Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 2 KR 3402/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 389/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Krankenkasse hat keinen Erstattungsanspruch gegen einen Apotheker (Retaxierung), der aufgrund einer vertragsärztlichen
Verordnung ein im Wege des Einzelimports nach § 73 Abs 3 AMG
beschafftes Arzneimittel an eine Versicherte als Sachleistung abgibt,
wenn die Versicherte im Einzelfall zur Behandlung eines multiplen Myeloms (Knochenmarkkrebs) Anspruch auf dieses Arzneimittel
(hier: Thalidomid; früherer Handelsname Contergan) hat. Die Abgabe
des Arzneimittels durch den Apotheker ist nicht von einer vorherigen
Genehmigung der Krankenkasse abhängig.
Verordnung ein im Wege des Einzelimports nach § 73 Abs 3 AMG
beschafftes Arzneimittel an eine Versicherte als Sachleistung abgibt,
wenn die Versicherte im Einzelfall zur Behandlung eines multiplen Myeloms (Knochenmarkkrebs) Anspruch auf dieses Arzneimittel
(hier: Thalidomid; früherer Handelsname Contergan) hat. Die Abgabe
des Arzneimittels durch den Apotheker ist nicht von einer vorherigen
Genehmigung der Krankenkasse abhängig.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 25. September 2008 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 20.051,50 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte zu Recht die bereits gezahlte Vergütung für das von Juli bis Dezember 2005 an die Versicherte (G. N.) gegebene Arzneimittel Thalidomid in Höhe von 20.051,50 EUR mangels vorheriger Genehmigung durch die Beklagte zurückgefordert und gegen unstreitige Vergütungsforderungen des Klägers aus späteren Arzneimittelabgaben aufgerechnet hat (Retaxierung).
Der Kläger ist Apotheker sowie Mitglied des Apothekerverbandes Baden-Württemberg e.V. und beliefert auch Versicherte der Beklagten. In der Zeit von Juli bis Dezember 2005 gab er an die am 13. Mai 1936 geborene und am 29. Mai 2007 verstorbene Versicherte nach Vorlage vertragsärztlicher Rezepte der behandelnden Internistin Dr. E. (Bl. 2, 4, 9, 10, 18, 19 V-Akte) das zum damaligen Zeitpunkt nicht zugelassene Arzneimittel Thalidomid ab. Dafür erhielt er von der Beklagten den Abgabepreis in Höhe von insgesamt 20.051,50 EUR. Die Versicherte litt an einem multiplen Myelom (Knochenmarkstyp IgG-Kappa Stadium III b) mit Metastasen im Bereich des gesamten Knochens und Blutarmut. Dabei handelt es sich um eine besonders aggressive Form von Knochenmarkkrebs. Diese lebensbedrohliche Krankheit galt jedenfalls im Jahr 2005 bis auf wenige Ausnahmen als unheilbar.
Thalidomid war bis 1961 unter der Produktbezeichnung Contergan® als Schlafmittel zugelassen. Die Substanz wirkt beim Menschen hochgradig teratogen (fruchtschädigend). In den 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre wurde Contergan® ua von schwangeren Frauen als Seditativum (Beruhigungsmittel) sowie gegen Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft eingenommen. In Folge der fruchtschädigenden Wirkung wurden Tausende Kinder mit schwerwiegenden, durch Thalidomid verursachten Fehlbildungen geboren. Später zeigte sich, dass die Substanz Thalidomid bei der Behandlung des mutliplen Myeloms wirksam ist. In Australien und den USA erfolgte eine Zulassung für Thalidomid zur Behandlung von Patienten mit multiplem Myelom in den Jahren 2003 bzw 2006, in Deutschland wie in den übrigen Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) erst im Jahr 2008. In der Zulassungsentscheidung der Europäischen Kommission wurden die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, in ihrem nationalen Zuständigkeitsbereich die Einhaltung entsprechender Auflagen für ein Sicherheitskonzept sicherzustellen. Aufgrund einer Änderung der Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) vom 21. Dezember 2005 (BGBl I S 3632) durch Art 1 der Verordnung vom 2. Dezember 2008 (BGBl I S 2338), bei der mit Wirkung vom 8. Februar 2009 § 3a AMVV eingefügt worden ist, dürfen Arzneimittel, welche den Wirkstoff Thalidomid enthalten, nur noch auf ein Sonderrezept gemäß einem Vordruck des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte abgegeben werden. Die Zulassung von Thalidomid gilt für die Erstlinienbehandlung von Personen mit unbehandeltem multiplem Myelom ab einem Alter von ³ 65 Jahren bzw von Patienten, für die eine hochdosierte Chemotherapie nicht in Frage kommt.
Die Beklagte beanstandete die Arzneimittelabgaben des Klägers mit Schreiben vom 5. Mai 2006, 16. Juni 2006, 4. August 2006 und 29. September 2006 mit der Begründung, diese seien entgegen § 4 Abs 5 Satz 2 Ziffer 8 Arzneimittellieferungsvertrag (ALV) in der Fassung ab 1. Juli 2005 erfolgt, ohne dass die Versicherte die bei Einzelimporten erforderliche Genehmigung der Kasse vorgelegt habe. Eine nachträgliche Genehmigung, die der Versicherten mit Schreiben vom 19. Mai 2006 erteilt worden sei (Kostenübernahme zunächst bis zum 30. April 2007), könne für bereits belieferte Verordnungen nicht akzeptiert werden.
In dem nach Aktenlage erstellten Gutachten vom 22. Mai 2006 führte Dr. B. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) aus, das zugelassene Präparat Bortezomlb sei nicht bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion untersucht worden. Deswegen komme dieses Medikament in Anbetracht der Vorschädigung und der bisher nicht erfolgten Reversibilität dieser Störung nicht in Frage. Die Erkrankung der Versicherten sei schwerwiegend und führe unbehandelt in kürzester Zeit zum Tode, zumindest bei dem hier gegebenen Stadium. Deswegen könne Thalidomid im Rahmen seiner ausländischen Zulassung grundsätzlich angewandt werden. Die ausländischen Zulassungen, die in Australien, Neuseeland, Israel und der Türkei bestünden, hätten, zumindest was die ersten drei genannten Länder anginge, auch einen entsprechend hohen Zulassungsstandard im Sinne der Rechtsprechung. Die Behandlung mit Thalidomid werde weltweit diskutiert und stelle auch weltweit bis zu einem gewissen Grad eine Standardbehandlung dar. Die Dosierung erfolge mit 400 mg nicht im typischen Erhaltungstherapiebereich, auch wenn sie bereits seit einem Jahr so laufe. Man könne die Kostenübernahme für das Importarzneimittel Thalidomid so lange positiv bewerten, bis eventuell eine Zulassung auch eines Analogons, insbesondere des Revlimids, erfolge.
Die behandelnde Ärztin Dr. E. führte mit Schreiben vom 8. September 2006 aus, dass bei der Versicherten das Plasmozytom mit Metastasen im Bereich des gesamten Knochens und Blutarmut vor über drei Jahren festgestellt worden sei. Man habe die Versicherte mit verschiedenen Chemotherapien fortschreitend behandeln und zwischendurch auch am Rücken bestrahlen müssen. Seit der Behandlung mit Thalidomid vor einem Jahr, ursprünglich mit 400, aktuell mit 100 mg pro die, zeige sich eine deutliche Stabilisierung, die allerdings weit von einer kompletten Rückbildung entfernt sei. Als Nebenwirkung sei ein ausgeprägter Schwindel aufgetreten. Die Indikation sei aus hämatologischer Sicht absolut eindeutig.
