L 9 U 2682/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 635/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 2682/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 25. April 2007 sowie der Bescheid der Beklagten vom 13. November 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2004 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Lendenwirbelsäulenerkrankung des Klägers ab 1. Januar 2001 als Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV festzustellen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Anerkennung einer Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit (BK Nr. 2108).

Der 1952 geborene Kläger war vom 27.7.1967 bis 25.8.1967, 9.9.1968 bis 21.2.1969, 29.5.1969 bis 31.3.1972, 1.7.1973 bis 24.2.1976, 3.3.1976 bis 31.1.1983 sowie 1.9.1983 bis 30.9.1983 als Dachdeckerhelfer abhängig beschäftigt. Seit Oktober 1983 ist der Kläger zusammen mit seinem Bruder Inhaber einer Dachdecker-Firma und bei der Beklagten als Selbstständiger mit einer Versicherungssumme von derzeit 40.903,00 EUR versichert (Bautenschutz bzw. Dacharbeiten).

Am 19.1.2001 teilte er der Beklagten mit, dass er sein Unternehmen wegen einer Wirbelsäulenerkrankung aufgeben müsse. Im Fragebogen gab er unter dem 25.1.2001 an, er habe erstmals im Jahr 1978 Wirbelsäulenbeschwerden nach der Arbeit bei nasskaltem Wetter verspürt. Bis 1992 seien die Beschwerden gelegentlich und ab 1992 regelmäßig aufgetreten.

Die Beklagte holte eine Stellungnahme des technischen Aufsichtsbeamten B. vom 7.5.2001 ein, zog Vorerkrankungsverzeichnisse der AOK bezüglich der Zeit von 1973 bis 1976, der IKK bezüglich der Zeit von 1978 bis 1982 sowie der H. M. bezüglich der Zeit ab 1993 sowie ärztliche Unterlagen (u. a. Gutachten von Prof. Dr. P. vom 14.1.2002, erstattet für die Alte Leipziger Lebensversicherungsgesellschaft, Heilverfahren-Entlassungsbericht der Rheintalklinik Bad K. vom 19.10.2001) bei und holte Befundberichte bei Dr. L. und Dr. P.vom 10.7. und 31.7.2001 ein. Der Beratungsarzt der Beklagten Dr. K. bejahte unter dem 3.3.2002 aus medizinischer Sicht einen begründeten Verdacht für eine BK Nr. 2108 und empfahl eine Begutachtung.

Prof. Dr. K., Chefarzt der Abteilung für Querschnittsgelähmte, Orthopädie und Rehabilitationsmedizin der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen, diagnostizierte beim Kläger im Gutachten vom 13.8.2002 degenerative Veränderungen an der Brustwirbelsäule BWK 9/10 und BWK 7/8, die funktionell der Lendenwirbelsäule (LWS) zuzuordnen seien, eine ausgeprägte segmentale Instabilität L 4/5 mit Osteophyten, eine Osteochondrose L 5/S1, das Segment sei praktisch versteift, einen Beckenschiefstand und eine Beinverkürzung links um 1 cm. Es lägen an der gesamten LWS der Altersnorm vorauseilende Veränderungen vor, die von oben nach unten zunähmen mit einem Maximum in den Segmenten L 4/5 und L 5/S1. Beim Kläger liege eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vor. Die belastende berufliche Tätigkeit habe nach zehnjähriger Tätigkeit bereits im Alter von 26 Jahren zu röntgenologisch sichtbaren Veränderungen geführt. Nach den bisherigen Konsenskriterien komme die Anerkennung einer BK Nr. 2108 vorliegend in Betracht. Der Kläger habe seine belastende Tätigkeit aufgegeben und eine aufsichtsführende Tätigkeit in einem Baugeschäft in Aussicht. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schätze er ab 1.1.2001 auf 10 vH.

