L 1 U 1179/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 15 U 5615/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 1179/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 09.02.2010 wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe einer Verletztenrente im Streit.

Der 1965 geborene Kläger war als Rohrnetzmeister und Vorarbeiter auf einem Baggerschiff in W. beschäftigt, als er am 12.01.2005 auf diesem Schiff wegen der Lösung eines Gerüstbelages in ein 10 Meter tiefes Silo stürzte. Hierbei zog er sich Verletzungen am rechten Fuß und am Kopf zu, nämlich eine Talusluxationsfraktur, eine Fersenbeinfraktur rechts sowie eine Skalpierungsverletzung links parietal.

Nach einem Gutachten des Unfallchirurgen Prof. Dr. W. von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. vom 10.11.2005 lagen zum Untersuchungszeitpunkt am 03.11.2005 als Unfallfolgen ein rechtshinkendes Gangbild, ein Tragen von Kompressionsstrümpfen und orthopädischem Schuhwerk, eine 10 cm lange reizlose Narbe am rechten Mittelfuß, eine eingeschränkt demonstrierbare Hocke sowie Einbeinstand, eine Einschränkung der Beweglichkeit des oberen Sprunggelenks (OSG) für die Extension bzw. Flexion um jeweils 10 Grad, ein wackelsteifes unteres Sprunggelenk (USG), eine Talusnekrose rechts zentral dorsal, ein Talusfragment latero-caudal, eine Arthrose des unteren Sprunggelenks rechts, eine narbig verheilte Außenbandruptur sowie eine Mineralkalksalzminderung vor. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 30 v.H. In einem Zwischenbericht vom 31.01.2006 gab Prof. Dr. W. an, die vom Kläger vorgebrachten Schmerzen seien glaubhaft, weswegen von einem mutmaßlich erreichten vorübergehenden Endzustand ausgegangen und dem Kläger orthopädisches Alltagsschuhwerk verschrieben worden sei.

Aufgrund von Bedenken des Beratungsarztes Dr. B. hinsichtlich der Höhe der MdE-Einschätzung (Stellungnahme vom 07.03.2006) gab die Beklagte ein weiteres Gutachten in Auftrag. Nach dem unfallchirurgischen Gutachten des Dr. B. von der Stadtklinik B.-B. vom 14.06.2006 war die Beweglichkeit im oberen Sprunggelenk eingeschränkt auf 10-0-30 gegenüber links 20-0-50, und es lagen ein wackelsteifes und schmerzhaftes unteres Sprunggelenk, rechts nur halb so bewegliche Zehengelenke wie normal, ein rechts erheblich erschwerter Zehen- und Fersengang sowie ein sehr unsicherer Einbeinstand vor. Radiologisch bestehe eine ausgeprägte Subtalararthrose und eine beginnende OSG-Arthrose rechts. Die MdE betrage nach den einschlägigen Gutachtentabellen 30 v.H. Der Kläger solle vor allem im Sitzen und mit der Möglichkeit des Wechsels zum gelegentlichen Stehen und Gehen arbeiten. Arbeiten auf unebenem Boden, auf Leitern und Gerüsten und das Tragen schwerer Lasten seien nicht mehr möglich.

Die Beklagte anerkannte mit Bescheid vom 08.09.2006 den Unfall vom 12.01.2005 als Arbeitsunfall an und gewährte für die Zeit ab dem 01.09.2006 eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE um 30 v.H.

Zur Frage der Rentengewährung auf unbestimmte Zeit wurde bei Dr. B. ein weiteres Gutachten angefordert. In dem Gutachten vom 08.06.2007 wurde die MdE erneut unter Berufung auf die einschlägigen Gutachtentabellen auf 30 v.H. geschätzt. Als Unfallfolgen wurden eine Bewegungseinschränkung des rechten oberen Sprunggelenks, ein sehr schmerzhaftes und wackelsteifes rechtes unteres Sprunggelenk, eine Bewegungseinschränkung der Zehen des rechten Fußes, ein erheblich beeinträchtigtes Gangbild, die Notwendigkeit orthopädischen Schuhwerks, eine radiologisch ausgeprägte Subtalararthrose mit rechts zunehmender Tendenz und eine beginnende Arthrose des oberen Sprunggelenks angegeben. Der Kläger sei für die nächsten 6 Monate auf die Durchführung einer Physiotherapie (1- bis 2-mal wöchentlich) angewiesen. Es sei ein Endzustand eingetreten. Eine Verschlimmerung sei denkbar.