Mit seinen Einsprüchen machte der Kläger geltend, das Erfordernis einer Genehmigung von Arzneimittelverordnungen durch die Krankenkassen verstoße gegen § 29 Abs 1 des Bundesmantelvertrages der Ärzte (BMV-Ä) und § 15 Abs 1 Arzt-/Ersatzkassenvertrag (EKV) sowie § 17 Abs 4 Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) und stehe auch im Widerspruch zu der Aufgabenverteilung zwischen Arzt und Apotheker im Versorgungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung. Außerdem stellten Einzelimporte nach § 73 Abs 3 des Arzneimittelgesetzes (AMG) entgegen zwischenzeitlich überholter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) keineswegs generell unzulässige Leistungen dar. Er sei daher seinen apothekenrechtlichen Verpflichtungen in jeder Hinsicht korrekt nachgekommen und sei nicht berechtigt gewesen, die Thalidomid-Rezepte zurückzuweisen. Dies gelte umso mehr, als es sich um überlebensnotwendige Arzneimitteltherapien für die Patienten gehandelt habe.
Nachdem seine Einsprüche ohne Erfolg geblieben waren, hat der Kläger am 5. Dezember 2006 Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben. Zu deren Begründung hat er ergänzend vorgetragen, einer vorherigen Genehmigung habe es deswegen nicht bedurft, weil die Voraussetzungen des § 4 Abs 5 Nr 8 2. Alternative ALV erfüllt gewesen seien. Aufgrund der tödlichen Krebserkrankung und mangelnden Therapiealternativen habe die Versicherte einen Anspruch auf Thalidomid als Sachleistung gehabt. Eine rechtzeitige Versorgung mit dem Arzneimittel sei im Falle des Erfordernisses vorheriger Genehmigung nicht gewährleistet gewesen. Die streitgegenständliche Norm des ALV stelle eine vertragliche Regelung zu Lasten Dritter, nämlich des therapiebedürftigen Patienten dar. Ein Apotheker sei keine Überwachungsstelle für den Vertragsarzt.
Die Beklagte ist der Klage mit der Begründung entgegen getreten, Thalidomid sei nur ausnahmsweise verordnungs- und erstattungsfähig gewesen. Da der Apotheker weder in der Lage noch berechtigt sei, eine Entscheidung über die ausnahmsweise Erstattungsfähigkeit zu treffen, da er weder Mediziner sei noch über die ausreichenden Informationen über die Krankengeschichte verfüge, müsse es bei dem Erfordernis der vorherigen Genehmigung durch die Kasse verbleiben.
Mit Urteil vom 25. September 2008, der Beklagten zugestellt am 29. Dezember 2008, hat das SG die Beklagte verurteilt, an den Kläger 20.051,50 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8 % über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, von einer rechtsgrundlosen Vermögensverschiebung im Sinne des Arzneimittelrechts könne im Falle des Klägers nicht ausgegangen werden. Vielmehr sei ein wirksamer Kaufvertrag zwischen Apotheke und Krankenkasse zustande gekommen. Dem Kläger stehe deswegen ein Vergütungsanspruch zu. Dass die bei Einzelimporten erforderliche Genehmigung bei Einlösung der Rezepte nicht vorgelegen habe, stehe dem nicht entgegen. Zwar stünden die jeweiligen Kaufvertragsangebote, die durch Versicherte mit Überreichung der vertragsärztlichen Verordnung dem Apotheker übermittelt würden, nach der Rechtsprechung generell unter dem Vorbehalt bzw der Bedingung der Einhaltung der im ALV niedergelegten Abgabebestimmungen. Für die Abgabe von Importarzneimitteln bedeute dies, dass ein Kaufvertrag grundsätzlich nicht zustande komme, wenn der Versicherte der Apotheke keine Genehmigung der Ersatzkasse vorlege. Dies gelte jedoch nicht uneingeschränkt. Einer Genehmigung bedürfe es dann nicht, wenn die Arzneimittel bei bestimmten Indikationsstellungen verordnungs- und erstattungsfähig seien. Dies treffe auf das Arzneimittel Thalidomid zu, sofern dies, wie im Falle der Versicherten, zur Behandlung multipler Myelome eingesetzt werden solle. Dies bestreite auch die Beklagte inzwischen nicht mehr.
Mit ihrer dagegen am 22. Januar 2009 eingelegten Berufung macht die Beklagte geltend, dass der Kläger anhand der ihm vorgelegten Verordnungen keinerlei Angaben zur Krankheitsgeschichte und Diagnose erhalten habe. Er sei deswegen zur Zeit der Abgabe nicht in der Lage gewesen zu beurteilen, ob im Falle der Versicherten ausnahmsweise die Verordnungs- oder Erstattungsfähigkeit von Thalidomid gegeben gewesen wäre und damit als Abgabe gegolten habe. Selbst wenn er die Diagnose gekannt habe, sei er nicht befugt gewesen, Entscheidungen über die Verordnung- und Erstattungsfähigkeit des Arzneimittels zu treffen, da dies allein die Krankenkassen zu prüfen hätten. Für den streitigen Zeitraum von Juli bis Dezember 2005 hätte es an der erforderlichen Genehmigung, die weder beantragt noch erteilt worden sei, gefehlt. Die Genehmigung sei erst am 19. Mai 2006 erteilt worden und entfalte keine Rückwirkung. Inzwischen sei Thalidomid nach § 21 AMG zugelassen worden. Dies sei jedoch für den Rechtsstreit unerheblich. Zwar bestehe eine Pflicht zur Antragstellung im Falle von Sachleistungsansprüchen auf Versorgung mit Arzneimitteln grundsätzlich nicht. Dies gelte jedoch nicht für die Versorgung mit Einzelimportarzneimitteln, die grundsätzlich nicht vom Leistungsanspruch umfasst seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 25. September 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass die Verordnungs- und Erstattungsfähigkeit eine objektive Beurteilung der Sach- und Rechtslage voraussetze und weder durch eine zustimmende Genehmigung noch durch eine ablehnende Entscheidung der Krankenkasse begründet oder beseitigt werde. Die Konkretisierung des Leistungsanspruchs des Versicherten müsse dem Vertragsarzt vorbehalten bleiben. Der Kläger habe sich deswegen keine medizinische Entscheidungsbefugnis angemaßt. Das Leistungsrecht und das Leistungserbringungsrecht seien aber eng verzahnt, denn die Versicherten hätte einen Anspruch auf die Arzneimittelleistung, den Apotheker beliefern müsse. Dass dies im Falle des Klägers so sei, sei auch dem Gutachten des MDK zu entnehmen. Im Übrigen müssten auch die Frage des Off-Label-Use und des Compassionate Use, dem Zulassungsstatus von Thalidomid etc beachtet werden.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass er die Rezepte jeweils von den Beschäftigten der verordnenden Arztpraxis selbst überbracht bekommen habe und das Arzneimittel, welches er nach strengen Vorgaben bestellt, dann an diese ausgehändigt habe, weil die Versicherte aufgrund ihres Gesundheitszustands zur Abholung des Arzneimittels nicht mehr in der Lage gewesen sei. Es habe ein enger Kontakt mit der Arztpraxis bestanden. Er habe die Versicherte auf diese Weise seit 2004 mit Thalidomid versorgt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die nach den §§ 143, 151 Abs 1, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, an den Kläger 20.051,50 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8 % über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass es sich vorliegend um eine allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG handelt, weil sich die Beteiligten in einem Gleichordnungsverhältnis gegenüberstehen, das gleichzeitig eine (einseitig) hoheitliche Regelung der handelnden Behörde durch Verwaltungsakt gegenüber dem Adressaten - und damit eine Klage nach § 54 Abs 4 SGG - ausschließt (BSG Urteil vom 03.08.2006 - B 3 KR 6/06 R - SozR 4 - 2500 § 129 Nr 2). Das Gesetz sieht vielmehr in § 129 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) eine vertragliche Regelung der Beziehungen zwischen Krankenkassen und Apothekern vor.
Der vom Kläger geltend gemachte Vergütungsanspruch für Arzneimittellieferungen an Versicherte der Beklagten (Klageforderung) ist unstreitig gegeben. Die Beklagte stellt nicht in Abrede, dass dieser Zahlungsanspruch besteht bzw bestanden hat. Sie macht geltend, gegen diese Forderung mit einem Rückzahlungsanspruch in Höhe von 20.051,50 EUR (Gegenforderung) wirksam aufgerechnet (retaxiert) zu haben. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Gegenforderung (Rückzahlungsanspruch) besteht nicht.
