L 2 U 243/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 24 U 376/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 243/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 249/09 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ein Anspruch aurf Feststellung einer Berufskrankheit der Nr. 1317 der BKV ist nicht gegeben, wenn die Erkrankungen Encephalopathie und Neuropathie nciht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diagnostiziert werden können.
2. Das Gericht ist nicht verpflichtet, die Beteiligten vor seiner Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 2. Februar 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die bei der Klägerin im Februar 2001 aufgetretenen Gesundheitsstörungen als Berufskrankheit, nach dem zuletzt gestellten Antrag nur noch nach der Nr.1317 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) anzuerkennen sind.

Am 25.11.2002 ging bei der Beklagten die ärztliche Anzeige des Prof.Dr.Z., 2. Medizinisch-Toxische Abteilung der Technischen Universität B-Stadt, über eine Berufskrankheit ein. Darin wird - unter Bezug auf einen Arztbrief an die behandelnden Ärzte der Klägerin vom 16.04.2002 - zusammengefasst, die Klägerin bringe die bei ihr ab Februar 2001 massiv aufgetretenen Beschwerden verschiedenster Art mit ihrer beruflichen Exposition gegenüber Nitrosegasen, Salpetersäure und Rauch in Verbindung; die toxikologische Analytik lasse jedoch eine toxische Ursache der Beschwerden eher als unwahrscheinlich erscheinen.

Die 1963 geborene Klägerin übte nach Ausbildung zur chemisch-technischen Assistentin von Januar 1987 bis Mai 1988 eine Bürotätigkeit bei der Firma P.-Kunststoff in R., nach Arbeitslosigkeit von Mai 1988 bis April 1989 eine Labor- sowie Außendiensttätigkeit beim Wasserwirtschaftsamt A-Stadt bis Oktober 1994 und nach erneuter Arbeitslosigkeit ab Februar 1996 die Tätigkeit einer chemisch-technischen Assistentin bei der Firma B., Maschinenbau in S. aus. Dort war sie mit physikalischen verfahrenstechnischen Auswertungen von Rohrstoffen und Folien befasst. Am 14.02.2001 erlitt sie einen Arbeitsunfall, als über die Abluft- und Klimaanlage aus dem darunter gelegenen physikalischen Labor Salpetersäuredämpfe in ihren Arbeitsraum gelangt waren. Der Arbeitsunfall wurde später von der Beklagten anerkannt; eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) jedoch nicht. Das anschließende Klageverfahren Az.: S 24 U 130/04 und Berufungsverfahren Az.: L 2 U 144/06 blieben erfolglos.

Nach dem Arbeitsunfall vom 14.02.2001 arbeitete die Klägerin zunächst bis 06.08.2001 weiter, war bis 14.09.2001 arbeitsunfähig, nahm die Arbeit wieder auf und war vom 05.02.2002 bis einschließlich Januar 2003 erneut arbeitsunfähig. Danach übte sie eine Bürotätigkeit beim selben Arbeitgeber aus, der ihr ab 2007 einen Heimarbeitsplatz zur Verfügung stellte.

Der Allgemeinarzt Dr.B. bestätigte die Behandlung der Klägerin ab 10.04.2001 wegen Gewichtszunahme, Hauterscheinungen, Beinschwellungen und Leistungsknick. Die Technikerkrankenkasse teilte am 20.12.2002 die Arbeitsunfähigkeitszeiten während der Mitgliedschaft der Klägerin vom 01.03.1996 bis 31.12.2002 mit. Arbeitsunfähig erkrankt war die Klägerin im August 1997 wegen Kreislaufschwäche, im Januar 1998 wegen Gastroenteritis, im Februar 1998 wegen eines Virusinfekts, im Juni 1998 wegen beginnender Pyelonephritis, im Oktober 1999 wegen Schulterschmerzen, im August 2001 wegen Rheumatismus und ab Februar 2002 wegen einer Toxicität. Die Securita-BKK, bei der die Klägerin seit 01.04.2002 versichert ist, bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vom 01.04.2002 bis einschließlich Januar 2003 wegen toxischer Wirkung einer nicht bezeichneten Substanz mit Unwohlsein und Ermüdung.

