L 12 AS 918/10 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 4 AS 481/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 918/10 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin zu 2) wird der Beschluss des SG Mannheim vom 18.02.2010 abgeändert und die Antragsgegnerin verpflichtet ihr vorläufig Leistungen nach dem SGB II vom 9.2.2010 bis 23.03.2010 zu gewähren.

Die darüberhinausgehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegnerin trägt die Kosten beider Rechtszüge.

Gründe:

I.

Der 1984 geborene Antragsteller Ziffer 1) ist in Brasilien geboren, besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und ist im Dezember 2009 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Am 28.12.2009 beantragte er für sich und seine brasilianische Ehefrau - die Antragstellerin Ziffer 2) - bei der Antragsgegnerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Der Antragstellerin Ziffer 2) wurde am 30.12.2009 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) dahingehend erteilt, dass eine Erwerbstätigkeit uneingeschränkt gestattet ist. Beide Antragsteller leben im Haushalt der Mutter und des Stiefvaters des Antragstellers Ziffer 1) mietfrei. Durch Bescheid vom 13.1.2010 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller Ziffer 1) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom 28.12.2009 bis 31.5.2010 in Höhe von monatlich 336,73 EUR. Am 9.2.2010 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Mannheim (SG) Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt. Sie machen geltend, der Bescheid vom 13.1.2010 sei insoweit rechtswidrig, als die Antragstellerin Ziffer 2) nicht als Leistungsempfängerin mit aufgenommen worden sei. Aufgrund der Bildung einer Bedarfsgemeinschaft sei § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr.1 Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) nicht anwendbar. Diese Vorschrift sei lediglich auf einzelne Personen, die in die Bundesrepublik einreisen und ausländische Staatsbürger seien, anwendbar. Die Antragsteller bildeten aber eine Bedarfsgemeinschaft, daher sei die Antragstellerin Ziffer 2) in die Bedarfsberechnung mit aufzunehmen. Der Antragsteller Ziffer 1) sei deutscher Staats¬bürger und somit anspruchsberechtigt, was hier ebenfalls für die Antragstellerin Ziffer 2 anspruchsauslösend und begründend wirke. Mit Beschluss vom 18.02.2010 wies das SG den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung scheitere bereits an einem Anordnungsanspruch. Eine Leistungsgewährung sei für die Antragstellerin Ziffer 2 vor dem 24.3.2010 rechtlich nicht möglich. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch 2. Buch (SGB II) seien von der Leistung ausgenommen Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes-EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten 3 Monate ihres Aufenthaltes. Außerdem Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe und ihre Familienangehörigen sowie Leistungsberechtigte nach §1des Asylbewerberleistungsgesetzes. Die Antragstellerin Ziffer 2) sei Ausländerin in diesem Sinne, da sie - bisher - noch nicht Deutsche im Sinne des Artikel 116 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sei. Sie sei auch in der Bundesrepublik Deutschland weder Arbeitnehmerin noch Selbstständige, sondern gemeinsam mit dem Antragsteller Ziffer 1) in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, da sich dieser um Arbeit bemühen möchte. Die Antragstellerin Ziffer 2 unterliege auch nicht den Vergünstigungen des Freizügigkeitsgesetzes-EU. Der Ausnahmetatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 3 SGB II greife nicht zugunsten der Antragstellerin Ziffer 2 ein. Dies würde voraussetzen, dass sie sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten würde. Diese Bestimmungen beträfen aber den Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen. Der Antragstellerin Ziffer 2 sei aber ausdrücklich eine Aufenthaltserlaubnis wegen Familiennachzug nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Ziffer 1 AufenthG eingeräumt worden. Diese Regelung befinde sich in Kapitel 2 Abschnitt 6 AufenthG. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II werde nicht dadurch aufgehoben, dass die Antragsteller eine Bedarfsge¬meinschaft bildeten. Dafür biete § 7 SGB II keinerlei Anhaltspunkte. Dies würde auch dem Prinzip des individuellen Leistungsanspruches nach dem SGB II widersprechen, wonach jeder in einer Bedarfsgemeinschaft Lebende einen eigenen Rechtsanspruch erwerbe und deshalb auch die Leistungsvoraussetzungen in seiner Person vollständig erfüllen müsse. Der Antragstellerin Ziffer 2 stehe deshalb - wie von der Antragsgegnerin zutreffend festgestellt - erst nach Ablauf der 3-Monats-Frist ein Leistungsanspruch zu.

Gegen diesen Beschluss haben die Antragsteller beim LSG Baden-Württemberg Beschwerde eingelegt.

II.

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin zu 2) ist begründet. Die zulässige Beschwerde des Antragstellers zu 1) ist unbegründet.