Das Rückforderungsbegehren der Beklagten basiert auf einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch. Dieses aus den allgemeinen Grundsätzen des öffentlichen Rechts hergeleitete Rechtsinstitut setzt voraus, dass im Rahmen eines öffentlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht oder sonstige rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen vorgenommen worden sind. Zwar ist auch im Zivilrecht nicht ausdrücklich geregelt, wann eine Bereicherung ungerechtfertigt ist, allgemein anerkannt ist jedoch, dass Leistungen zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit, die in Wirklichkeit nicht besteht, grundsätzlich zurückgefordert werden können. Im Arzneimittelrecht bedeutet dies, dass die von der Krankenkasse gezahlten Arzneimittelvergütungen vom Apotheker (wieder) zurückgefordert werden können, wenn zwischen der Apotheke und der gesetzlichen Krankenkasse kein wirksamer Beschaffungsvertrag für das Arzneimittel (hier: Thalidomid) zustande gekommen ist (BSG, Urteil vom 3. August 2006, B 3 KR 6/06 R, SozR 4-2500 § 129 Nr 2).
Da Arzneimittel Bestandteil der Krankenbehandlung und wie diese als Sachleistung zu erbringen sind, müssen die Krankenkassen mit den Apothekern Verträge über die Lieferung von Arzneimitteln an Versicherte schließen (vgl § 2 Abs 2 Satz 3 SGB V). Der Abschluss eines solchen Vertrages kommt idR dadurch zustande, dass ein Vertragsarzt auf dem hierfür vorgesehenen Formblatt das an den Versicherten abzugebende Arzneimittel (unter seiner Wirkstoffbezeichnung, seinem Marken- oder Handelsnamen, nach Rezeptur oder unter generischem Namen oder Freinamen) verordnet, der Versicherte diese Verordnung dem Apotheker übergibt und dieser dem Versicherten das Arzneimittel aushändigt. Der Vertrag verpflichtet die Krankenkasse zur Zahlung des Arzneimittelpreises oder des Festbetrages und den Versicherten ggf zur Zahlung des den Festbetrag übersteigenden Mehrbetrages an den Apotheker (vgl ua BSG, Urteil vom 3. August 2006, aaO). Diese Voraussetzungen für einen Vertragsschluss über die Lieferung des Arzneimittels Thalidomid an die Versicherte zwischen dem Kläger und der Beklagten sind hier unstreitig erfüllt. Ob auf diese Verträge die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) über den Kaufvertrag entsprechend anzuwenden sind, bedarf hier keiner Entscheidung.
Ein wirksamer Beschaffungsvertrag zwischen der Beklagten (Krankenkasse) und dem Kläger (Apotheker) setzt ferner voraus, dass auch die in den gesetzlichen und vertraglichen Regelungen niedergelegten Abgabebestimmungen, zu denen der bundesweit abgeschlossene Rahmenvertrag nach § 129 Abs 2 SGB V und die auf Landesebene geltenden Verträge nach § 129 Abs 5 SGB V gehören, eingehalten wurden (BSG Urteile vom 3. August 2006, aaO; 17. März 2005 - B 3 KR 2/05 R - SozR 4-5570 § 30 Nr 1). Dabei ist zwischen den Beteiligten nur streitig, ob der Kläger gegen § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 des Arzneilieferungsvertrages (ALV in der Fassung vom 01. Juli 2005) verstoßen hat, was aber nach Ansicht des Senats nicht der Fall ist. Die genannte Vertragsbestimmung lautet: "Verordnungen von Produkten gemäß § 73 Absatz 3 Arzneimittelgesetz, es sei denn, der Versicherte legt der Apotheke eine entsprechende Genehmigung der Ersatzkasse vor, dürfen nicht zu Lasten der Ersatzkassen beliefert werden, es sei denn, sie sind bei bestimmten Indikationsstellungen verordnungs- und erstattungsfähig."
Bei dem verordneten Präparat Thalidomid handelt es sich um ein Fertigarzneimittel im Sinne des § 73 Abs 3 Arzneimittelgesetz (AMG). Es war im hier streitbefangenen Zeitraum weder in der EU noch in Deutschland, aber ua in Australien, Israel und der Türkei zur Behandlung des multiplen Myeloms zugelassen. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des MDK vom 22. Mai 2006. § 73 Abs 3 AMG erlaubt die Einfuhr von Fertigarzneimitteln in geringen Mengen und auf Bestellung einzelner Personen im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs, wenn sie in dem Staat in den Verkehr gebracht werden dürfen, aus dem sie nach Deutschland verbracht werden, und von Apotheken bestellt worden sind. Arzneimittelrechtlich muss dabei allgemein gewährleistet sein, dass der Verkauf oder die Verabreichung des Arzneimittels nicht gesetz- und verbotswidrig ist. Bei Vorliegen eines internationalen Abkommens zur Gute-Labor- bzw Gute-Herstellungspraxis kann bei Arzneimitteln, die unter Beachtung dieser Anforderungen arzneimittelrechtlich im ausländischen Staat zugelassen sind, von der Einhaltung des notwendigen Mindeststandards der erforderlichen Produktmittelsicherheit in der Regel ausgegangen werden (BSG, Urteil vom 8. September 2009, B 1 KR 1/09 R, zit nach juris). Diese Voraussetzungen für einen grundsätzlich zulässigen Einzelimport von Thalidomid nach § 73 Abs 3 AMG sind - wie sich wiederum aus dem erwähnten Gutachten des MDK ergibt - ebenfalls erfüllt. Auch die Beklagte zieht dies für den hier streitbefangenen Zeitraum im Jahr 2005 nicht in Zweifel. Sie ist jedoch der Auffassung, dass § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 ALV eine Abgabe des (grundsätzlich importfähigen) Arzneimittels Thalidomid durch den Kläger nur gestattet, wenn dies zuvor von ihr genehmigt worden war. Diese Vertragsauslegung der Beklagten teilt der Senat nicht.
Nach § 19 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) werden die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nur auf Antrag erbracht, soweit sich aus dem SGB V nichts anderes ergibt. Auch im SGB V ist die Frage, ob eine Sachleistung der vorherigen Beantragung und Bewilligung durch die zuständige Krankenkasse bedarf, so geregelt, dass die vorherige Beantragung und Bewilligung der Leistung die Regel und das Absehen hiervon die Ausnahme ist. Ausnahmen vom Regelprinzip der vorherigen Beantragung und Bewilligung durch die Krankenkasse bestehen da, wo Eilbedürftigkeit gegeben ist oder gegeben sein kann (BSG, Urteil vom 24. September 2002, B 3 KR 2/02 R, SozR 3-2500 § 132a Nr 3). Ansonsten muss, falls nichts anderes geregelt ist, der Versicherte die Verordnung bei der Beklagten einreichen und diese darüber entscheiden, ob sie das verordnete Arzneimittel bewilligt (ebenso für Hilfsmittel Beschluss des Senats vom 8. Dezember 2009, L 11 KR 5031/09 ER-B). Maßgebend für die Versorgung mit Arzneimitteln ist zunächst der nach § 129 Abs 2 SGB V auf Bundesebene geschlossene Rahmenvertrag. Danach bedarf es keines vorherigen Antrags des Versicherten. Der Rahmenvertrag sah und sieht eine vorherige Genehmigung einer vertragsärztlichen Verordnung durch die Krankenkasse nicht vor. Deshalb könnte § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 ALV in der von der Beklagten vertretenen Auslegung wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht - den Rahmenvertrag - unwirksam sein. Denn nach § 129 Abs 5 Satz 1 SGB V in der ab 2. April 2004 geltenden Fassung können in den Verträgen auf Landesebene nur ergänzende, nicht aber vom Rahmenvertrag abweichende (anders für einen Sonderfall jetzt § 129 Abs 5 Satz 4 SGB V) oder diesem widersprechende Regelungen getroffen werden. Letztlich kann dieser Gesichtspunkt jedoch dahinstehen.