Die Beklagte leitete dieses Gutachten einem Beratungsarzt (Name unleserlich) zu, der ohne weitere Begründung die Auffassung der Beklagten in ihrer Anfrage vom 21.06.207 bestätigte, dass als Dauerzustand lediglich eine MdE um 25 v.H. bestehe.

Mit Bescheid vom 27.07.2007 stellte die Beklagte für die Zeit ab dem 01.08.2007 einen Rentenanspruch auf unbestimmte Zeit nach einer MdE um 25 v.H. fest. Es bestünden unfallbedingt noch funktionelle Beeinträchtigungen in Form einer Bewegungseinschränkung des rechten oberen Sprunggelenks, eine Aufhebung der Beweglichkeit des rechten unteren Sprunggelenkes, einer Bewegungseinschränkung der Zehengelenke rechts, eine Geh- und Stehbehinderung, sowie beginnende knöcherne Veränderungen im früheren Verletzungsbereich mit glaubhaften Beschwerden.

Der dagegen eingelegte Widerspruch des Klägers wurde insbesondere mit der fortgeschrittenen Arthrose und der erheblichen Schmerzhaftigkeit begründet, wonach praktisch ein Zustand wie bei einem versteiften USG vorliege. Durch die unterschiedliche Beschwielung sei zu erkennen, dass der Kläger eine deutliche Schonhaltung einnehme. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 25.10.2007 als unbegründet zurückgewiesen.

Der Kläger hat am 22.11.2007 Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Seit der Feststellung des vorläufigen Rentenanspruchs habe sich in seinen gesundheitlichen Verhältnissen keine Änderung ergeben. Es bestehe eine schmerzhafte Wackelsteife, welche allein bereits eine MdE um 30 v.H. rechtfertige. Außerdem bestünden auch eine Arthrose und Gefühlsstörungen an der Narbe. Die Stellungnahme des beratenden Arztes sei ohne seine Zustimmung eingeholt worden und daher nicht verwertbar.

Das SG hat ein Gutachten bei dem Orthopäden und Rheumatologen Dr. T. eingeholt. In dem Gutachten vom 24.04.2008 sind als Unfallfolgen eine Funktionseinschränkung des oberen und unteren Sprunggelenks mit Entwicklung einer mittelgradigen Sekundärarthrose im unteren Sprunggelenk, eine verbliebene Syndesmosenteilsprengung im rechten oberen Sprunggelenk mit multiplen Knorpel-/Knocheneinlagerungen im lateralen Gelenkspalt, eine Muskelminderung des rechten Unterschenkels sowie belastungsabhängige Schmerzen und Schwellungen angegeben. Unfallunabhängig lägen eine somatoforme Schmerzstörung sowie eine Adipositas vor. Die MdE wurde mit 25 v.H. angegeben. Zwar sprächen das Nebeneinanderbestehen der Schädigung im USG mit Sekundärarthroseentwicklung und Wackelsteife sowie einer verbliebenen Teilsprengung in der Syndesmosengabel im OSG mit Funktionseinschränkung sowie die Sekundärarthrose im Bereich der angrenzenden Fußwurzel für einen MdE-Satz um 30 v.H. Für einen MdE-Satz von 25.v.H. spreche indes die nur minimale Gelenkkapselreizung und die geringfügige Muskelminderung im Unterschenkel um 1 cm rechts gegenüber links. Die anfänglich verdachtsweise benannte Talusnekrose habe sich nicht komplett ausgebildet. Wesentliche Trophikstörungen im Sinne einer Algodystrophie als zusätzliche Komplikation seien nicht mehr nachzuweisen. Der MdE-Satz um 25 v.H. sei vorzugswürdig, weil keine schwerwiegenden Weichteilreizzustände vorlägen und die ursprüngliche Annahme einer MdE um 30 v.H. auf die deutlich stärker ausgeprägten knöchernen Umbauvorgänge gestützt worden sei, welche sich im Lauf der Heilbehandlung normalisiert hätten.

Auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Orthopäde und Unfallchirurge Dr. U. am 23.09.2008 ein weiteres Gutachten erstellt. Unter Berücksichtigung der unfallbedingten schmerzhaften mittelgradigen Bewegungseinschränkungen des oberen Sprunggelenks sei für die Zeit ab dem 01.08.2007 eine MdE um 30 v.H. gerechtfertigt. Der Vorgutachter habe das Nebeneinander der von ihm festgestellten mehrfachen Funktionseinschränkungen nicht hinreichend berücksichtigt. Bei einem Belastungsversuch des Klägers ohne orthopädisches Schuhwerk und ohne Einnahme von Schmerzmedikamenten (welche eine abschwellende Wirkung hätten) habe sich im OSG bei einer zweiten Untersuchung eine Überwärmung und eine Schwellung mit einer Umfangzunahme von 0,5 cm gezeigt. Auch wenn sich keine weitere Bewegungseinschränkung im OSG gezeigt habe, seien die hierdurch nachgewiesenen unfallbedingten schmerzhaften Funktionseinschränkungen bei der Bemessung der MdE zu berücksichtigen.

Die Beklagte hat eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. B. vom 07.11.2008 vorgelegt, wonach eine MdE um lediglich 25 v.H. angemessen sei. Der nahezu seitengleiche Muskelumfang im Bereich der Oberschenkel und die nur geringe Verschmächtigung des rechten Unterschenkels gegenüber links um 0,5 bis 1 cm zeigten, dass die schmerzhafte Wackelsteife des rechten unteren Sprunggelenks und die röntgenologischen Veränderungen in den Sprunggelenken sich auf die Gebrauchsfähigkeit und Belastbarkeit des rechten Beines noch nicht wesentlich auswirkten. Auch Dr. U. beschreibe ein sicheres und nur leicht rechts hinkendes Gangbild.

