1995 wöchentlich 335,40 DM, dann bis zum 31. Dezember 1996 340,20 DM und bis 27. November 1997 334,20 DM.

Am 2. Januar 1995 beantragte der Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit. Er gab im Rentenantrag an, dass er Krankengeld von einer Krankenkasse erhalte. Die Frage unter der Ziffer 11.7, ob er "Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Eingliederungsgeld, Unterhaltsgeld, Altersübergangsgeld vom Arbeitsamt" erhalte, verneinte er. In einer ergänzenden Anfrage der Beklagten antwortete er am 6. Juni 1995 auf die Frage, wodurch er seit Beendigung der letzten Beschäftigung den Lebensunterhalt bestritten habe, mit "Krankengeld/Arbeitslosenhilfe". Mit Bescheid vom 6. Juli 1995 gewährte die Beklage ab 1. September 1995 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit mit monatlich 970,47 DM. Sie errechnete eine Nachzahlung von 9.571,14 DM. Im Bescheid hieß es unter der Überschrift Mitteilungspflichten: "Arbeitsentgelt und bestimmte Sozialleistungen, die neben der Rente gezahlt werden, können Einfluss auf die Rentenhöhe haben. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns das Hinzutreten oder die Veränderung folgender Leistungen unverzüglich mitzuteilen: ... Arbeitslosengeld ...". Ein Widerspruchsverfahren mit dem Ziel, Erwerbsunfähigkeitsrente zu erhalten, blieb für den Kläger erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 17. November 1995).

Am 10. Juni 1998 beantragte der Kläger die Gewährung von vorgezogener Altersrente für langjährige Versicherte. Er gab im Antrag an, dass er bis zum 8. Dezember 1997 Arbeitslosengeld erhalten habe. Auf Anfrage teilte das Arbeitsamt der Beklagten Zeitraum und Höhe des Bezugs von Arbeitslosengeld mit (eingegangen bei der Beklagten am 28. August 1998). Mit Schreiben vom 2. September 1998 hörte die Beklagte den Kläger zu der beabsichtigten Bescheidaufhebung und Rückforderung an. Der Kläger wandte ein, er habe dem Arbeitsamt den Bezug von Berufsunfähigkeitsrente mitgeteilt und den Weitergewährungsbescheid des Arbeitsamtes vom 9. Januar 1996 zusammen mit der Zeugin M. bei der Auskunfts- und Beratungsstelle der LVA Hessen zur Weiterleitung an die Beklagte abgegeben. Mit Bescheid vom 2. Oktober 1998 nahm die Beklagte den Bescheid vom 6. Juli 1995 zurück, berechnete die Rente neu und ermittelte eine Überzahlung in Höhe von 30.119,97 DM. Den dagegen am 22. Oktober 1998 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. November 1998 zurück. Die Berufsunfähigkeitsrente ruhe im fraglichen Zeitraum, weil der gleichzeitige Bezug von Arbeitslosengeld höher als die Rente gewesen sei. Der Kläger sei seinen Mitteilungspflichten nicht nachgekommen und er habe erkennen können, dass der gleichzeitige Bezug von Rente wegen Berufsunfähigkeit und Arbeitslosengeld nicht habe rechtmäßig sein können. Der Bescheid sei deshalb auch unter Einbeziehung von Ermessensgesichtspunkten nach § 45 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) zurückzunehmen.

Dagegen hat der Kläger am 17. Dezember 1998 Klage vor dem Sozialgericht in Frankfurt am Main erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass er seinen Mitteilungspflichten nachgekommen sei. Er habe mehrfach gegenüber dem Arbeitsamt die Bewilligung von Berufsunfähigkeitsrente bekannt gegeben und nachgefragt, ob er diese neben dem Arbeitslosengeld beziehen könne. Dies sei bejaht worden. Auch habe er am 15. Januar 1996 der Beklagten über die Auskunfts- und Beratungsstelle der LVA Hessen zur Weiterleitung mitgeteilt, dass er Arbeitslosengeld beziehe. Nach persönlicher Anhörung des Klägers und Einvernahme der Zeugin M. hat das Sozialgericht mit Urteil vom 17. Januar 2001 der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Bescheid auf Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente sei wegen des gleichzeitigen Bezuges von Arbeitslosengeld zwar rechtswidrig gewesen, er könne aber für die Vergangenheit nicht zurückgenommen werden, weil der Verwaltungsakt nicht durch arglistige Täuschung erwirkt sei, nicht auf Angaben beruhe, die der Kläger vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht habe und der Kläger auch die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nicht habe infolge grober Fahrlässigkeit erkennen können. Der Kläger sei zwar seinen Mitteilungspflichten nicht nachgekommen, er habe sich aber im Rahmen seiner Fähigkeiten bemüht, so dass nicht von einer groben Fahrlässigkeit ausgegangen werden könne.