Der erste Halbsatz des § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 ALV sieht zwar vor, dass Verordnungen von Produkten gemäß § 73 Absatz 3 Arzneimittelgesetz nicht zu Lasten der Ersatzkassen beliefert werden, es sei denn, der Versicherte legt der Apotheke eine entsprechende Genehmigung der Ersatzkasse vor, im zweiten Halbsatz wird aber ausgeführt, dass eine Belieferung (auch) möglich ist, wenn das Produkt bei bestimmten Indikationsstellungen verordnungs- und erstattungsfähig ist. Die Bestimmung kann demzufolge entweder so verstanden werden, dass beide Voraussetzungen vorliegen müssen oder jeweils nur eine Voraussetzung alternativ. Für die letztere Auslegung spricht, dass beide Voraussetzungen mit der Formulierung "es sei denn" eingeleitet werden und die bereits erteilte Genehmigung ohnehin dazu führt, dass das Arzneimittel verordnungs- und erstattungsfähig ist, so dass für die zweite Alternative kein Regelungsgehalt mehr bliebe. § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 ALV gestattet nach Auffassung des Senats die Abgabe von Fertigarzneimitteln iSd § 73 Abs 3 AMG in zwei Fällen: Entweder der Versicherte legt dem Apotheker eine Genehmigung seiner Krankenkasse vor oder das Arzneimittel ist ausnahmsweise bei bestimmten Indikationsstellungen verordnungsfähig. Der erstgenannte Fall hat für den Apotheker den Vorteil, dass er auf keinen Fall eine Retaxierung durch die Krankenkasse befürchten muss, weil bereits eine verbindliche Leistungszusage vorliegt. Im zweiten Fall hängt der Vergütungsanspruch des Apothekers von der Verordnungsfähigkeit des Arzneimittels ab.
Dieses Verständnis des § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 ALV entspricht auch der gesetzlichen Systematik. Denn sowohl im Verhältnis zwischen dem Versicherten und seiner Krankenkasse als auch im Verhältnis zwischen dem Vertragsarzt und der Krankenkasse kann es für die Leistungspflicht der Krankenkasse nur auf die Verordnungsfähigkeit des Arzneimittels, die wiederum in allen Fällen einheitlich bestimmt werden muss, ankommen. So hat das BSG zur Leistungspflicht der Krankenkasse im Verhältnis zum Versicherten (im Rahmen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs 3 SGB V) entschieden, dass ein Vertragsarzt bei einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts in medizinisch begründeten Einzelfällen ausnahmsweise ein Arzneimittel auf Kosten der Krankenkasse verordnen darf, obwohl das Mittel bloß gemäß § 73 Abs 3 AMG im Wege des Einzelimports aus Kanada beschafft werden konnte (BSG, Urteil vom 4. April 2006, B 1 KR 7/05 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 4 - Tomudex -). Auch bei der Festsetzung eines Regresses durch die Prüfgremien bei einem Vertragsarzt wegen der Verordnung eines Arzneimittels mit umstrittener Zulassung (hier: Wobe Mugos E) bedarf es der Prüfung, ob das verordnete, aber nicht zugelassene Arzneimittel aufgrund einer grundrechtsorientierten Auslegung im Einzelfall hätte verordnet werden dürfen (vgl BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 3/08 R, zit nach juris). Dann kann im Verhältnis des Apothekers zur Krankenkasse im Zusammenhang mit einer Retaxierung nichts anderes gelten.
Entscheidend ist daher nur, ob die Verordnungsfähigkeit des Arzneimittels Thalidomid bei der Versicherten im Jahr 2005 vorgelegen hat. Dies ist zu bejahen. Die vom BVerfG zum Anspruch von Versicherten auf ärztliche Behandlung mit nicht allgemein anerkannten Methoden im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98, SozR 4-2500 § 27 Nr 5) entwickelten Grundsätze gelten sinngemäß auch im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln. Dies bedeutet, dass Versicherte in notstandähnlichen Situationen unter engen Voraussetzungen von ihrer Krankkasse die Versorgung mit arzneimittelrechtlich in Deutschland nicht zugelassenen Import-Fertigarzneimitteln beanspruchen können (BSG Urteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 7/05 R - aaO). Die Voraussetzungen hierfür lagen bei der Versicherten unstreitig vor. Sie litt an einer lebensbedrohlichen, tödlich verlaufenden Erkrankung (Plasmozytom mit Metastasen im Bereich des gesamten Knochens und Blutarmut), für die eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stand und bei der eine - auf Indizien gestützte - nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestand. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und ergibt sich auch zur Überzeugung des Senats aus dem vorgelegten Gutachten des MDK vom 22. Mai 2006. Dies hat zur Folge, dass die Versicherte einen Sachleistungsanspruch gegen die Beklagte hatte, denn sie konnte im vertragsärztlichen System aufgrund der ausgestellten Verordnung mit dem Arzneimittel Thalidomid versorgt werden.
Bei der vom Senat für zutreffend erachteten Auslegung des ALV kann offen bleiben, ob der von der Beklagten geltend gemachte Rückforderungsanspruch (Gegenforderung) auch deshalb nicht besteht, weil der von der Beklagten der Versicherten am 19. Mai 2006 erteilten Genehmigung für die Versorgung mit Thalidomid Rückwirkung zukommt. Im Verhältnis zur Versicherten dürfte es sich bei dieser Genehmigung um einen Verwaltungsakt handeln, der zwar mit der in ihm enthaltenen Regelung erst vom Zeitpunkt seiner Bekanntgabe an wirksam wird (§ 39 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X -). Der Verwaltungsakt kann allerdings seine Geltung auch von einem früheren Zeitpunkt an - also rückwirkend - anordnen, denn er wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB X). Zum Inhalt eines Verwaltungsaktes gehört auch die Regelung von dessen zeitlichen Geltungsbereich, der - soweit es das materielle Recht zulässt - vor oder nach seiner Bekanntgabe liegen kann (vgl zum Folgenden BSG Urteil vom 28. März 2007 - B 6 KA 30/06 R - SozR 4 - 2500 § 98 Nr 4). Die Anordnung der Rückwirkung einer behördlichen Genehmigung ist mithin rechtmäßig, soweit sie im materiellen öffentlichen Recht ausdrücklich oder nach dessen Sinn und Zweck zugelassen, beurteilt sich also nach dem Genehmigungserfordernis selbst und den mit ihm im Zusammenhang stehenden Bestimmungen. Die bürgerlich-rechtlichen Bestimmungen in §§ 182 ff BGB über die Auswirkungen einer erforderlichen Zustimmung Dritter zu einem Rechtsgeschäft, insbesondere die in diesem Zusammenhang getroffene Begriffsbildung der - Genehmigung - als nachträgliche und grundsätzlich rückwirkende Zustimmung (§ 184 Abs 1 BGB), sind hierfür ohne Bedeutung (so BSG SozR 4 - 5520 § 24 Nr 2).
Der Genehmigung der Arzneimittelversorgung durch die beklagte Krankenkasse kommt keine Statuswirkung zu, die immer nur Wirkung für die Zukunft entfalten kann. In dem an die Versicherte adressierten Schreiben der Beklagten vom 19. Mai 2006 heißt es ua: "die DAK übernimmt die Kosten für das oben genannte Arzneimittel entsprechend dem geltenden Arzneimittelliefervertrag ( ) bis zum 30.04.2007". Dies kann aus Sicht der Versicherten (zumindest auch) so verstanden werden, dass damit die gesamte bisherige Versorgung jedenfalls bis zum 30. April 2007 genehmigt wird. Die Genehmigung gestattet bei diesem Verständnis eine Versorgung mit Arzneimitteln, die auch schon in der Vergangenheit so praktiziert worden ist und mit einem Leistungsanspruch des Versicherten korrespondiert. Der Senat konnte die Frage der Rückwirkung der Genehmigung gegenüber der Versicherten ebenso aber offen lassen wie die Frage, welche Auswirkungen dies auf den Vergütungsanspruch des Klägers hat, weil Thalidomid bei der Versicherten aufgrund der Indikationsstellung auch bereits in der streitbefangenen Zeit verordnungs- und erstattungsfähig war.