Das SG hat mit Urteil vom 09.02.2010 den Bescheid vom 27.07.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2007 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab dem 01.08.2007 Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H. zu gewähren. Die MdE des Klägers um 30 v.H. sei nach den Gutachten von Dr. B. und Dr. U. festzustellen. Beide hätten ihrer Beurteilung zugrunde gelegt, dass am rechten unteren Sprunggelenk eine schmerzhafte Wackelsteife vorliege. Für eine solche funktionelle Beeinträchtigung sei nach der unfallversicherungsrechtlichen Literatur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, S. 746) eine MdE um 20 bis 30 v.H. anzusetzen. Wegen der Schmerzhaftigkeit dieser Wackelsteife und der nach Angabe von Dr. B. erheblich eingeschränkten Gehfähigkeit halte das Gericht abweichend von der Auffassung der Beklagten nicht eine dem Mittelwert entsprechende MdE, sondern eine MdE im oberen Bereich für angemessen. Darüber hinaus sei nach Dr. B. und Dr. U. die daneben bestehende unfallbedingte Einschränkung der Beweglichkeit im oberen Sprunggelenk zusätzlich zu berücksichtigen. Dr. U. habe hierzu ausgeführt, dass die Schädigung des oberen Sprunggelenkes nicht nur von untergeordneter Bedeutung sei, sondern dass die unfallbedingten schmerzhaften Funktionseinschränkungen der Bemessung der gesamten MdE mit zu berücksichtigen seien. Zweifel an einer erheblichen, eine MdE um 30 v.H. begründenden Beeinträchtigung der Gebrauchsfähigkeit und Belastbarkeit der rechten unteren Extremität seien entgegen der Auffassung des Beratungsarztes Dr. B. und des Sachverständigen Dr. T. nicht allein deswegen berechtigt, weil eine Muskelminderung des rechten Beines gegenüber links nur im Unterschenkel und nur in geringgradigem Ausmaß erhoben worden sei. Denn da vor dem Unfall das rechte Bein das Standbein des Klägers gewesen sei, sei davon auszugehen, dass es vorher kräftiger als das linke Bein gewesen sei und damit dem Muskelschwund im Verhältnis zum Bein erheblicher sei als die aktuell gemessene Seitendifferenz. Außerdem seien im Rahmen der MdE-Bemessung im wesentlichen funktionelle Auswirkungen zu berücksichtigen, so dass im Hinblick auf die glaubhaften und von den Ärzten noch nicht in Frage gestellten Angaben des Klägers zur Einschränkung seiner Gehstrecke und Standfestigkeit eine geringere MdE nicht unter Hinweis auf den weit weniger fortgeschrittenen röntgenologischen Befund überzeugend begründet werden kann. Der Abänderung des angefochtenen Bescheides stehe zu dem nicht entgegen, dass die MdE-Einschätzung des Klägers von dem von der Beklagten vertretenen MdE-Wert nur um 5 v.H. abweiche. Zwar sei eine Abweichung um 5 v.H. oder weniger von der MdE-Schätzung durch den Unfallversicherungsträger grundsätzlich ausgeschlossen, weil einer Schätzung immer eine natürliche Schwankungsbreite zu eigen sei, die mit 5 v.H. anzunehmen sei (mit Hinweis auf Kater/Leube, Gesetzliche Unfallversicherung, § 56 SGB VII Rdnr. 54). Etwas anderes gelte jedoch in Fällen wie den vorliegenden, in denen sich die abweichende Schätzung des Gerichts daraus ergebe, dass der Unfallversicherungsträger von unvollständigen oder unrichtigen Befunden ausgegangen sei oder seine Schätzung auf unsachlichen Erwägungen beruhe und oder gefestigten allgemeinen Erfahrungssätzen widerspreche (mit Hinweis auf Ricke in Kassler Kommentar, Stand Dezember 2007, § 56 SGB VII Rdnr. 36; BSGE 43, 53, 56). Ein solcher Ausnahmefall liege beim Kläger vor, denn die fehlerhafte MdE-Einschätzung der Beklagten beruhe ausweislich der Begründung des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2007 darauf, dass sie zum einen den Zustand einer schmerzhaften Wackelsteife beim Kläger mit einer Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenkes (MdE 25 v.H.) gleichsetze und andererseits eine MdE um 30 v.H. erst beim einem Zustand für angemessen halte, der einer Amputation des Fußes bei erhaltener Ferse entspreche. Die Beklagte habe damit verkannt, dass die durch eine schmerzhafte Wackelsteife verursachten funktionellen Beeinträchtigungen wie beim Kläger weitergehen könnten als bei einer kompletten Versteifung. Dies ergebe sich bereits daraus, dass nach Schönberger/Mehrtens/Valentin (a.a.O., Seite 746) für eine schmerzhafte Wackelsteife eine MdE von 20 bis 30 v.H. und damit mehr als 25 v.H. in Betracht kommen könne. Darüber hinaus berücksichtige die von der Beklagten vertretende MdE-Einschätzung die zusätzliche unfallbedingte Versteifung des oberen Sprunggelenks nicht in ausreichendem Maße. Insofern schließe sich das Gericht nach eigener Überprüfung den Ausführungen von Dr. U. an. Damit könne dahingestellt bleiben, ob die von der Beklagten zum Gutachter von Dr. B. eingeholte Stellungnahme des beratenden Arztes, deren Abweichung zum Gutachten im Übrigen nicht begründet worden sei, überhaupt eine nachvollziehbar auf sachlichen Erwägungen beruhende und damit das Gericht bindende MdE-Einschätzung darstelle, ob diese ggf. in Nachreichung einer weiteren Stellungnahme nachgebessert werden könne, und ob sie entsprechend dem Vortrag des Klägers mangels vorheriger Anhörung unverwertbar sei. Das Urteil des SG wurde der Beklagten am 17.02.2010 zugestellt.