Die Firma B. erklärte am 24.01.2003, die Klägerin sei im Folienlabor als chemisch-technische Assistentin beschäftigt gewesen. Dort habe sie Folien untersuchen müssen. Sie habe beruflichen Umgang mit Esterverbindungen, Abbauprodukten von Polyäthylen, Polypropylen, Esterölen und Lacken gehabt.

Die Akte der Beklagten zur Feststellung von Unfallfolgen enthält Arztberichte über die Behandlung der Klägerin ab 07.08.2001 wegen rezidivierender Gelenk- und Muskelschmerzen, rezidivierender Ödeme, Gesichtsakne, Rücken- und Kopfschmerzen sowie Allge-
meinunwohlseins bei Dr.W./M. (Attest vom 05.11.2002) und ab 04.02.2002 bei Dr.R., Prof.Dr.E., Medizinische Klinik G., Dr.G., Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation in A-Stadt, Dr.H., Orthopäde, Prof. Dr.S., Leiter der Endokrinologie des Max-Planck-Instituts. Die AOK bescheinigte am 13.02.2003 die Mitgliedschaft der Klägerin bei ihr vom 19.12.1983 bis 01.05.1989 sowie eine Arbeitsunfähigkeitszeit vom 26.09.1988 bis 28.02.1989 wegen neurotischer Depressionen.

Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten erstellte bei einer Betriebsbesichtigung am 26.03.2003 in Anwesenheit der Klägerin eine Gefährdungsanalyse. Die Klägerin sei am 14.02.2001 Dämpfen rauchender Salpetersäure ausgesetzt gewesen. Bei ihrer Labortätigkeit sei sie über die Abluft der Klimaanlage der Abluft der Veraschungsöfen aus dem darunter liegenden Labor ausgesetzt gewesen. Dort seien Kunststoffe wie Polyäthylen, Polypropylen, Öle, Esteröle und Lacke verascht worden. Außerdem seien in den Öfen Belastungstests an Kunststoffen bei 200 bis 300 Grad Celsius durchgeführt worden.

Die Beklagte holte ein arbeitsmedizinisches Gutachten von Dr.W., TÜV Südbayern, Abteilung Medizin und Technik vom 13.10.2003 ein. Der Sachverständige kam zum Ergebnis, das Ereignis vom 14.02.2001 habe zu vorübergehenden Beschwerden wie Augenbrennen, wunder Nase, aufgeplatzter Mundschleimhaut und Gesichtshaut, Schmerzen beim Luft holen und Geschmacksstörungen geführt. Die Beschwerden seien nach acht Wochen abgeklungen gewesen. Dauerhafte Gesundheitsstörungen seien nicht zurückgeblieben. Den Grund für das Unwohlsein der Klägerin ab August 2001 bis Februar 2002 sah er in einer von ihm anlässlich der Untersuchung am 29.07.2003 diagnostizierten Borrelieninfektion an. Eine Berufskrankheit, etwa der Nr.1304 oder anderer durch toxische Belastung verursachter Berufskrankheiten lägen nicht vor. Die von der Klägerin aufgestellte Liste über die von ihr verwandten Berufsstoffe habe er berücksichtigt.

Der Gewerbearzt schloss sich der Beurteilung von Dr.W. an. Mit Bescheid vom 26.01.2004 lehnte die Beklagte einen Anspruch auf Entschädigung wegen geltend gemachter vielseitiger gesundheitlicher Beschwerden, u.a. Kopf-, Haut-, Rücken-, Nierenbeschwerden, Konzentrations- und Schlafstörungen sowie Haarausfall ab. Leistungen gemäß § 3 BKV seien nicht zu erbringen. Es komme weder eine Berufskrankheit der Nr.1304 noch einer anderen Nummer in Betracht, ebenso wenig die Anerkennung wie eine Berufskrankheit.

Im dagegen erhobenen Widerspruch verwies die Klägerin auf die Äußerung von Dr.von K. vom 17.11.2003. Die Ärztin forderte eine umweltmedizinische Begutachtung, Dr.W. sei insoweit nicht kompetent. Die behandelnde Ärztin Dr.M. habe erklärt, die Beschwerden könnten nicht mit einer Borreliose-Infektion erklärt werden.