Das SG hat damit der Klage zu Recht stattgegeben.
Der Zinsanspruch beruht auf §§ 286, 188 BGB (BSG Urteil vom 3. August 2006 - B 3 KR 7/06 R - SozR 4 - 2500 § 129 Nr 3).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 SGG iVm §§ 63 Abs 2, 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 Gerichtskostengesetz (GKG).
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 20.051,50 EUR festgesetzt.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte zu Recht die bereits gezahlte Vergütung für das von Juli bis Dezember 2005 an die Versicherte (G. N.) gegebene Arzneimittel Thalidomid in Höhe von 20.051,50 EUR mangels vorheriger Genehmigung durch die Beklagte zurückgefordert und gegen unstreitige Vergütungsforderungen des Klägers aus späteren Arzneimittelabgaben aufgerechnet hat (Retaxierung).
Der Kläger ist Apotheker sowie Mitglied des Apothekerverbandes Baden-Württemberg e.V. und beliefert auch Versicherte der Beklagten. In der Zeit von Juli bis Dezember 2005 gab er an die am 13. Mai 1936 geborene und am 29. Mai 2007 verstorbene Versicherte nach Vorlage vertragsärztlicher Rezepte der behandelnden Internistin Dr. E. (Bl. 2, 4, 9, 10, 18, 19 V-Akte) das zum damaligen Zeitpunkt nicht zugelassene Arzneimittel Thalidomid ab. Dafür erhielt er von der Beklagten den Abgabepreis in Höhe von insgesamt 20.051,50 EUR. Die Versicherte litt an einem multiplen Myelom (Knochenmarkstyp IgG-Kappa Stadium III b) mit Metastasen im Bereich des gesamten Knochens und Blutarmut. Dabei handelt es sich um eine besonders aggressive Form von Knochenmarkkrebs. Diese lebensbedrohliche Krankheit galt jedenfalls im Jahr 2005 bis auf wenige Ausnahmen als unheilbar.
Thalidomid war bis 1961 unter der Produktbezeichnung Contergan® als Schlafmittel zugelassen. Die Substanz wirkt beim Menschen hochgradig teratogen (fruchtschädigend). In den 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre wurde Contergan® ua von schwangeren Frauen als Seditativum (Beruhigungsmittel) sowie gegen Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft eingenommen. In Folge der fruchtschädigenden Wirkung wurden Tausende Kinder mit schwerwiegenden, durch Thalidomid verursachten Fehlbildungen geboren. Später zeigte sich, dass die Substanz Thalidomid bei der Behandlung des mutliplen Myeloms wirksam ist. In Australien und den USA erfolgte eine Zulassung für Thalidomid zur Behandlung von Patienten mit multiplem Myelom in den Jahren 2003 bzw 2006, in Deutschland wie in den übrigen Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) erst im Jahr 2008. In der Zulassungsentscheidung der Europäischen Kommission wurden die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, in ihrem nationalen Zuständigkeitsbereich die Einhaltung entsprechender Auflagen für ein Sicherheitskonzept sicherzustellen. Aufgrund einer Änderung der Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) vom 21. Dezember 2005 (BGBl I S 3632) durch Art 1 der Verordnung vom 2. Dezember 2008 (BGBl I S 2338), bei der mit Wirkung vom 8. Februar 2009 § 3a AMVV eingefügt worden ist, dürfen Arzneimittel, welche den Wirkstoff Thalidomid enthalten, nur noch auf ein Sonderrezept gemäß einem Vordruck des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte abgegeben werden. Die Zulassung von Thalidomid gilt für die Erstlinienbehandlung von Personen mit unbehandeltem multiplem Myelom ab einem Alter von ³ 65 Jahren bzw von Patienten, für die eine hochdosierte Chemotherapie nicht in Frage kommt.
Die Beklagte beanstandete die Arzneimittelabgaben des Klägers mit Schreiben vom 5. Mai 2006, 16. Juni 2006, 4. August 2006 und 29. September 2006 mit der Begründung, diese seien entgegen § 4 Abs 5 Satz 2 Ziffer 8 Arzneimittellieferungsvertrag (ALV) in der Fassung ab 1. Juli 2005 erfolgt, ohne dass die Versicherte die bei Einzelimporten erforderliche Genehmigung der Kasse vorgelegt habe. Eine nachträgliche Genehmigung, die der Versicherten mit Schreiben vom 19. Mai 2006 erteilt worden sei (Kostenübernahme zunächst bis zum 30. April 2007), könne für bereits belieferte Verordnungen nicht akzeptiert werden.
In dem nach Aktenlage erstellten Gutachten vom 22. Mai 2006 führte Dr. B. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) aus, das zugelassene Präparat Bortezomlb sei nicht bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion untersucht worden. Deswegen komme dieses Medikament in Anbetracht der Vorschädigung und der bisher nicht erfolgten Reversibilität dieser Störung nicht in Frage. Die Erkrankung der Versicherten sei schwerwiegend und führe unbehandelt in kürzester Zeit zum Tode, zumindest bei dem hier gegebenen Stadium. Deswegen könne Thalidomid im Rahmen seiner ausländischen Zulassung grundsätzlich angewandt werden. Die ausländischen Zulassungen, die in Australien, Neuseeland, Israel und der Türkei bestünden, hätten, zumindest was die ersten drei genannten Länder anginge, auch einen entsprechend hohen Zulassungsstandard im Sinne der Rechtsprechung. Die Behandlung mit Thalidomid werde weltweit diskutiert und stelle auch weltweit bis zu einem gewissen Grad eine Standardbehandlung dar. Die Dosierung erfolge mit 400 mg nicht im typischen Erhaltungstherapiebereich, auch wenn sie bereits seit einem Jahr so laufe. Man könne die Kostenübernahme für das Importarzneimittel Thalidomid so lange positiv bewerten, bis eventuell eine Zulassung auch eines Analogons, insbesondere des Revlimids, erfolge.
Die behandelnde Ärztin Dr. E. führte mit Schreiben vom 8. September 2006 aus, dass bei der Versicherten das Plasmozytom mit Metastasen im Bereich des gesamten Knochens und Blutarmut vor über drei Jahren festgestellt worden sei. Man habe die Versicherte mit verschiedenen Chemotherapien fortschreitend behandeln und zwischendurch auch am Rücken bestrahlen müssen. Seit der Behandlung mit Thalidomid vor einem Jahr, ursprünglich mit 400, aktuell mit 100 mg pro die, zeige sich eine deutliche Stabilisierung, die allerdings weit von einer kompletten Rückbildung entfernt sei. Als Nebenwirkung sei ein ausgeprägter Schwindel aufgetreten. Die Indikation sei aus hämatologischer Sicht absolut eindeutig.
Mit seinen Einsprüchen machte der Kläger geltend, das Erfordernis einer Genehmigung von Arzneimittelverordnungen durch die Krankenkassen verstoße gegen § 29 Abs 1 des Bundesmantelvertrages der Ärzte (BMV-Ä) und § 15 Abs 1 Arzt-/Ersatzkassenvertrag (EKV) sowie § 17 Abs 4 Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) und stehe auch im Widerspruch zu der Aufgabenverteilung zwischen Arzt und Apotheker im Versorgungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung. Außerdem stellten Einzelimporte nach § 73 Abs 3 des Arzneimittelgesetzes (AMG) entgegen zwischenzeitlich überholter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) keineswegs generell unzulässige Leistungen dar. Er sei daher seinen apothekenrechtlichen Verpflichtungen in jeder Hinsicht korrekt nachgekommen und sei nicht berechtigt gewesen, die Thalidomid-Rezepte zurückzuweisen. Dies gelte umso mehr, als es sich um überlebensnotwendige Arzneimitteltherapien für die Patienten gehandelt habe.