Die Beklagte hat am 10.03.2010 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Entgegen der Auffassung des SG sei lediglich eine MdE um 25 v.H. anzunehmen, da die beim Kläger bestehende schmerzhafte Wackelsteife noch nicht zu einer wesentlichen Minderung der Gebrauchsfähigkeit des rechten Beines geführt habe. Eine Minderbelastbarkeit müsse eine deutliche Muskelminderung zur Folge habe, welche jedoch beim Kläger nicht feststellbar sei. Die Muskelminderung des rechten Unterschenkel gegenüber dem linken Unterschenkel betrage nur 0,5 bis 1 cm. Aus dem Gutachten des Dr. B. vom 08.06.2007 ergebe sich zudem eine beidseitig gut ausgeprägte Fußinnenmuskulatur. Außerdem habe das SG zu Unrecht die Voraussetzungen für eine Abweichung von der durch die Beklagte vorgenommenen MdE-Einschätzung um 5 v.H. bejaht. Das SG habe fälschlicherweise unterstellt, dass die MdE-Bewertung mit lediglich 25 v.H. darauf beruhe, dass nach Auffassung der Beklagten eine MdE-Bewertung von 30 v.H. erst bei einer Amputation des Fußes bei erhaltener Ferse gerechtfertigt wäre. Die Beklagte habe jedoch im Widerspruchsbescheid vom 25.10.2007 lediglich darauf hingewiesen, dass eine MdE um 30 v.H. nach den im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden MdE-Tabellen beispielsweise bei einer Amputation des Fußes im Sprunggelenk bei erhaltender Ferse festgesetzt sei. Der beim Kläger vorliegende Unfallfolgezustand sei im Vergleich hierzu weniger schwerwiegend. Dies bedeute jedoch nicht, dass nach Auffassung der Beklagten eine MdE-Bewertung von 30 v.H. erst bei der Amputation des Fußes bei erhaltener Ferse angemessen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgericht Karlsruhe vom 09.02.2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für rechtmäßig. Die Beklagte widerspreche sich in ihrer Berufungsbegründung selbst. Einerseits wolle sie behaupten, dass eine Beeinträchtigung des rechten Beines bzw. dessen Gebrauchsfähigkeit noch nicht im wesentlichen Umfang vorliege; andererseits müsse sie selbst konstatieren, dass am Unterschenkel eine Umfangsverminderung bis 1 cm vorliege, womit eine erhebliche Gebrauchsbeeinträchtigung bereits objektiviert sei. Dies sei auch nachvollziehbar, da aufgrund der starken unfallbedingten Veränderungen am rechten Sprunggelenk der Kläger das rechte Bein nur noch sehr eingeschränkt einsetzen könne. Der Kläger benötige darüber hinaus orthopädisches Schuhwerk, um überhaupt noch laufen zu können. Dies geschehe aber unter erheblichen Beeinträchtigungen. Im Übrigen übersehe die Beklagte weiterhin, dass der Kläger sein Standbein habe wechseln müssen. Wenn jetzt die rechte Musekelmasse im Vergleich zum linken Bein deutlich abgenommen habe, belege dies, dass eine erhebliche Verschiebung stattgefunden habe. Nicht zutreffend seien auch die rechtlichen Erwägungen der Beklagten zu der vom SG vorgenommenen Abweichungen der MdE-Beurteilung um 5 v.H. Das SG habe nämlich bereits zutreffend darauf hingewiesen, dass eine Abweichung um 5 v.H. bereits dann vorgenommen werden könne, wenn der Unfallversicherungsträger von unvollständigen und unrichtigen Befunden ausgegangen sei. Dies sei vorliegend der Fall, da die Beklagte zum einen die unfallbedingte Versteifung des oberen Sprunggelenkes nicht berücksichtigt habe und zum anderen in den angefochtenen Bescheiden durchaus den Eindruck erweckt habe, dass eine MdE um 30 v.H. auf Dauer erst anzunehmen sei, wenn ein der Amputation gleichzustellender Zustand des Fußes bei erhaltener Ferse vorliege. Diese Äußerung der Beklagten im Widerspruchsbescheid sei indes unzutreffend. Das SG habe bereits darauf hingewiesen, dass bei einer Wackelsteife bereits eine MdE von bis zu 30 v.H. in Betracht komme.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt. Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des SG sowie die Akten des Landessozialgerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet. Der Senat hat vorliegend mit dem Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden.

Gem. § 26 Abs. 1 SGB VII haben Versicherte Anspruch auf Entschädigungsleistungen u. a. in Form von Heilbehandlung (§ 27 SGB VII) oder Geldleistungen (Verletztengeld § 45 SGB VII und Rente § 56 SGB VII ). Insbesondere nach § 56 Abs. 1 SGB VII erhalten Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, eine Rente. Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (§ 8 Abs. 1 SGB VII).

Erforderlich ist, dass sowohl ein kausaler Zusammenhang zwischen der in innerem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehenden Verrichtung und dem Unfall als auch zwischen dem Unfall und dem Gesundheitsschaden besteht. Diese so genannte doppelte Kausalität wird nach herkömmlicher Dogmatik bezeichnet als die haftungsbegründende und die haftungsausfüllende Kausalität. Für beide Bereiche der Kausalität gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung sowie der Beweismaßstab der - überwiegenden - Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R - , SozR 4-2700 § 8 Nr. 12).

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), d.h. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (BSGE 1, 174, 178; BSG SozR 2200 § 581 Nr. 22).