Gegen das ihr am 10. Mai 2001 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7. Juni 2001 unter Wiederholung der im Widerspruchsbescheid dargestellten Rechtsansicht Berufung eingelegt. Der Senat hat den Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung persönlich gehört und die Zeugin M. zu deren Tätigkeit für den Kläger in dessen Renten- und Arbeitsamtsangelegenheiten vernommen. Auf die Sitzungsniederschrift vom 19. März 2003 nebst Anlage wird verwiesen.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 17. Januar 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger, der das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend hält, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist sachlich teilweise begründet. Die Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente ist nur teilweise bis zum 15. Januar 1996 zurückzunehmen und die entsprechende Überzahlung zurückzufordern.

Das Sozialgericht hat insoweit zutreffend festgestellt, dass der rentengewährende Bescheid anfänglich rechtswidrig war und unter den Voraussetzungen des § 45 SGB 10 zurückgenommen werden konnte. Voraussetzung für die hier im Streit stehende Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit ist nach Abs. 4 der Vorschrift zunächst, dass dies innerhalb eines Jahres nach Kenntnis der Tatsachen erfolgt, welche die Rücknahme rechtfertigen. Diese Frist ist gewahrt. Weiterhin müsste der Kläger bösgläubig sein, d. h. der Verwaltungsakt müsste entweder auf Angaben beruhen, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder er hätte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kennen müssen oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kennen müssen. Nach Überzeugung des Senates sind diese Voraussetzungen nur bis zum 15. Januar 1996 erfüllt. Schließlich muss nach Abs. 3 der Vorschrift bei Bösgläubigkeit der begünstigende Verwaltungsakt bis zum Ablauf von 10 Jahren nach seiner Bekanntnahme zurückgenommen werden. Dies ist hier der Fall.

Das Sozialgericht hat eine Bösgläubigkeit des Klägers für den gesamten Zeitraum ausgeschlossen. Zur Begründung hat es sich darauf berufen, dass bei der Persönlichkeit und den Fähigkeiten des Klägers nicht von einem grobfahrlässigen Unterlassen ausgegangen werden könne. Er habe zwar die Anfrage des Arbeitsamtes falsch beantwortet und statt Arbeitslosengeld Arbeitslosenhilfe angegeben, immerhin habe er aber mitgeteilt, dass er Leistungen vom Arbeitsamt beziehe. Als nicht mit den deutschen Verhältnissen vertrautem Ausländer könne ihm ein Irrtum über die genaue Art der Leistung nicht zur Last gelegt werden. Insbesondere aus seinem Verhalten beim Arbeitsamt sei zu ersehen, dass er sich immer bemüht habe, vollständige und wahrheitsgemäße Angaben gegenüber den Behörden zu machen. Der Senat vermag dieser Argumentation nicht zu folgen. Der Kläger war schon im Rentenantrag darauf hingewiesen, dass er eine Leistung nach Abschnitt 11 des Antrags der Landesversicherungsanstalt Hessen unverzüglich mitzuteilen habe. Dies hat der Kläger Anfang April 1995 versäumt. Auf die Anfrage der Beklagten hat er dann eine falsche Antwort gegeben. Da er aus der Belehrung im Rentenantrag wissen musste, dass zwischen Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld, die gesondert genannt sind, zu differenzieren ist, hätte er die richtige Leistung, die aus dem gewährenden Bescheid zu ersehen war, benennen müssen. Es hätte sich dabei um eine Aufgabe gehandelt, die weder besondere Deutschkenntnisse noch eine besondere Vertrautheit mit dem Rechts- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland bedurft hätte. Eine sorgfältige Beantwortung des Fragebogens wäre notwendig und dem Kläger auch subjektiv möglich gewesen. Durch die falsche Angabe, die leicht durch eine richtige zu ersetzen gewesen wäre, hat der Kläger die in Rentenangelegenheiten erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Er hat grob fahrlässig gehandelt. Bestätigt wird diese Einschätzung auch dadurch, dass er im Bescheid nochmals ausdrücklich auf seine Mitteilungspflicht hinsichtlich des Bezuges von Arbeitslosengeld belehrt worden ist und damals noch die Gelegenheit gehabt hätte, seine Angabe zu berichtigen. Dies ist aber nicht geschehen.