In der ergänzenden Stellungnahme vom 17.2.2003 führte Prof. Dr. K. aus, die Wirbelsäulenbeschwerden seien laut Aktenlage bereits 1974, d. h. sieben Jahre nach Beginn der schweren körperlichen Tätigkeit als Dachdecker, aufgetreten. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der Kläger seine körperliche Arbeit bereits im Alter von 15 Jahren, also noch vor Beendigung des Wachstums, aufgenommen habe. Angesichts dessen spreche die Gesamtkonstellation auch bei einer Belastungszeit von sieben Jahren bis zum Auftreten der Wirbelsäulenbeschwerden nicht gegen die Annahme einer BK 2108. Das Schadensbild entspreche den von Prof. Dr. W. in seiner (beiliegenden) Arbeit genannten Voraussetzungen und für eine BK Nr. 2108. Die festzustellende Seitverbiegung der Wirbelsäule sei allenfalls marginal.

Anschließend beauftragte die Beklagte Prof. Dr. W. mit der Abgabe einer gutachterlichen Stellungnahme nach Aktenlage. Dieser führte in der Stellungnahme vom 4.6.2003 aus, es gebe gewichtige Argumente, die sowohl gegen als auch für das Vorliegen einer BK Nr. 2108 sprächen. Nach seinem Dafürhalten gebe es für den an der LWS aufgetretenen Bandscheibenschaden zwei Ursachen. Dabei handele es sich um berufliche Einwirkungen und um endogene Faktoren. Fest stehe, dass sich beim Kläger keine prädiskotischen Deformitäten nachweisen ließen, also Veränderungen, die zur Entstehung von Bandscheibenschäden disponierten. Die von der Beklagten genannte seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule sei so geringfügig, dass sie pathogenetisch gesehen ohne Relevanz sei. Er empfehle abzuklären, welchen beruflich bedingten Wirbelsäulenbelastungen der Kläger ausgesetzt gewesen sei, insbesondere in seinen frühen Berufsjahren und ob die technischen Voraussetzungen für die Anerkennung der BK Nr. 2108 generell erfüllt seien. Die Gesamtbelastungsdosis der Wirbelsäule sollte nach dem Mainz-Dortmunder Dosismodell (MDD) berechnet werden.

Die von der Beklagten daraufhin veranlasste Belastungsbeurteilung nach den MDD durch Dipl.-Ingenieur V. vom 7.10.2003 ergab einen Wert von 7,41 x 106 Nh (Newton-Stunden).

Mit Bescheid vom 13.11.2003 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Wirbelsäulenerkrankung des Klägers als BK nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) ab, da die arbeitstechnischen Voraussetzungen - Überschreitung eines Wertes von 25 x 106 Nh - nicht erfüllt seien. Eine BK liege somit nicht vor. Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung würden nicht gewährt. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30.1.2004 zurück.

Hiergegen erhob der Kläger am 1.3.2004 Klage zum Sozialgericht (SG) Heilbronn. Mit Gerichtsbescheid vom 25.4.2007 wies das SG - wegen Fehlens der arbeitstechnischen Voraussetzungen - die Klage ab. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen den am 30.4.2007 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 29.5.2007 Berufung eingelegt und vorgetragen, das Bundessozialgericht (BSG) habe in einer Entscheidung vom 30.10.2007 ausgeführt, trotz der Schwächen und der geäußerten Kritik halte das BSG am MDD in modifizierter Form als Grundlage für die Konkretisierung der im Text der Nr. 2108 der Anlage zur BKV zur Kennzeichnung der beruflichen Einwirkungen verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe fest, weil aktuell kein den wissenschaftlichen Erkenntnisstand besser abbildendes Alternativmodell zur Verfügung stehe. Im Hinblick auf die bestehenden Unsicherheiten seien aber die Richtwerte des MDD für die Gesamtbelastungsdosis zu halbieren, sodass von einem langjährigen Heben und Tragen schwerer Lasten bzw. einer langjährigen Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung auszugehen sei, wenn mindestens 50% des nach dem MDD ermittelten Wertes für die Gesamtbelastungsdosis erreicht oder überschritten worden seien.