Hierbei ist keine Bindung der Beklagten an die MdE-Feststellung um 30 v.H. in dem Bescheid über die vorläufige Rentengewährung vom 08.09.2006 eingetreten, weil gemäß § 62 Abs. 2 SGB VII bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung der Vomhundertsatz der Minderung der Erwerbsfähigkeit abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden kann, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Die Ermächtigung für die MdE-Beurteilung findet sich daher alleine im SGB VII, ohne dass es auf die Voraussetzungen für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung nach § 48 Sozialgesetzbuch (SGB X) ankäme (vgl. BSG, Urteil vom 16.03.2010 - B 2 U 2/09 R -).

Für die Bewertung einer unfallbedingten MdE kommt es auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen oder geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, liegt in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem Gebiet (BSG, Urt. vom 26.06.1985 - 2 RU 60/84 -, in: SozR 2200 § 581 RVO Nr. 23 m.w.N.; BSG, Urt. vom 19.12.2000 - B 2 U 49/99 R -, in: HVBG-Info 2001, 499). Die Sachkunde des ärztlichen Sachverständigen bezieht sich in erster Linie darauf, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Folgen des Arbeitsunfalls beeinträchtigt sind. Schlüssige ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind zwar bedeutsame Anhaltspunkte, besitzen aber keine bindende Wirkung, auch wenn sie eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE darstellen (BSG, Beschluss vom 22.08.1989 - 2 BU 101/89 -, in: HVBG-Info 1989 S. 2268). Bei der Bewertung der MdE sind schließlich auch die in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung und dem versicherungsrechtlichen oder versicherungsmedizinischen Schrifttum ausgearbeiteten Erfahrungssätze zu beachten, um eine gerechte und gleiche Bewertung der zahlreichen Parallelfälle der täglichen Praxis zu gewährleisten.

Das SG hat nach diesen Grundsätzen zutreffend entschieden, dass eine Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H. zu gewähren ist. Aufgrund der Ausführungen der Gutachter im Verwaltungsverfahren sowie des Gerichtsgutachters Dr. U. sind die Voraussetzungen für die Gewährung einer Verletztenrente in dieser Höhe nachgewiesen. In der unfallmedizinischen Literatur wird für die Versteifung des USG in Funktionsstellung allein bei schmerzhafter Wackelsteifigkeit eine MdE um 20-30 v.H. angenommen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S. 679). Berücksichtigt man die Einschränkungen im OSG, die begrenzte Plantarflexion, die Erforderlichkeit der Schmerzmitteleinnahme und die Verschreibung orthopädischen Schuhwerks, erscheint es angemessen, dass bei der Würdigung der MdE die obere Grenze dieser Spanne von 30 v.H. anzunehmen ist.

Demgegenüber überzeugen die Zweifel der Beratungsärzte der Beklagten und des anderen Gerichtsgutachters gegenüber der Gewährung einer Verletztenrente in dieser Höhe nicht. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird nach § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden und ausführlichen Entscheidungsgründe in dem angegriffenen Urteil des SG Bezug genommen, denen der Senat sich ausdrücklich anschließt.

Der Senat gründet seine Auffassung insbesondere darauf, dass die im Wesentlichen unstreitigen Unfallfolgen einer schmerzhaften Wackelsteife des rechten USG, einer Einschränkung der Dorsalextension im rechten OSG um 50 %, einer Einschränkung der Plantarflexion um 25 % sowie die Sekundärarthrose im Bereich der angrenzenden Fußwurzel nebeneinander bestehen (so auch S. 21 des Gutachtens von Dr. T. vom 24.04.2008).

Bereits der Gutachter Prof. Dr. W. hat hierzu die Auffassung vertreten, es sei eine MdE um 30 v.H. anzunehmen (Gutachten vom 10.11.2005 zur vorläufigen Rentengewährung). Die in seinem Gutachten beschriebenen Funktionseinschränkungen bestehen im Wesentlichen weiterhin. Zudem hat Prof. Dr. W. bereits frühzeitig auf die Einschränkungen des Klägers beim Gehen auf unebenem Untergrund hingewiesen und die Möglichkeit des Erhalts seines Arbeitsplatzes bezweifelt (Bericht vom 09.09.2005). Diese Zweifel wurden in der Folge bestätigt, da der Kläger aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalles mangels innerbetrieblicher Umsetzungsmöglichkeiten seinen Arbeitsplatz verloren hat und eine Umschulung beginnen musste (Bericht des Berufshelfers vom 11.10.2005). Prof. Dr. W. hat den Zustand der "Wackelsteife" des rechten USG als "vorübergehenden Endzustand" bezeichnet (Bericht vom 31.01.2006), an dem sich bis dato insoweit nichts geändert hat.