Hierauf erwiderte Dr.W. am 05.03.2004, aufgrund der von Dr.M. erhobenen Befunde sei allenfalls die Diagnose einer Borreliose fraglich, aber nicht das Vorliegen einer Berufskrankheit zu erhärten.

Die Klägerin legte eine Stellungnahme von Dr.von K. vom 29.03.2004 vor. Darin versicherte die Ärztin, die Klägerin sei bereits vor dem 14.02.2001 nicht beschwerdefrei gewesen. Eine Borreliose-Infektion nach August 2001, wie von Dr.W. angenommen, scheide damit aus. Die Klägerin habe ab 1978 am Arbeitsplatz immer wieder Beschwerden wie Kopfschmerzen, Magen-Darm-Probleme, Gewichtszunahme, Wadenkrämpfe, Schwindel, Benommenheit, Übelkeit, kribbelnde Hände und Füße gehabt. Im Urlaub und an arbeitsfreien Tagen hätten sich diese Beschwerden deutlich gebessert.

Mit Widerspruchsbescheid vom 02.06.2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Dagegen erhob die Klägerin beim Sozialgericht München (SG) Klage mit dem Antrag, ihre Beschwerden als Berufskrankheit der Nrn.1302, 1301 und/oder 1304 oder einer anderen Berufskrankheitennummer anzuerkennen, hilfsweise als Quasi-Berufskrankheit und Leistungen nach § 3 BKV zu gewähren. Ihre gesundheitlichen Beschwerden seien auf den Arbeitsplatz und nicht auf ihr privates Umfeld zurückzuführen.

Das SG holte einen Befundbericht von Dr.B. ein, der die Behandlung der Klägerin vom 05.04.1988 bis 10.07.2001 bestätigte. Im Anschluss beauftragte es Prof.Dr.N., Direktor des Instituts für Arbeits-, Umwelt- und Sozialmedizin der L.-Universität B-Stadt, mit der Erstattung eines Gutachtens. Der Sachverständige führte am 06.12.2004 aus, bei der Untersuchung der Klägerin am 16.11.2004 habe er keinen Hinweis auf eine Polyneuropathie, Encephalopathie oder obstruktive Atemwegserkrankung gefunden. Er habe lediglich das seit Jahren bekannte Druckgefühl im Bereich des Bauchnabels feststellen können. Es bestehe der Verdacht auf eine Somatisierungsstörung mit Kopfschmerzen, Gelenkbeschwerden, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie um einen Zustand nach Salpeterinhalation am 14.02.2001. Die Anerkennung einer Berufskrankheit komme nicht in Betracht.

Auf Antrag der Klägerin erstattete Prof.Dr.H., Internist, Nephrologe und Umweltmediziner, gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) am 12.09.2005 ein weiteres Gutachten. Er stellte zum Untersuchungszeitpunkt am 14.04.2005 eine ausgeprägte Vergesslichkeit, Störung des Kurzzeitgedächtnisses, Konzentrationsminderung, Antriebsminderung und Mattigkeit fest. Die Diagnose einer Encephalopathie des Schweregrades II B nach der Schweregradeinteilung toxisch bedingter Encephalopathien der WHO sei gerechtfertigt. Ein ebenfalls diagnostiziertes chronisches Ermüdungssyndrom sei wahrscheinlich postviraler Natur. Es liege eine Berufskrankheit der Nr.1317 vor; die MdE betrage auf Dauer 50 v.H. ab dem Ende der Arbeitsunfähigkeit.