Nachdem der Senat die Beklagte um Vorlage einer Neuberechnung der Wirbelsäulenbelastung des Klägers durch ihren technischen Aufsichtsdienst unter Zugrundelegung des neuen Merkblatts, der Erkenntnisse der Wirbelsäulenstudie und der neuen Rechtsprechung des BSG gebeten hatte, ermittelte Diplom-Ingenieur V. eine berufliche Belastungsgesamtdosis von 42,09 x 106 Nh. Später teilte die Beklagte mit, bei der Berechnung seien versehentlich auch Tätigkeiten mit einer Druckkraft pro Arbeitsgang von unter 2.700 N berücksichtigt worden. Dessen ungeachtet dürfte die Hälfte des Orientierungswertes für die Gesamtbelastungsdosis von 12,5 x 106 Nh überschritten sein, weshalb sie eine korrigierte MDD-Berechnung nicht für erforderlich halte.

Der Senat hat Prof. Dr. L., Leiter der Sektion Obere Extremität - Schulter-, Ellenbogen- und Handchirurgie an der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg, mit der Begutachtung des Klägers beauftragt. Dieser ist in dem zusammen mit PD Dr. Z. erstatteten Gutachten vom 29.1.2009 zum Ergebnis gelangt, beim Kläger liege eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vor. Der röntgenologische Befund spreche für das Vorliegen einer BK nach Nr. 2108, da das Schädigungsausmaß im Bereich der unteren LWS am stärksten ausgeprägt gewesen sei. Hier liege ein belastungskonformes Schadensbild vor, da das Schädigungsausmaß hier deutlich stärker sei als im Bereich der oberen LWS und der darüberliegenden Wirbelsäulenabschnitte. Wesentliche Teilursache für die Veränderungen im Bereich der unteren LWS sei die berufliche Belastung und nicht die ebenfalls vorhandene bandscheibenbedingte Erkrankung. Die gefährdende Tätigkeit als Dachdecker könne der Kläger nicht länger durchführen. Seit Aufgabe der Tätigkeit liege eine MdE um 10 vH vor.

Der Kläger hat mitgeteilt, dass er seit Januar 2001 Arbeiten auf der Baustelle eingestellt habe. Seine Tätigkeit bei der Fa. K. Bedachungen beschränke sich seither am Tag auf ca. 3 Stunden Büro (Angebots- und Rechnungsstellung) und 3-4 Stunden am Tag Kundenbesuche zwecks Angeboten (nur Terrassen, Balkone und Dachfenster). Ziegeldachangebote würden von seinem Bruder gemacht, da man hierbei fast immer aufs Dach müsse.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 25. April 2007 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. November 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, seine Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise ein radiologischen Gutachten auf der Grundlage des messbasierten Verfahrens zur Einschätzung des Vorliegens einer Chondrose gemäß den "Konsensempfehlungen" einzuholen.

Sie erwidert, eine BK Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV könne weiterhin nicht anerkannt werden. Es müsse bereits bemängelt werden, dass in einer Sache, in der beurteilt werden solle, ob eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS als BK anerkannt werden solle, Prof. Dr. L., Leiter der Sektion Obere Extremität, Schulter-, Ellenbogen- und Handchirurgie, als Gutachter bestellt worden sei. Das vorliegende Gutachten sei zur Beantwortung der Frage, ob eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule vorliege, ungeeignet. Nach Hinweis darauf, dass Prof. Dr. L. Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie sei, verwies die Beklagte darauf, dass ohne Auseinandersetzung mit den Konsensempfehlungen eine Anerkennung nicht möglich sei und ein weiteres Sachverständigengutachten bei einem auf dem Gebiet der bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule erfahrenen Orthopäden eingeholt werden solle. Es müsse auch zwingend ein radiologisches Gutachten eingeholt werden, um nach dem in den "Konsensempfehlungen" im Anhang 3 beschriebenen messbasierten Verfahren Aussagen zu der beim Kläger im Bereich der LWS vorhandenen Chondrose treffen zu können.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung des Klägers ist auch begründet, da er Anspruch auf Feststellung einer BK Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV hat.