Die Einschätzung einer MdE um 30 v.H. wurde im Verwaltungsverfahren auch von dem zweiten Gutachter Dr. B. wiederholt bestätigt (Gutachten vom 14.06.2006 und vom 08.06.2007) und die beim Kläger vorliegenden gesundheitlichen Einschränkungen als Endzustand beschrieben (Gutachten vom 08.06.2007). Er hielt allenfalls eine Verschlimmerung für denkbar. Auffallend ist insoweit, dass bis zu diesem Zeitpunkt die den Kläger untersuchenden Gutachter einstimmig eine MdE von 30 v.H. annahmen, wohingegen eine geringere MdE erst auf Nachfragen der Beklagten durch einen Beratungsarzt nach Aktenlage und ohne Begründung vertreten wurde.

Auch unter Berücksichtigung des von Dr. T. für die Annahme einer MdE um 25 v.H. angeführten Heilbehandlungsverlaufs, in welchem sich die knöchernen Umbauvorgänge normalisiert haben, der von ihm angeführten nur geringfügigen Gelenkkapselreizung und der erwähnten Muskelminderung um 1 cm im rechten Unterschenkel erscheint eine MdE um 30 v.H. weiterhin als zutreffend.

Dr. U. weist in seinem Gutachten vom 23.09.2008 überzeugend darauf hin, dass nach der für die Beurteilung der MdE maßgeblichen Funktionsbeurteilung die von Dr. T. genannten Befundverbesserungen nicht ausreichend erscheinen, um eine Verbesserung der Erwerbsfähigkeit des Klägers begründen zu können. Zur Frage der tatsächlich noch beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen hat Dr. U. den Kläger ein zweites Mal einbestellt, um mit diesem, ohne dass dieser (entzündungshemmende) Schmerzmittel eingenommen hätte oder das entlastende orthopädische Schuhwerk trug, eine Belastungserprobung durchzuführen. Hierbei hat sich gezeigt, dass im Bereich des rechten OSG eine Überwärmung und Schwellung auftrat. Hierdurch wurde nachgewiesen, dass es sich bei der Bewegungseinschränkung des oberen Sprunggelenks um eine Einschränkung handelt, welche nicht von untergeordneter Bedeutung gegenüber der USG-Einschränkung (Wackelsteife) ist, und welche mit der Berücksichtigung des Ausmaßes der Bewegungseinschränkung allein nicht ausreichend gewürdigt ist.

Im Hinblick auf die von der Beklagten gerügte Abweichung des SG in der MdE-Beurteilung um lediglich 5 v.H. von ihrer eigenen Beurteilung ist darauf hinzuweisen, dass eine von der MdE-Schätzung des Versicherungsträgers nur um 5 % abweichende Schätzung des Gerichts ausnahmsweise dann zulässig ist, wenn im Verwaltungsverfahren die Schätzungsgrundlagen falsch bzw. unvollständig ermittelt wurden oder alle für die Schätzung wesentlichen Umstände unzureichend gewürdigt wurden und die Schätzung selbst auf falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht (Hessisches LSG, Urteil vom 15.12.1995 - L 3 U 519/95 -; BSGE 41,99; BSGE 43, 53). Vorliegend besteht zunächst die Besonderheit, dass die Beklagte selbst zu Beginn Ihrer Ermittlungen von der Einschätzung der beiden Gutachter Prof. Dr. W. und Dr. B. abgewichen ist, ohne dass dies hinreichend nachvollziehbar gewesen wäre (vgl. die Stellungnahme des Beratungsarztes der Beklagten [Name unleserlich], der ohne Begründung die Auffassung der Beklagten in ihrer Anfrage vom 21.06.2007 bestätigte). Hinzu kommt, dass entsprechend den Ausführungen des SG die Beklagte die Beobachtung von Dr. U. in seinem Gutachten vom 23.09.2008 nicht ausreichend gewürdigt hat. Die Funktionseinschränkungen des Klägers bestehen nebeneinander. Die Schmerzkomponente und das Angewiesensein auf Schmerzmittel und orthopädisches Schuhwerk sind im Falle des Klägers zusätzlich zu berücksichtigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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