Das SG verband die beiden bei ihm anhängigen Klagen und wies diese mit Urteil vom 02.02.2006 ab. Es ging von einem Antrag der Klägerin aus, wonach die Feststellung (Anerkennung) einer Berufskrankheit der Nr.1302, 1303, 1304 oder 1317 der Anlage zur BKV und eine Entschädigung nach den gesetzlichen Bestimmungen begehrt worden sei. Soweit der Anspruch auf Feststellung von Berufskrankheiten betroffen sei, halte es das Gutachten des Prof.Dr.N. für maßgeblich. Trotz umfangreicher Labor- und lungenfunktionsanalytischer Untersuchungen habe kein objektiver krankheitswertiger Befund erhoben werden können. Die Beschwerden der Klägerin habe der Sachverständige als Somatisierungsstörungen gewertet. Diese psychische Erkrankung könne ebenso wenig wie ein MCS-Syndrom als Quasi-Berufskrankheit anerkannt werden. Es fehle insoweit an neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft, wonach das Krankheitsbild als Berufskrankheit zu definieren sei. Die Auffassung von Prof.Dr.H., dass bei der Klägerin eine lösemittelinduzierte Encephalopathie des Schweregrades IIB vorliege, sei nicht nachvollziehbar.

Dagegen legte die Klägerin Berufung ein. Der Senat trennte die verbundenen Klagen mit Beschluss vom 20.07.2006. Die Klägerin trug vor, ihre Beschwerden seien die Folge einer lösemittelinduzierten Encephalopathie bzw. einer MCS und als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen. Prof.Dr.N. sei nicht der richtige Gutachter. Es müsse ein Umweltmediziner, Neurologe, Psychologe, Toxikologe oder Hirnforscher beauftragt werden. Die Beklagte hielt ein pathologisches Geschehen nach der Befundung durch Dr.W. und Prof.Dr.N. nicht für bewiesen.

Im Auftrag des Senats erklärte Prof.Dr.N. zum Gutachten des Prof.Dr.H. am 28.12.2006, für die Annahme einer Berufskrankheit der Nr.1317 fehle es an langjährigen hohen Einwirkungen neurotoxischer Lösemittel. Darüber hinaus sei das bestehende Krankheitsbild nicht mit einer toxischen Encephalopathie zu erklären. Das Erschöpfungssyndrom führe Prof.Dr.H. auf eine virale Entstehung und nicht auf eine berufliche Exposition zurück. Für die Qualifikation von MCS als Berufskrankheit fehle es an medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Die Klägerin legte eine Stellungnahme von Prof.Dr.H. vom 20.06.2007 vor. Darin erklärte dieser, im Vordergrund stehe die Exposition gegenüber Lösemitteln, die geeignet seien, eine Encephalopathie zu verursachen. Langjährig hohe Einwirkungen verlange die Berufskrankheit Nr.1317 nicht. Bei der Klägerin liege das Symptommuster einer toxischen Encephalopathie vor. Die Salpetersäureexposition und die weiteren Beschwerden wie Gelenkbeschwerden, Ödeme, Ausbleiben der Periode, Haarausfall betrachte er als nachrangig. Allerdings sei die Begutachtung dadurch erschwert, dass das Ausmaß der Exposition nicht ausreichend ermittelt worden sei. Dies sei nicht der Klägerin, sondern dem TAD anzulasten. Eine Psychometrie und PET (Positronen-Emission-Tomography) sei notwendig.

Die Klägerin legte ein in ihrem Auftrag erstattetes "Expositions-Gutachten" des Dr.M., Sachverständiger für Umweltfragen, vom 21.10.2007 vor. Aufgrund des Akteninhalts, insbesondere der Tätigkeitsbeschreibung der Klägerin und der Angaben des Laborleiters W. vom 01.09.2004 und 22.08.2007, die die Klägerin ihm an die Hand gegeben habe, sei davon auszugehen, dass diese Ausgasungen von Kunststoffen ausgesetzt gewesen sei. Dabei handele es sich um Stoffe hoher Toxizität. Die Exposition sei geeignet gewesen, eine toxische Encephalopathie und Polyneuropathie zu entwickeln. Die Diagnosekriterien seien von Prof.Dr.H. bereits richtig festgestellt worden, jedoch seien eine Psychometrie, d.h. eine Zusammenstellung standardisierter Tests, und die genaue Zusammenstellung von Koordination und der peripheren Nerven noch durchzuführen.