Nachdem seine Einsprüche ohne Erfolg geblieben waren, hat der Kläger am 5. Dezember 2006 Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben. Zu deren Begründung hat er ergänzend vorgetragen, einer vorherigen Genehmigung habe es deswegen nicht bedurft, weil die Voraussetzungen des § 4 Abs 5 Nr 8 2. Alternative ALV erfüllt gewesen seien. Aufgrund der tödlichen Krebserkrankung und mangelnden Therapiealternativen habe die Versicherte einen Anspruch auf Thalidomid als Sachleistung gehabt. Eine rechtzeitige Versorgung mit dem Arzneimittel sei im Falle des Erfordernisses vorheriger Genehmigung nicht gewährleistet gewesen. Die streitgegenständliche Norm des ALV stelle eine vertragliche Regelung zu Lasten Dritter, nämlich des therapiebedürftigen Patienten dar. Ein Apotheker sei keine Überwachungsstelle für den Vertragsarzt.
Die Beklagte ist der Klage mit der Begründung entgegen getreten, Thalidomid sei nur ausnahmsweise verordnungs- und erstattungsfähig gewesen. Da der Apotheker weder in der Lage noch berechtigt sei, eine Entscheidung über die ausnahmsweise Erstattungsfähigkeit zu treffen, da er weder Mediziner sei noch über die ausreichenden Informationen über die Krankengeschichte verfüge, müsse es bei dem Erfordernis der vorherigen Genehmigung durch die Kasse verbleiben.
Mit Urteil vom 25. September 2008, der Beklagten zugestellt am 29. Dezember 2008, hat das SG die Beklagte verurteilt, an den Kläger 20.051,50 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8 % über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, von einer rechtsgrundlosen Vermögensverschiebung im Sinne des Arzneimittelrechts könne im Falle des Klägers nicht ausgegangen werden. Vielmehr sei ein wirksamer Kaufvertrag zwischen Apotheke und Krankenkasse zustande gekommen. Dem Kläger stehe deswegen ein Vergütungsanspruch zu. Dass die bei Einzelimporten erforderliche Genehmigung bei Einlösung der Rezepte nicht vorgelegen habe, stehe dem nicht entgegen. Zwar stünden die jeweiligen Kaufvertragsangebote, die durch Versicherte mit Überreichung der vertragsärztlichen Verordnung dem Apotheker übermittelt würden, nach der Rechtsprechung generell unter dem Vorbehalt bzw der Bedingung der Einhaltung der im ALV niedergelegten Abgabebestimmungen. Für die Abgabe von Importarzneimitteln bedeute dies, dass ein Kaufvertrag grundsätzlich nicht zustande komme, wenn der Versicherte der Apotheke keine Genehmigung der Ersatzkasse vorlege. Dies gelte jedoch nicht uneingeschränkt. Einer Genehmigung bedürfe es dann nicht, wenn die Arzneimittel bei bestimmten Indikationsstellungen verordnungs- und erstattungsfähig seien. Dies treffe auf das Arzneimittel Thalidomid zu, sofern dies, wie im Falle der Versicherten, zur Behandlung multipler Myelome eingesetzt werden solle. Dies bestreite auch die Beklagte inzwischen nicht mehr.
Mit ihrer dagegen am 22. Januar 2009 eingelegten Berufung macht die Beklagte geltend, dass der Kläger anhand der ihm vorgelegten Verordnungen keinerlei Angaben zur Krankheitsgeschichte und Diagnose erhalten habe. Er sei deswegen zur Zeit der Abgabe nicht in der Lage gewesen zu beurteilen, ob im Falle der Versicherten ausnahmsweise die Verordnungs- oder Erstattungsfähigkeit von Thalidomid gegeben gewesen wäre und damit als Abgabe gegolten habe. Selbst wenn er die Diagnose gekannt habe, sei er nicht befugt gewesen, Entscheidungen über die Verordnung- und Erstattungsfähigkeit des Arzneimittels zu treffen, da dies allein die Krankenkassen zu prüfen hätten. Für den streitigen Zeitraum von Juli bis Dezember 2005 hätte es an der erforderlichen Genehmigung, die weder beantragt noch erteilt worden sei, gefehlt. Die Genehmigung sei erst am 19. Mai 2006 erteilt worden und entfalte keine Rückwirkung. Inzwischen sei Thalidomid nach § 21 AMG zugelassen worden. Dies sei jedoch für den Rechtsstreit unerheblich. Zwar bestehe eine Pflicht zur Antragstellung im Falle von Sachleistungsansprüchen auf Versorgung mit Arzneimitteln grundsätzlich nicht. Dies gelte jedoch nicht für die Versorgung mit Einzelimportarzneimitteln, die grundsätzlich nicht vom Leistungsanspruch umfasst seien.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 25. September 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass die Verordnungs- und Erstattungsfähigkeit eine objektive Beurteilung der Sach- und Rechtslage voraussetze und weder durch eine zustimmende Genehmigung noch durch eine ablehnende Entscheidung der Krankenkasse begründet oder beseitigt werde. Die Konkretisierung des Leistungsanspruchs des Versicherten müsse dem Vertragsarzt vorbehalten bleiben. Der Kläger habe sich deswegen keine medizinische Entscheidungsbefugnis angemaßt. Das Leistungsrecht und das Leistungserbringungsrecht seien aber eng verzahnt, denn die Versicherten hätte einen Anspruch auf die Arzneimittelleistung, den Apotheker beliefern müsse. Dass dies im Falle des Klägers so sei, sei auch dem Gutachten des MDK zu entnehmen. Im Übrigen müssten auch die Frage des Off-Label-Use und des Compassionate Use, dem Zulassungsstatus von Thalidomid etc beachtet werden.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass er die Rezepte jeweils von den Beschäftigten der verordnenden Arztpraxis selbst überbracht bekommen habe und das Arzneimittel, welches er nach strengen Vorgaben bestellt, dann an diese ausgehändigt habe, weil die Versicherte aufgrund ihres Gesundheitszustands zur Abholung des Arzneimittels nicht mehr in der Lage gewesen sei. Es habe ein enger Kontakt mit der Arztpraxis bestanden. Er habe die Versicherte auf diese Weise seit 2004 mit Thalidomid versorgt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die nach den §§ 143, 151 Abs 1, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, an den Kläger 20.051,50 EUR nebst Zinsen in Höhe von 8 % über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass es sich vorliegend um eine allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG handelt, weil sich die Beteiligten in einem Gleichordnungsverhältnis gegenüberstehen, das gleichzeitig eine (einseitig) hoheitliche Regelung der handelnden Behörde durch Verwaltungsakt gegenüber dem Adressaten - und damit eine Klage nach § 54 Abs 4 SGG - ausschließt (BSG Urteil vom 03.08.2006 - B 3 KR 6/06 R - SozR 4 - 2500 § 129 Nr 2). Das Gesetz sieht vielmehr in § 129 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) eine vertragliche Regelung der Beziehungen zwischen Krankenkassen und Apothekern vor.
Der vom Kläger geltend gemachte Vergütungsanspruch für Arzneimittellieferungen an Versicherte der Beklagten (Klageforderung) ist unstreitig gegeben. Die Beklagte stellt nicht in Abrede, dass dieser Zahlungsanspruch besteht bzw bestanden hat. Sie macht geltend, gegen diese Forderung mit einem Rückzahlungsanspruch in Höhe von 20.051,50 EUR (Gegenforderung) wirksam aufgerechnet (retaxiert) zu haben. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Gegenforderung (Rückzahlungsanspruch) besteht nicht.
Das Rückforderungsbegehren der Beklagten basiert auf einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch. Dieses aus den allgemeinen Grundsätzen des öffentlichen Rechts hergeleitete Rechtsinstitut setzt voraus, dass im Rahmen eines öffentlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht oder sonstige rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen vorgenommen worden sind. Zwar ist auch im Zivilrecht nicht ausdrücklich geregelt, wann eine Bereicherung ungerechtfertigt ist, allgemein anerkannt ist jedoch, dass Leistungen zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit, die in Wirklichkeit nicht besteht, grundsätzlich zurückgefordert werden können. Im Arzneimittelrecht bedeutet dies, dass die von der Krankenkasse gezahlten Arzneimittelvergütungen vom Apotheker (wieder) zurückgefordert werden können, wenn zwischen der Apotheke und der gesetzlichen Krankenkasse kein wirksamer Beschaffungsvertrag für das Arzneimittel (hier: Thalidomid) zustande gekommen ist (BSG, Urteil vom 3. August 2006, B 3 KR 6/06 R, SozR 4-2500 § 129 Nr 2).