Der Antrag der Antragstellerin zu 2) hat hinreichende Erfolgsaussicht geboten. Sie hat die Verpflichtung der Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtschutzes zur vorläufigen Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab 9.2.2010 bis 23.03.2010 begehrt. Zwar ist ein Anordnungsgrund hinsichtlich der Gewährung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vor der Antragstellung bei Gericht nicht gegeben, da in der Regel kein Anordnungsgrund bei Geldleistungen für die Vergangenheit besteht. Hinsichtlich des Zeitraums ab dem 9.02.2010 bis 23.03.2010 besteht jedoch eine hinreichende Erfolgsaussicht. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruches (d. h. eines materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird) sowie das Vorliegen des Anordnungsgrundes (d.h. der Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten) voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. die besondere Eilbedürftigkeit sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO).

Nach summarischer Prüfung sind Anordnungsanspruch und -grund im Sinne hinreichender Erfolgsaussicht glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin zu 2) verfügt nicht über die finanziellen Mittel zur Sicherung ihrer Existenz. Sie hat kein Erwerbseinkommen. Ein Abwarten auf das Hauptsacheverfahren ist nicht zumutbar.

Die Antragstellerin zu 2), die nach § 7 Abs. 3 Nr. 3a SGB II als Ehefrau eine Bedarfsgemeinschaft mit dem Antragsteller zu 1) bildet, erfüllt die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Sie ist 30 Jahre alt. Sie ist hilfebedürftig, da sie über kein Einkommen und Vermögen verfügt. Bedenken gegen die Erwerbsfähigkeit nach §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II, 8 SGB II bestehen nicht, da ihr in der nach § 28 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis entsprechend § 28 Abs. 5 AufenthG die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit uneingeschränkt gestattet wurde. Sie hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik.

Ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II zu Ungunsten der Antragstellerin zu 2) eingreift, ist nach summarischer Prüfung der Rechtslage offen. Die Ausschlussgründe des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und Nr. 3 SGB II liegen nicht vor. Ob die Antragstellerin zu 2) dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II als nachzugsberechtigte Ehefrau eines deutschen Staatsangehörigen unterfällt, ist durch die Rechtsprechung noch nicht geklärt. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II sind Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörige für die ersten drei Monate von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Es ist zweifelhaft, ob die Antragsstellerin zu 2) dem Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II unterliegt. Denn Familienangehörige, die zu einem sich im Bundesgebiet länger aufenthaltsberechtigten und arbeitenden Ausländer einreisen, werden von diesem Leistungsausschluss nicht erfasst (Spellbrink in Eicher/Spellbrink SGB II 2. Auflage, § 7 Nr. 16). Vorliegend ist die Antragstellerin zu 2) zur Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft mit einem deutschen Staatsangehörigen eingereist. Ein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Behandlung ist nicht ersichtlich. Auch unter Beachtung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 GG, der ein Grundrecht auf Schutz vor Eingriffen des Staates, eine Institutsgarantie wie auch eine wertentscheidende Grundsatznorm für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts enthält, der auch für Ausländer gilt und das Interesse des deutschen Ehepartners schützt, seine Ehe als eine Lebensgemeinschaft gleichberechtigter Partner im Bundesgebiet fortzusetzen (BVerfG Beschluss vom 18.07.1979 - 1 BvR 650/77 = BVerfG 51, 386), spricht vieles für eine einschränkende Auslegung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II im Fall des Nachzugs eines ausländischen Familienangehörigen zu dem deutschen Ehepartner.

Nach summarischer Prüfung spricht aber vieles dafür, dass bei der - da eine abschließende Klärung der Rechtslage wegen derer Komplexität im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht möglich ist - vorzunehmenden Folgenabwägung (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 = BVerfGK 5, 237-244) das Interesse der Antragstellerin zu 2) am Erlass der Regelungsanordnung überwiegt. Bei der Folgenabwägung sind die grundrechtlichen Belange der Antragstellerin zu 2) umfassend in die Abwägung einzubeziehen. Die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl. BVerfG a.a.O.). Daher scheint es nicht als ausgeschlossen, dass bei einer Folgenabwägung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls - Schutz der Bedarfsgemeinschaft durch Art. 6 GG und Aufenthaltsrechts des nachzugsberechtigten ausländischen Ehegatten aus § 28 AufenthG im Regelfall das Interesse der Antragstellerin zu 2) am Erlass der Regelungsanordnung überwiegt, weil ohne die zuerkannten Leistungen das Existenzminimum der Antragstellerin zu 2) nicht gedeckt gewesen wäre und die Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft mit dem Antragsteller zu 1), die durch Art. 6 GG geschützt ist, gefährdet wäre, zumal der Antragsteller zu 1) nicht in der Lage ist, die Antragstellerin zu 2) ohne Gefährdung seines eigenen soziokulturellen Existenzminimums aus eigenen Mitteln zu unterstützen. Durch die vorläufige Gewährung der Leistung wäre auch die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorweggenommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Diese Entscheidung ist endgültig (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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