Auf Antrag der Klägerin erstattete der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr.C. am 13.04.2009 ein Gutachten. Bei der Klägerin liege eine toxische Encephalopathie des Grades II A und eine klinisch nicht manifeste leichtgradige toxisch-sensible Polyneuropathie vor. Für den Schweregrad II A sprächen die Erschöpfung und Ermüdbarkeit der Klägerin in Verbindung mit einer objektivierbaren kognitiven Leistungsminderung, wie die Psychometrie ergeben habe. Unter der Voraussetzung einer tatsächlich stattgefundenen Exposition sei die Diagnose einer toxischen Encephalopathie gesichert. Andere Berufskrankheiten kämen nicht in Betracht. Die MdE betrage 30 bis 40 v.H. ab März 2003. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin quasi berufsunfähig sei und den erlernten Beruf als chemisch-technische Assistentin nicht mehr ausüben könne.

Die Beklagte wandte ein, eine neurotoxisch wirksame Exposition, d.h. über zehn Jahre in beträchtlicher Höhe, sei nicht nachgewiesen. Nach Dr.von K. habe schon 1978 ein ähnliches Beschwerdebild bestanden. Die MdE müsse abstrakt und ohne Bezug zum konkreten Beruf eingeschätzt werden.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 02.02.2006 sowie des Bescheides vom 26.01.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 02.06.2004 zu verurteilen, eine Berufskrankheit der Nr.1317 der Anlage zur BKV festzustellen;
hilfsweise für den Fall, dass der Senat die Erkrankung aus dem Jahre 1988/1989 "neurotische Depression" als Ausschlusskriterium für die Anerkennung einer BK 1317 heranzieht, von Herrn Dr.C. ergänzend eine Stellungnahme einzuholen mit der Frage, ob diese Vorerkrankung im Zusammenhang ursächlich als Ausschlussgrund für die BK 1317 angesehen wird und, falls der Senat dem Gutachten von Prof.N. folgt, die Gutachten von Dr.M. und Dr.C. Herrn Prof.N. zur ergänzenden Stellungnahme vorzulegen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts gemäß § 136 Abs. 2 SGG auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten sowie des Bayer. Landessozialgerichts zum
Az.: L 2 U 144/06 sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber unbegründet.

Die auf Anerkennung einer Berufskrankheit - inzwischen nur noch - der Nr.1317 gerichtete Klage ist als Feststellungsklage nach § 55 Abs.1 Nr.1 SGG zulässig. Mit ihr kann die Klägerin die gerichtliche Feststellung ihrer Beschwerden als Berufskrankheit erreichen (vgl. hierzu BSG Urteil vom 30.01.2007 - B 2 U 6/06 R m.w.N.). Der im Klageverfahren und zu Beginn des Berufungsverfahrens gestellte Antrag, die Beklagte darüber hinaus zu verurteilen, sie nach den entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen zu entschädigen, war auf ein unzulässiges Grundurteil gerichtet und hat neben dem Feststellungsausspruch keine eigenständige Bedeutung.

Auch mit dem so korrigierten Antrag konnte die Klägerin keinen Erfolg haben, denn die von ihr geltend gemachten Beschwerden sind nicht mit Wahrscheinlichkeit Folge einer lösemittelinduzierten Encephalopathie im Sinne der Nr.1317 der Anlage zur BKV. Die Entscheidung über den Rechtsstreit richtet sich nach den Vorschriften des Siebten Sozialgesetzbuchs (SGB VII), weil die schädigenden Einwirkungen, deren Folgen hier im Streit sind, nach dem 01.01.1997 stattfanden (§ 212 SGB VII).

Der Anspruch der Klägerin scheitert daran, dass gemäß § 9 SGB VII i.V.m. Nr.1317 der Anlage zur BKV die dort genannten Gesundheitsstörungen wie Polyneuropathie oder Encephalopathie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden müssen und dieser Nachweis nicht zu führen ist (BSGE 45, 285). Lediglich für den Ursachenzusammenhang zwischen der Einwirkung durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische und der geltend gemachten Gesundheitsstörungen genügt der geringere Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit (BSG, SozR 2200 § 548 Nr.38).