Da Arzneimittel Bestandteil der Krankenbehandlung und wie diese als Sachleistung zu erbringen sind, müssen die Krankenkassen mit den Apothekern Verträge über die Lieferung von Arzneimitteln an Versicherte schließen (vgl § 2 Abs 2 Satz 3 SGB V). Der Abschluss eines solchen Vertrages kommt idR dadurch zustande, dass ein Vertragsarzt auf dem hierfür vorgesehenen Formblatt das an den Versicherten abzugebende Arzneimittel (unter seiner Wirkstoffbezeichnung, seinem Marken- oder Handelsnamen, nach Rezeptur oder unter generischem Namen oder Freinamen) verordnet, der Versicherte diese Verordnung dem Apotheker übergibt und dieser dem Versicherten das Arzneimittel aushändigt. Der Vertrag verpflichtet die Krankenkasse zur Zahlung des Arzneimittelpreises oder des Festbetrages und den Versicherten ggf zur Zahlung des den Festbetrag übersteigenden Mehrbetrages an den Apotheker (vgl ua BSG, Urteil vom 3. August 2006, aaO). Diese Voraussetzungen für einen Vertragsschluss über die Lieferung des Arzneimittels Thalidomid an die Versicherte zwischen dem Kläger und der Beklagten sind hier unstreitig erfüllt. Ob auf diese Verträge die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) über den Kaufvertrag entsprechend anzuwenden sind, bedarf hier keiner Entscheidung.
Ein wirksamer Beschaffungsvertrag zwischen der Beklagten (Krankenkasse) und dem Kläger (Apotheker) setzt ferner voraus, dass auch die in den gesetzlichen und vertraglichen Regelungen niedergelegten Abgabebestimmungen, zu denen der bundesweit abgeschlossene Rahmenvertrag nach § 129 Abs 2 SGB V und die auf Landesebene geltenden Verträge nach § 129 Abs 5 SGB V gehören, eingehalten wurden (BSG Urteile vom 3. August 2006, aaO; 17. März 2005 - B 3 KR 2/05 R - SozR 4-5570 § 30 Nr 1). Dabei ist zwischen den Beteiligten nur streitig, ob der Kläger gegen § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 des Arzneilieferungsvertrages (ALV in der Fassung vom 01. Juli 2005) verstoßen hat, was aber nach Ansicht des Senats nicht der Fall ist. Die genannte Vertragsbestimmung lautet: "Verordnungen von Produkten gemäß § 73 Absatz 3 Arzneimittelgesetz, es sei denn, der Versicherte legt der Apotheke eine entsprechende Genehmigung der Ersatzkasse vor, dürfen nicht zu Lasten der Ersatzkassen beliefert werden, es sei denn, sie sind bei bestimmten Indikationsstellungen verordnungs- und erstattungsfähig."
Bei dem verordneten Präparat Thalidomid handelt es sich um ein Fertigarzneimittel im Sinne des § 73 Abs 3 Arzneimittelgesetz (AMG). Es war im hier streitbefangenen Zeitraum weder in der EU noch in Deutschland, aber ua in Australien, Israel und der Türkei zur Behandlung des multiplen Myeloms zugelassen. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des MDK vom 22. Mai 2006. § 73 Abs 3 AMG erlaubt die Einfuhr von Fertigarzneimitteln in geringen Mengen und auf Bestellung einzelner Personen im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs, wenn sie in dem Staat in den Verkehr gebracht werden dürfen, aus dem sie nach Deutschland verbracht werden, und von Apotheken bestellt worden sind. Arzneimittelrechtlich muss dabei allgemein gewährleistet sein, dass der Verkauf oder die Verabreichung des Arzneimittels nicht gesetz- und verbotswidrig ist. Bei Vorliegen eines internationalen Abkommens zur Gute-Labor- bzw Gute-Herstellungspraxis kann bei Arzneimitteln, die unter Beachtung dieser Anforderungen arzneimittelrechtlich im ausländischen Staat zugelassen sind, von der Einhaltung des notwendigen Mindeststandards der erforderlichen Produktmittelsicherheit in der Regel ausgegangen werden (BSG, Urteil vom 8. September 2009, B 1 KR 1/09 R, zit nach juris). Diese Voraussetzungen für einen grundsätzlich zulässigen Einzelimport von Thalidomid nach § 73 Abs 3 AMG sind - wie sich wiederum aus dem erwähnten Gutachten des MDK ergibt - ebenfalls erfüllt. Auch die Beklagte zieht dies für den hier streitbefangenen Zeitraum im Jahr 2005 nicht in Zweifel. Sie ist jedoch der Auffassung, dass § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 ALV eine Abgabe des (grundsätzlich importfähigen) Arzneimittels Thalidomid durch den Kläger nur gestattet, wenn dies zuvor von ihr genehmigt worden war. Diese Vertragsauslegung der Beklagten teilt der Senat nicht.
Nach § 19 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) werden die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nur auf Antrag erbracht, soweit sich aus dem SGB V nichts anderes ergibt. Auch im SGB V ist die Frage, ob eine Sachleistung der vorherigen Beantragung und Bewilligung durch die zuständige Krankenkasse bedarf, so geregelt, dass die vorherige Beantragung und Bewilligung der Leistung die Regel und das Absehen hiervon die Ausnahme ist. Ausnahmen vom Regelprinzip der vorherigen Beantragung und Bewilligung durch die Krankenkasse bestehen da, wo Eilbedürftigkeit gegeben ist oder gegeben sein kann (BSG, Urteil vom 24. September 2002, B 3 KR 2/02 R, SozR 3-2500 § 132a Nr 3). Ansonsten muss, falls nichts anderes geregelt ist, der Versicherte die Verordnung bei der Beklagten einreichen und diese darüber entscheiden, ob sie das verordnete Arzneimittel bewilligt (ebenso für Hilfsmittel Beschluss des Senats vom 8. Dezember 2009, L 11 KR 5031/09 ER-B). Maßgebend für die Versorgung mit Arzneimitteln ist zunächst der nach § 129 Abs 2 SGB V auf Bundesebene geschlossene Rahmenvertrag. Danach bedarf es keines vorherigen Antrags des Versicherten. Der Rahmenvertrag sah und sieht eine vorherige Genehmigung einer vertragsärztlichen Verordnung durch die Krankenkasse nicht vor. Deshalb könnte § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 ALV in der von der Beklagten vertretenen Auslegung wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht - den Rahmenvertrag - unwirksam sein. Denn nach § 129 Abs 5 Satz 1 SGB V in der ab 2. April 2004 geltenden Fassung können in den Verträgen auf Landesebene nur ergänzende, nicht aber vom Rahmenvertrag abweichende (anders für einen Sonderfall jetzt § 129 Abs 5 Satz 4 SGB V) oder diesem widersprechende Regelungen getroffen werden. Letztlich kann dieser Gesichtspunkt jedoch dahinstehen.