BKen sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte bei einer der in den §§ 2, 3 und 6 SGB VII genannten Tätigkeiten erleiden. Die Bundesregierung wurde ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind.

Hierzu zählen nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV müssen folgende Tatbestandsmerkmale gegeben sein: Bei dem Versicherten muss eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vorliegen, die durch langjähriges berufsbedingtes Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige berufsbedingte Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (sog. arbeitstechnische Voraussetzungen) entstanden ist. Die Erkrankung muss den Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten herbeigeführt haben und als Konsequenz aus diesem Zwang muss die Aufgabe dieser Tätigkeiten tatsächlich erfolgt sein.

Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und die als Folge geltend gemachte Gesundheitsstörung - hier also eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS - erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 30. April 1985, 2 RU 43/84 in SozR 2200 § 555 a Nr. 1). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 30. April 1985 a.a.O.); das bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen muss, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (vgl. BSG, Urteil vom 02. November 1999, B 2 U 47/98 R in SozR 3-1300 § 48 Nr. 67; Urteil vom 02. Mai 2001, B 2 U 16/00 R in SozR 3-2200 § 551 Nr. 16). Kommen mehrere Ursachen in Betracht (konkurrierende Kausalität) so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 1988, 2/9 B RU 28/87 in SozR 2200 § 548 Nr. 91). Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (vgl. BSG, Urteil vom 27. Juni 1991, 2 RU 31/90 in SozR 3-2200 § 548 Nr. 11).

Der Senat stellt zunächst fest, dass beim Kläger die sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen vorliegen. Zwar ist die vom TAD der Beklagten der Belastungsbeurteilung nach dem MDD vom 1.10.2008 mitgeteilte berufliche Gesamtdosis des Klägers für den Zeitraum vom 27.7.1967 bis 31.12.2000 in Höhe von 42,09 x 106 Nh nicht nach den Vorgaben des Bundessozialgerichts errechnet worden, wonach nur Arbeitsvorgänge mit einer Mindestdruckkraft von 2.700 N pro Arbeitsvorgang in die Berechnung einzubeziehen sind (vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 2007 - B 2 U 4/06 R - in JURIS Rdnr. 23, weitere Fundstellen: BSG SozR 4-5671 Anlage 1 Nr 2108 Nr 5; BSGE 99, 162-170). Dennoch steht - auch ohne erneute Messung - fest, dass beim Kläger die als unterer Grenzwert angenommene Hälfte des bisher geltenden Orientierungswerts für die Gesamtbelastungsdosis von 25 x 106 Nh also 12,5 x 106 Nh, deutlich überschritten ist. Dies wird auch von der Beklagten nicht bestritten.

Die damit erforderlichen einzelfallbezogenen Ermittlungen haben ergeben, dass beim Kläger eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS vorliegt. Hierbei handelt es sich ausweislich des Befundberichts von Dr. M. vom 19.1.2001 über eine CT-Untersuchung der LWS vom 17.1.2001 um einen Diskusprolaps auf Höhe L 4/5 mit Einengung des linken Nervenaustrittlochs sowie um eine Osteochondrose im Segment L 5/S1. Auf Grund dessen stellte Prof. Dr. K. im Gutachten vom 13.8.2002 beim Kläger der Altersnorm vorauseilende Veränderungen an der gesamten Lendenwirbelsäule fest, die von oben nach unten zunahmen mit Maximum in den Segmenten L 4/5 und L 5/S1. Prof. Dr. L. diagnostizierte im Gutachten vom 29.1.2009 eine massive Höhenminderung der Zwischenwirbelräume sowie eine Spondylose im unteren Lendenwirbelsäulenbereich mit Einschränkung der Beweglichkeit.