Nach dem Gutachten des Sachverständigen Prof.Dr.N. fanden sich bei der Untersuchung am 16.11.2004 keine Hinweise auf eine Polyneuropathie und/oder Encephalopathie. Das Krankheitsbild mit Kopfschmerzen, Gelenkbeschwerden, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen und weiterer Beschwerden bezeichnet der Gutachter als zu variabel ausgeprägt und mit einer Vielzahl anderer Symptome einhergehend. Bei der durch Lösemittel verursachten Encephalopathie, so Prof.Dr.N., wäre ein weitaus weniger variables Krankheitsbild zu erwarten. Nach dem Merkblatt zur Berufskrankheit der Nr.1317 in der Fassung der Bekanntmachung des Bundesministers für Gesundheit und Soziales (BArbl 2005 H.3 S. 49) äußert sich eine toxische Encephalopathie durch diffuse Störungen der Hirnfunktion. Konzentrations- und Merkschwächen, Auffassungsschwierigkeiten, Denkstörungen, Persönlichkeitsveränderungen oft mit Antriebsarmut, Reizbarkeit und Affektstörungen stehen dabei im Vordergrund. Der behandelnde Arzt Dr.B. gab an, die Klägerin habe bei der Untersuchung am 10.04.2001 über Gewichtszunahme, Hauterscheinungen, Beinschwellungen, Gelenkbeschwerden und Leistungsknick geklagt. In späteren Behandlungsberichten ab Februar 2002 werden von den behandelnden Ärzten diese Beschwerden und zusätzlich noch Ausbleiben der Periode, allgemeines Unwohlsein und unklares Erschöpfungssyndrom genannt. Die labortechnischen und bildgebenden Verfahren erbrachten hierzu keine organische Erklärung. Berücksichtigt man die Berichte der behandelnden Ärzte Dr.W. vom 07.08.2001, Dr.R. vom 04.02.2002, Dr.M. vom 18.04.2002, Prof.Dr.E. vom 27.05.2002, Dr.G. vom 07.05.2002 und Prof.Dr.S. vom 07.11.2002 so findet die Auffassung von Prof.Dr.N., die Konzentrations- und Gedächtnisstörungen seien variabel ausgeprägt und mit einer Vielzahl anderer Symptome einhergegangen, einen klaren Beweis. Der Senat kommt damit zum Ergebnis, dass die ab Februar 2001 von der Klägerin angegebenen Gesundheitsstörungen nicht dem typischen Bild einer neurotoxischen, lösemittelindizierten Encephalopathie entsprechen. Insoweit bestehen begründete Zweifel, ob die Diagnose einer toxischen Encephalopathie als gesichert gelten kann.

Diese Zweifel vermag auch das Gutachten des Prof.Dr.H. und dessen ergänzende Stellungnahme nicht auszuräumen. Auffällig ist, dass dieser Sachverständige für seine Diagnose der Encephalopathie nur einige Symptome, die dazu passen, heraus greift und alle anderen von der Klägerin geschilderten Gesundheitsstörungen als nachrangig bezeichnet. Hinzukommt, dass er weitere Untersuchungen, nämlich eine Psychometrie und PET fordert. Insoweit drängt sich der Schluss auf, dass er sich, was die Diagnose angeht, nicht sicher ist. Seine weiteren Argumente, nach dem erwähnten Merkblatt müsse nicht eine zehnjährige Exposition mit Lösemitteln bzw. das Erreichen von Schwellwerten nachgewiesen werden, betreffen lediglich die Frage, ob die Klägerin solchen schädigenden Stoffen ausgesetzt war und nicht die Diagnose selbst.

Zu einem anderen Ergebnis kann auch das Gutachten des Dr.C. nicht führen. Der Sachverständige schließt aus der psychometrischen Untersuchung, dass bei der Klägerin ein hohes prämorbides emotionales und kognitives Funktionsniveau vorgelegen habe und jetzt ein unerwartet niedriges valides kognitives Leistungsprofil, was seiner Meinung nach eine toxische Encephalopathie wahrscheinlich mache. Bei Betrachtung der psychometrischen Zusatzbegutachtung fällt auf, dass die Klägerin den Akten und der Exploration zufolge als stabil, robust und primär hoch leistungsfähig eingestuft wurde. Als einzige Erklärung für den jetzigen Leistungsabfall liege eine encephalopathische Verursachung nahe.

