L 18 AS 1313/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 148 AS 19401/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1313/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 9. Juli 2010 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin zu 1) für die Zeit ab 21. Juni 2010 bis zum 20. Oktober 2010 monatliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 184,- EUR zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zurückgewiesen.

Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt ein Drittel der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu 1) im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.

Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt S bewilligt.

Gründe:

Wegen der Dringlichkeit der Sache war in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Vorsitzenden zu entscheiden.

Die Beschwerde des Antragsgegners ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist die Beschwerde nicht begründet und war zurückzuweisen.

Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist der dem Beschwerdegericht durch die angefochtene Entscheidung angefallene Streitgegenstand, der auf die vom Sozialgericht (SG) verlautbarte Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG für die Zeit vom 21. Juni 2010 bis 20. Oktober 2010 beschränkt ist. Diese war unter entsprechender Aufhebung des angefochtenen Beschlusses wie aus dem Tenor ersichtlich zu ändern und der weitergehende Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zurückzuweisen. Die weitergehende Beschwerde ist nicht begründet.

Soweit die Antragsteller Leistungen für Unterkunft und Heizung geltend machen, fehlt es ungeachtet ihrer Leistungsberechtigung dem Grunde nach bereits an einem Anordnungsgrund für die begehrte gerichtliche Anordnung iS eines unaufschiebbar eiligen Regelungsbedürfnisses. Eine derzeit drohende Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit der Antragsteller ist weder vorgetragen worden noch im Übrigen ersichtlich. Den Antragstellern ist daher ein Abwarten auf die Entscheidung im Hauptsacheverfahren zumutbar, zumal in § 22 Abs. 5 Satz 1 und 2 und Abs. 6 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB) II Regelungen zur Sicherung der Unterkunft selbst für den Fall einer – hier nicht in Rede stehenden – Räumungsklage enthalten sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. März 2007 – 1 BvR 535/07 – nicht veröffentlicht). Für den Antragsteller zu 2) fehlt es überdies auch an einem Anordnungsanspruch, soweit dieser Regelleistungen nach dem SGB II geltend macht. Denn sein Regelbedarf ist durch das Kindergeld (= 184,- EUR monatlich) und den Unterhaltsvorschuss (= 133,- EUR monatlich) abgedeckt.

Hinsichtlich der Antragstellerin zu 1) war der Antragsgegner für die Zeit ab 21. Juni 2010 (Antragseingang) bis 20. Oktober 2010 jedoch im tenorierten Umfang zu verpflichten, und zwar unter Berücksichtigung einer verfassungsrechtlich gebotenen Folgenabwägung und im Hinblick auf die bislang in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht abschließend geklärte Tragweite des gesetzlichen Leistungsausschlusses bei nichtdeutschen Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), deren Aufenthaltsrecht sich – wie hier – aus dem Zweck der Arbeitsuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizgG) ergibt (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II). Unter Berücksichtigung der durch Art. 39 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verbürgten Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU begegnet es nämlich erheblichen rechtlichen Bedenken, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II insoweit mit Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – EuGH - (vgl. Urteil vom 4. Juni 2009 – C-22/08 – juris) kann ein Arbeitsuchender, der tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates hergestellt hat, sich auf Art. 39 Abs. 2 EGV berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Das Bestehen einer solchen tatsächlichen Verbindung kann sich bereits daraus ergeben, dass der Betreffende während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem Mitgliedstaat gesucht hat, wie dies die Antragstellerin zu 1) auch vorliegend behauptet. Die Ausnahmevorschrift in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 betrifft demgegenüber nur einen "Anspruch auf Sozialhilfe". Der EuGH (vgl. aaO) weist insoweit aber ausdrücklich darauf hin, dass eine Voraussetzung, wie sie in Deutschland für die Grundsicherung für Arbeitsuchende vorgesehen sei, wonach der Betreffende erwerbsfähig sein müsse, ein Hinweis darauf sein könne, dass diese Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern solle. Im letztgenannten Fall greift Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 aber von vornherein nicht.

Da insbesondere auch die – den innerstaatlichen Gerichten obliegende (vgl. EuGH aaO) - Prüfung, ob die Antragstellerin zu 1) eine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt hergestellt hat, weitere Sachermittlungen erfordert, war im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch diesbezüglich eine Folgenabwägung vorzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – juris). Die (rechtliche) Erwerbsfähigkeit der Antragstellerin zu 1) gemäß § 8 Abs. 2 SGB II folgt jedenfalls aus der ihr erteilten unbefristeten Arbeitsgenehmigung-EU. Angesichts des existenzsichernden Charakters der begehrten Leistungen wiegen die der Antragstellerin zu 1) drohenden Nachteile bei einer (vollen) Ablehnung des Antrags und einem späteren Obsiegen im Hauptsacheverfahren ungleich schwerer als der Nachteil einer Überzahlung für den Antragsgegner. Aus diesem Grund war der Antragsgegner einstweilen zu verpflichten, das absolute Existenzminimum der Antragstellerin zu 1) zu sichern. Das Gericht hat sich insoweit entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. etwa Beschluss vom 26. August 2009 – L 18 AS 1394/09 B ER – juris) an dem Wert für den notwendigen Bedarf ohne Unterkunftskosten orientiert, der sich aus § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 Asylbewerberleistungsgesetz ergibt. Die einstweilige Anordnung ergeht für die Zeit bis 20. Oktober 2010. Es bleibt der Antragstellerin zu 1) unbenommen, nach Ablauf dieses Zeitraums bei dem SG erneut um einstweiligen Rechtsschutz nachzusuchen, sofern bis dahin das Hauptsacheverfahren nicht abgeschlossen sein sollte.

Der hilfsweise gestellte Antrag des Antragsgegners, den "Vollzug gemäß § 175 SGG auszusetzen", der sinngemäß als Antrag iSv § 199 Abs. 2 SGG auf Aussetzung der Vollstreckung des angefochtenen Beschlusses anzusehen war, ist durch die Entscheidung über die Beschwerde gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Den – bedürftigen – Antragstellern, und zwar beiden, war Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung von Rechtsanwalt S schon deshalb zu bewilligen, weil der Antragsgegner das Rechtsmittel eingelegt hat (vgl. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114, 119 Abs. 1 Satz 2 Zivilprozessordnung).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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