Dass der Kläger seinen Pflichten dem Arbeitsamt gegenüber genügt hat, als er dort den Bezug von Berufsunfähigkeitsrente meldete, kann die Pflichtverletzung gegenüber der Beklagten nicht aufheben. Der Kläger war ausdrücklich darüber belehrt, dass seine Mitteilungspflicht gegenüber der Beklagten bestand. Auch eine möglicherweise erteilte Rechtsauskunft durch Mitarbeiter des Arbeitsamtes, das Arbeitslosengeld und Berufsunfähigkeitsrente nebeneinander bezogen werden könnte, verändert nichts an der Mitteilungspflicht des Bezuges von Arbeitslosengeld gegenüber der Beklagten, denn diese Mitteilungspflicht besteht, ohne dass es darauf ankommt, ob sich rechtliche Konsequenzen ergeben. Gerade dies soll die Beklagte überprüfen können. Da der bösgläubige Kläger sich nicht auf einen Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 SGB 10 berufen kann und da die Beklagte auch zureichende Ermessenserwägungen zur Rücknahme angestellt hat, liegen insoweit die Voraussetzungen für eine Rücknahme und eine entsprechende Rückforderung überzahlter Beträge nach § 50 SGB 10 vor.

Am 15. Januar 1996 hat der Kläger die Auskunfts- und Beratungsstelle der LVA Hessen gebeten, seinen Arbeitslosengeld-Bescheid an die Beklagte weiterzuleiten. Von diesem Zeitpunkt an trifft den Kläger kein Verschulden mehr. Er hat zwar nicht, wie in der Belehrung des Bescheides gefordert, den Bezug des Arbeitslosengeldes der Beklagten mitgeteilt, sondern er hat dies bei der LVA Hessen getan. Dies kann jedoch nicht als grob fahrlässig angesehen werden. Es ist für den Kläger, der rechtlicher Laie ist, jedenfalls nicht grob fahrlässig, wenn er davon ausging, dass eine Mitteilung an die Landesversicherungsanstalt, bei der er auch seinen Rentenantrag gestellt hatte, ausreichend sein würde. Die Angaben des Klägers über seinen Besuch bei der LVA Hessen sind durch die Zeugin M. bestätigt worden. Der Senat hat die Zeugin, die schon vor dem Sozialgericht angehört worden war, nochmals vernommen, um sich ein Bild über ihre Glaubwürdigkeit zu machen. Es haben sich insoweit keine Zweifel ergeben, der Senat sieht es als bewiesen an, das der Kläger in Begleitung der Zeugin am 15. Januar 1996 bei der Auskunfts- und Beratungsstelle der LVA Hessen vorgesprochen und den Bewilligungsbescheid über Arbeitslosengeld abgegeben hat. Er ist damit - jedenfalls in hinreichendem Maße - seiner Mitteilungspflicht nachgekommen. Ein Verschulden dafür, dass der Bescheid nicht zu der Beklagten gelangt ist, trifft ihn nicht. Für die Zeit nach dem 15. Januar 1996 liegen somit die Voraussetzungen für eine Bescheidrücknahme nach § 45 SGB 10 und Erstattungspflicht nach § 50 SGB 10 nicht vor.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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