Die bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS des Klägers ist auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das langjährige Heben und Tragen schwerer Lasten einschließlich Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung im Beruf als Dachdecker bzw. Dachdeckerhelfer ursächlich zurückzuführen. Zu diesem Ergebnis gelangt der Senat auf Grund der Beurteilungen von Prof. Dr. K. im Gutachten vom 13.8.2003 und in der ergänzenden Stellungnahme vom 17.2.2003 und von Prof. Dr. W. in der gutachterlichen Stellungnahme nach Aktenlage vom 4.6.2003, die im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden, sowie des Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. L. vom 29.1.2009.

Prof. Dr. K. hat seine Beurteilung im Wesentlichen darauf gestützt, dass beim Kläger ein Schadensbild vorliege, das für die Annahme einer BK 2108 genüge und insoweit auf die von Prof. Dr. W. veröffentlichten empirischen Erkenntnisse verwiesen. Prof. Dr. W. selbst hat als beratender Arzt der Beklagten in der Stellungnahme vom 4.6.2003 auch keinen Zweifel daran gelassen, dass das Schadensbild beim Kläger für das Vorliegen einer BK spricht, nachdem an der Lendenwirbelsäule im Vergleich zur Hals- und Brustwirbelsäule erhebliche bandscheibenbedingte Veränderungen entstanden sind. Während die Aufnahmen der HWS nur eine leichtgradige Höhenminderung der Bandscheibenräume C 4/5 und C 6/7 zeigten und die Bandscheibenräume an der BWS normal weit waren, fand sich eine hochgradige Höhenminderung der Bandscheibenräume L 4/5 und L 5/S1. Die schwerstgradigen degenerativen Veränderungen fanden sich an der unteren Lendenwirbelsäule. Die Feststellungen von Prof. Dr. W. zum Ausmaß der Höhenminderung der Bandscheiben im LWS-Bereich im Vergleich zu denjenigen im HWS- und BWS-Bereich stimmen mit denjenigen von Prof. Dr. K. und Prof. Dr. L. überein. Der Senat sah daher keine Veranlassung, ein radiologisches Gutachten einzuholen und die Bandscheibenhöhe in diesem Bereich - unter Anwendung des im Anhang 3 der "Konsensempfehlungen" beschriebenen messbasierten Verfahrens - zur Einschätzung des Vorliegens einer Chondrose erneut beurteilen zu lassen.

Die im medizinischen Bereich übereinstimmenden Beurteilungen durch Prof. Dr. K., Prof. Dr. W. und Prof. Dr. L. werden im Übrigen ge¬stützt durch die Darlegungen in den Konsensempfehlungen (Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule (Teil I), veröffentlicht in Trauma und Berufskrankheit, Heft 3/2005, S. 211 ff., online publiziert unter www. hvbg.de/d/pages/versich/risk bk/bk wirbel/index.html), welche den aktuellen Stand der Wissenschaft wiedergeben (Urteil des Senats vom 23.9.2008 - L 9 U 1711/05 wie LSG Ham¬burg, Urteil vom 11. August 2006, L 3 U 27/98, in JURIS). Diese weisen darauf hin, dass für die Anerkennung von entsprechenden Schäden das Vorliegen eines belastungskonformen Schadens¬bilds Voraussetzung ist. Dieses wird beschrieben durch einen Vergleich der Veränderungen zwi¬schen Beschäftigten mit hoher Wirbelsäulenbelastung und der Normalbevölkerung hinsichtlich der Kriterien a. Lebensalter beim Auftreten der Schädigung, b. Ausprägungsgrad in einem be¬stimmten Alter, c. Verteilungsmuster an der Lendenwirbelsäule, d. Lokalisationsunterschiede zwischen biomechanisch hoch und mäßig belasteten Wirbelsäulenabschnitten der gleichen Per¬son und e. Entwicklung einer Begleitspondylose. Es besteht also ein Konsens dahingehend, dass Bandscheibenschäden des Segments L 4/5 und/oder L 5/S1 ein belastungskonformes Schadens¬bild sind (Konsensempfehlungen a. a. O. S. 217).