Der erste Halbsatz des § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 ALV sieht zwar vor, dass Verordnungen von Produkten gemäß § 73 Absatz 3 Arzneimittelgesetz nicht zu Lasten der Ersatzkassen beliefert werden, es sei denn, der Versicherte legt der Apotheke eine entsprechende Genehmigung der Ersatzkasse vor, im zweiten Halbsatz wird aber ausgeführt, dass eine Belieferung (auch) möglich ist, wenn das Produkt bei bestimmten Indikationsstellungen verordnungs- und erstattungsfähig ist. Die Bestimmung kann demzufolge entweder so verstanden werden, dass beide Voraussetzungen vorliegen müssen oder jeweils nur eine Voraussetzung alternativ. Für die letztere Auslegung spricht, dass beide Voraussetzungen mit der Formulierung "es sei denn" eingeleitet werden und die bereits erteilte Genehmigung ohnehin dazu führt, dass das Arzneimittel verordnungs- und erstattungsfähig ist, so dass für die zweite Alternative kein Regelungsgehalt mehr bliebe. § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 ALV gestattet nach Auffassung des Senats die Abgabe von Fertigarzneimitteln iSd § 73 Abs 3 AMG in zwei Fällen: Entweder der Versicherte legt dem Apotheker eine Genehmigung seiner Krankenkasse vor oder das Arzneimittel ist ausnahmsweise bei bestimmten Indikationsstellungen verordnungsfähig. Der erstgenannte Fall hat für den Apotheker den Vorteil, dass er auf keinen Fall eine Retaxierung durch die Krankenkasse befürchten muss, weil bereits eine verbindliche Leistungszusage vorliegt. Im zweiten Fall hängt der Vergütungsanspruch des Apothekers von der Verordnungsfähigkeit des Arzneimittels ab.
Dieses Verständnis des § 4 Abs 5 Satz 2 Nr 8 ALV entspricht auch der gesetzlichen Systematik. Denn sowohl im Verhältnis zwischen dem Versicherten und seiner Krankenkasse als auch im Verhältnis zwischen dem Vertragsarzt und der Krankenkasse kann es für die Leistungspflicht der Krankenkasse nur auf die Verordnungsfähigkeit des Arzneimittels, die wiederum in allen Fällen einheitlich bestimmt werden muss, ankommen. So hat das BSG zur Leistungspflicht der Krankenkasse im Verhältnis zum Versicherten (im Rahmen eines Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs 3 SGB V) entschieden, dass ein Vertragsarzt bei einer grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts in medizinisch begründeten Einzelfällen ausnahmsweise ein Arzneimittel auf Kosten der Krankenkasse verordnen darf, obwohl das Mittel bloß gemäß § 73 Abs 3 AMG im Wege des Einzelimports aus Kanada beschafft werden konnte (BSG, Urteil vom 4. April 2006, B 1 KR 7/05 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 4 - Tomudex -). Auch bei der Festsetzung eines Regresses durch die Prüfgremien bei einem Vertragsarzt wegen der Verordnung eines Arzneimittels mit umstrittener Zulassung (hier: Wobe Mugos E) bedarf es der Prüfung, ob das verordnete, aber nicht zugelassene Arzneimittel aufgrund einer grundrechtsorientierten Auslegung im Einzelfall hätte verordnet werden dürfen (vgl BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 3/08 R, zit nach juris). Dann kann im Verhältnis des Apothekers zur Krankenkasse im Zusammenhang mit einer Retaxierung nichts anderes gelten.
Entscheidend ist daher nur, ob die Verordnungsfähigkeit des Arzneimittels Thalidomid bei der Versicherten im Jahr 2005 vorgelegen hat. Dies ist zu bejahen. Die vom BVerfG zum Anspruch von Versicherten auf ärztliche Behandlung mit nicht allgemein anerkannten Methoden im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98, SozR 4-2500 § 27 Nr 5) entwickelten Grundsätze gelten sinngemäß auch im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln. Dies bedeutet, dass Versicherte in notstandähnlichen Situationen unter engen Voraussetzungen von ihrer Krankkasse die Versorgung mit arzneimittelrechtlich in Deutschland nicht zugelassenen Import-Fertigarzneimitteln beanspruchen können (BSG Urteil vom 4. April 2006 - B 1 KR 7/05 R - aaO). Die Voraussetzungen hierfür lagen bei der Versicherten unstreitig vor. Sie litt an einer lebensbedrohlichen, tödlich verlaufenden Erkrankung (Plasmozytom mit Metastasen im Bereich des gesamten Knochens und Blutarmut), für die eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung stand und bei der eine - auf Indizien gestützte - nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestand. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und ergibt sich auch zur Überzeugung des Senats aus dem vorgelegten Gutachten des MDK vom 22. Mai 2006. Dies hat zur Folge, dass die Versicherte einen Sachleistungsanspruch gegen die Beklagte hatte, denn sie konnte im vertragsärztlichen System aufgrund der ausgestellten Verordnung mit dem Arzneimittel Thalidomid versorgt werden.
Bei der vom Senat für zutreffend erachteten Auslegung des ALV kann offen bleiben, ob der von der Beklagten geltend gemachte Rückforderungsanspruch (Gegenforderung) auch deshalb nicht besteht, weil der von der Beklagten der Versicherten am 19. Mai 2006 erteilten Genehmigung für die Versorgung mit Thalidomid Rückwirkung zukommt. Im Verhältnis zur Versicherten dürfte es sich bei dieser Genehmigung um einen Verwaltungsakt handeln, der zwar mit der in ihm enthaltenen Regelung erst vom Zeitpunkt seiner Bekanntgabe an wirksam wird (§ 39 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X -). Der Verwaltungsakt kann allerdings seine Geltung auch von einem früheren Zeitpunkt an - also rückwirkend - anordnen, denn er wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekannt gegeben wird (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB X). Zum Inhalt eines Verwaltungsaktes gehört auch die Regelung von dessen zeitlichen Geltungsbereich, der - soweit es das materielle Recht zulässt - vor oder nach seiner Bekanntgabe liegen kann (vgl zum Folgenden BSG Urteil vom 28. März 2007 - B 6 KA 30/06 R - SozR 4 - 2500 § 98 Nr 4). Die Anordnung der Rückwirkung einer behördlichen Genehmigung ist mithin rechtmäßig, soweit sie im materiellen öffentlichen Recht ausdrücklich oder nach dessen Sinn und Zweck zugelassen, beurteilt sich also nach dem Genehmigungserfordernis selbst und den mit ihm im Zusammenhang stehenden Bestimmungen. Die bürgerlich-rechtlichen Bestimmungen in §§ 182 ff BGB über die Auswirkungen einer erforderlichen Zustimmung Dritter zu einem Rechtsgeschäft, insbesondere die in diesem Zusammenhang getroffene Begriffsbildung der - Genehmigung - als nachträgliche und grundsätzlich rückwirkende Zustimmung (§ 184 Abs 1 BGB), sind hierfür ohne Bedeutung (so BSG SozR 4 - 5520 § 24 Nr 2).
Der Genehmigung der Arzneimittelversorgung durch die beklagte Krankenkasse kommt keine Statuswirkung zu, die immer nur Wirkung für die Zukunft entfalten kann. In dem an die Versicherte adressierten Schreiben der Beklagten vom 19. Mai 2006 heißt es ua: "die DAK übernimmt die Kosten für das oben genannte Arzneimittel entsprechend dem geltenden Arzneimittelliefervertrag ( ) bis zum 30.04.2007". Dies kann aus Sicht der Versicherten (zumindest auch) so verstanden werden, dass damit die gesamte bisherige Versorgung jedenfalls bis zum 30. April 2007 genehmigt wird. Die Genehmigung gestattet bei diesem Verständnis eine Versorgung mit Arzneimitteln, die auch schon in der Vergangenheit so praktiziert worden ist und mit einem Leistungsanspruch des Versicherten korrespondiert. Der Senat konnte die Frage der Rückwirkung der Genehmigung gegenüber der Versicherten ebenso aber offen lassen wie die Frage, welche Auswirkungen dies auf den Vergütungsanspruch des Klägers hat, weil Thalidomid bei der Versicherten aufgrund der Indikationsstellung auch bereits in der streitbefangenen Zeit verordnungs- und erstattungsfähig war.
Das SG hat damit der Klage zu Recht stattgegeben.
Der Zinsanspruch beruht auf §§ 286, 188 BGB (BSG Urteil vom 3. August 2006 - B 3 KR 7/06 R - SozR 4 - 2500 § 129 Nr 3).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 SGG iVm §§ 63 Abs 2, 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 Gerichtskostengesetz (GKG).
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.
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