Die Untersuchungen des Dr.C. einschließlich der psychologischen Testreihen konzentrieren sich auf den Nachweis einer psychischen Minderbelastung und eines Leistungsknicks sowie darauf, dass diese Störungen erst nach den beruflichen Einwirkungen eingesetzt haben. In keiner Weise hingegen erklärt Dr.C., ob auch die übrigen, vielfältigen Beschwerden der Klägerin zum Bild der Encephalopathie passen und ob das gesamte Krankheitsbild typisch für eine toxisch verursachte Encephalopathie ist. Dr.C. beschränkt sich ebenso wie Prof.Dr.H. auf einen Teilaspekt, der eine Encephalopathie erklären könnte, ohne darzulegen, welche Bedeutung den vielschichtigen anderen Beschwerden zukommt. Der Senat sieht in den Ausführungen dieser Sachverständigen in keiner Weise den Nachweis für die Diagnose einer toxisch bedingten Encephalopathie. Dass darüber hinaus bei der Klägerin eine relevante Polyneuropathie festzustellen sei, behaupten weder Prof. Dr.H. noch Dr.C ... Anzeichen für eine solche Erkrankung vermag der Senat auch aus anderen Befunden nicht zu erkennen. Damit kommt der Senat zum Ergebnis, dass der Nachweis des Vorliegens einer Encephalopathie nicht erbracht ist.

Auf die von der AOK bescheinigte Arbeitsunfähigkeit der Klägerin wegen neurotischer Depression vom 26.09.1988 bis 28.02.1989 braucht nicht weiter eingegangen zu werden. Diese Vorerkrankung würde nur dann Bedeutung für die Entscheidung gewinnen, wenn die Diagnose einer Encephalopathie gesichert wäre und es für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs auf ein Abwägen etwaiger konkurrierender Ursachen ankäme. Dem Hilfsantrag der Klägerin, von Dr.C. eine ergänzende Stellungnahme einzuholen, ob die Vorerkrankung als Ausschlussgrund für die Feststellung einer Berufskrankheit der Nr.1317 angesehen werde, war infolgedessen nicht zu entsprechen.

Ebenso wenig brauchte der Senat der Frage nachzugehen, ob der von Dr.von K. am 29.03.2004 erwähnte Beschwerdebeginn im Jahr 1978 auf einem Schreibfehler beruht
- wie die Klägerin meint - und es richtigerweise 1998 heißen müsse. Die Ausführungen zielen lediglich darauf ab, dass die von Dr.W. in die Diskussion gebrachte Borelien-infektion im August 2001 nicht den früheren Beginn der Beschwerden erklären könne und deshalb außer Betracht zu bleiben habe.

Der weitere Antrag, falls der Senat dem Gutachten des Prof.Dr.N. folgen sollte, diesem Sachverständigen die Gutachten von Dr.M. und Dr.C. zur ergänzenden Stellungnahme vorzulegen, findet keine rechtliche Grundlage. Ein solcher Antrag hätte zur Voraussetzung, dass das Gericht seine endgültige Beweiswürdigung darzulegen hätte, die es erst in der nachfolgenden Beratung anzustellen hat. Denn erst dann könnte die mündliche Verhandlung vertagt und die gewünschte gutachterliche Stellungnahme eingeholt werden. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor seiner Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (BSG-Beschluss vom 24.05.2004 - B 2 U 95/04 B).

Im Übrigen ist das Gericht bei einander widersprechenden Gutachten nicht stets verpflichtet, ein weiteres Gutachten einzuholen (BSG, Beschluss vom 24.03.2005 - B 2 U 368/04 B). Welche Fragen im Wege der ergänzenden Stellungnahme von Prof.Dr.N. beantwortet werden sollten, hat die Klägerin darüber hinaus nicht dargelegt (BSG Beschluss vom 16.11.2005 - B 2 U 318/05 B). Den Hilfsanträgen war daher nicht zu entsprechen.

Damit kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass der Anspruch auf Feststellung einer Berufskrankheit der Nr.1317 der Anlage zur BKV nicht zu begründen ist.

Nach dem Ergebnis der gesamten Beweiserhebung kann der Senat die Diagnose einer lösemittelinduzierten Encephalopathie nicht im Grad der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit feststellen. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 02.02.2006 war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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