Die in den Konsensempfehlungen genannten Kriterien sind beim Kläger erfüllt (Konstellation B1, S. 217). So betrifft die bandscheibenbedingte Erkrankung beim Kläger die Segmente L 4/5 und L 5/S1. Darüber hinaus war ausweislich des CTs vom 17.1.2001 ein Vorfall im Bereich L 4/5 festgestellt worden. Neben der beruflichen Belastung sind wesentliche konkurrierende Ursachenfaktoren nicht erkennbar, darüber hinaus ist eine Begleitspondylose vorhanden. Dies ergibt sich für den Senat auf Grund der insoweit übereinstimmenden Feststellungen und Beurteilungen von Prof. Dr. K., Prof. Dr. W. und Prof. Dr. L ...

Bei der obengenannten Konstellation B1 der Konsensempfehlungen ist ein Kausalzusammenhang mit der beruflichen Belastung wahrscheinlich. Zu diesem Ergebnis ist auch Prof. Dr. L. gekommen. Zweifel an seiner Beurteilung ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass er Leiter der Sektion Obere Extremität - Schulter-, Ellenbogen- und Handchirurgie ist, zumal er Facharzt für Orthopädie und Chirurgie ist. Aus einer Spezialisierung auf einem Teilgebiet der Orthopädie/Chirurgie lässt sich nicht ableiten, dass die erworbenen allgemeinen Kenntnisse auf dem Gebiet der Orthopädie/Chirurgie in Wegfall gekommen sind und er nicht in der Lage wäre, eine bandscheibenbedingte Erkrankung im Bereich der LWS zu diagnostizieren und den Kausalzusammenhang zu beurteilen. Zutreffend ist zwar, dass Prof. Dr. L. nicht auf die Konsensempfehlungen im Einzelnen Bezug genommen hat. Hieraus rechtfertigt sich jedoch nicht die Schlussfolgerung, dass das Gutachten ungeeignet bzw. nicht verwertbar wäre. Denn die Beklagte hat nicht einmal aufgezeigt, dass und in welchen Punkten die Beurteilung im Gutachten von Prof. Dr. L. von den Konsensempfehlungen, die den Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, abweichen soll.

Bis zum Auftreten der Wirbelsäulenerkrankung hat der Kläger die Dachdeckertätigkeit langjährig ausgeübt, wobei dahingestellt bleiben kann, ob das erstmalige Auftreten von Wirbelsäulenbeschwerden im Jahr 1978 (Angaben des Klägers) bzw. 1974 (Vorerkrankungsverzeichnis der AOK: akute Lumbago, Arbeitsunfähigkeit vom 26.11. bis 2.12.1974) schon als bandscheibenbedingte Wirbelsäulenerkrankung anzusehen ist oder erst ab Vorliegen eines manifesten Befundes, da der Kläger die körperlich schwere Arbeit bereits im Alter von 15 Jahren, also noch vor Beendigung des Wachstums, aufgenommen hat. Dies ist, wie Prof. Dr. K. nachvollziehbar und überzeugend dargelegt hat, als erschwerende und ungünstige Konstellation zu werten, sodass gerade in diesen Fällen auch eine kürzere Belastungszeit bis zum Auftreten der ersten Beschwerden nicht gegen einen beruflich bedingten Kausalzusammenhang spricht.

Der Kläger war auf Grund seiner berufsbedingten Bandscheibenerkrankung auch gezwungen, seine Tätigkeit als Dachdecker auf der Baustelle aufzugeben und nur noch Büro- oder Reisetätigkeit zu verrichten. Dies geschah zum Jahreswechsel 2000/2001, sodass der Versicherungsfall zum 1.1.2001 eingetreten ist.

Nach alledem waren auf die Berufung des Klägers der Gerichtsbescheid des SG sowie die Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, eine BK nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV festzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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