L 19 AS 1218/10 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 5 (20) AS 177/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1218/10 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Klägerin zu 2) gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 12.07.2010 wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.
Die Klägerin zu 1) wohnt mit ihrer 2002 geborenen Tochter F, der Klägerin zu 2), zusammen. Sie bezieht für die Klägerin zu 2) Kindergeld in Höhe von 164,00 EUR mtl. und Unterhalt in Höhe von 250,00 EUR mtl ...

Durch Bescheid vom 03.02.2009 bewilligte die Beklagte der Klägerin zu 1) Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe von insgesamt 671,12 EUR (472,56 EUR Regelleistung und Mehrbedarf für Alleinerziehende + 198,56 EUR Kosten für Unterkunft und Heizung) für die Zeit vom 01.02 bis 30.04.2009. Der Verfügungssatz lautete wie folgt: " ... für Sie und die mit Ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen werden Leistungen für die Zeit vom 01.02. bis 30.04.2009 in folgender Höhe bewilligt:

Monatlicher Gesamtbetrag vom 01.02.2009 bis 30.04.2009 in Höhe von 671,12 EUR monatlich zustehende Leistungen Name, Vorname zur Sicherung des Lebensunterhalts(inkl. Mehrbedarfe) O Q 472,56 EUR

Name, Vorname Kosten für Unterkunft und Heizung O Q 198,56 EUR "

Laut Berechnungsbogen, der dem Bescheid beigefügt war, ging die Beklagte von einem Bedarf der Klägerin zu 1) von insgesamt 675,56 EUR (351,00 EUR Regelleistung + 126,00 EUR Mehrbedarf für Alleinerziehende + 198,56 Kosten für Unterkunft und Heizung) sowie von einem Bedarf der Klägerin zu 2) von insgesamt 409,56 EUR (211,00 EUR Sozialgeld + 198,56 EUR Kosten für Unterkunft und Heizung) aus. Von dem Bedarf der Klägerin zu 2) zog die Beklagte die Unterhaltszahlung und das Kindergeld in Höhe von insgesamt 409,56 EUR ab. Das überschießende Kindergeld in Höhe von 4,44 EUR rechnete sie auf die Regelleistung der Klägerin zu 1) an.

Hiergegen legten die Klägerinnen, vertreten durch die Bevollmächtigten, Widerspruch ein. Sie machten geltend, dass die Beklagte auf das Unterhaltseinkommen bzw. Kindergeld keinen Freibetrag angerechnet habe. Der von der Beklagten anzusetzende Freibetrag sei auch zu niedrig bemessen. In Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Bundessozialgerichts vom 17.01.2009 sei allenfalls eine vorläufige Festsetzung möglich. Mit Schreiben vom 25.05.2009 schlug die Beklagte vor, das Widerspruchsverfahren bis zur Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der Regelsätze für Kinder ruhend zu stellen, wenn sich der Widerspruch der Klägerinnen gegen die Höhe der Regelleistung der Klägerin zu 2) richte. Mit Schreiben vom 08.06.2009 teilte die Beklagte den Bevollmächtigten der Klägerinnen mit, dass sie wegen der fehlenden Äußerung zu ihrem Vorschlag, das Verfahren ruhend zu stellen, davon ausgehe, dass die Bevollmächtigten mit der Vorgehensweise einverstanden seien, wenn bis zum 18.06.2009 keine gegenteilige Äußerung vorliege. Daraufhin erklärten die Bevollmächtigten der Klägerinnen mit Schreiben vom 12.06.2009, dass das Schreiben der Beklagten vom 08.06.2009 eine Abhilfe hinsichtlich ihres Begehrens, die Leistungen bis zur Klärung der Verfassungswidrigkeit der Höhe des Kinderregelsatzes nur vorläufig zu bewilligen, darstelle. Des Weiteren hätten Leistungen für den Zeitraum von Februar bis Ende Juli 2009 bewilligt werden müssen. Die Vorlage eines Folgebescheides sei bislang nicht erfolgt. Nach Vorlage des Folgebescheides würden sie zur Frage des Einverständnisses mit dem Ruhen Stellung nehmen, wobei die Beklagte sich auf jeden Fall verpflichten müsste, die Kosten des Widerspruchsverfahrens zu übernehmen. Durch Widerspruchsbescheid vom 16.06.2009 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Am 22.06.2009 beantragten die Klägerinnen die Beklagte im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, S 20 AS 176/09 ER, zu verpflichten, ihnen Leistungen für den Monat Juni 2006 zu gewähren. Durch Bescheid vom 24.06.2009 bewilligte die Beklagte der Klägerin zu 1) für die Zeit vom 01.05. bis zum 31.10.2009 sowie der Klägerin zu 2) für die Zeit vom 01.07 bis zum 31.10.2009 Leistungen nach dem SGB II. Gegen die Höhe der bewilligten Leistungen legten die Klägerinnen Widerspruch ein.

Am 22.06.2009 haben die Klägerinnen Klage gegen den Bescheid vom 03.02.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.2009 mit dem Begehren erhoben, die Beklagte zu verurteilen, ihnen höhere Leistungen nach dem SGB II zu gewähren und tatsächlich auszuzahlen. Sie haben die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt und vorgetragen, die Ausführungen der Beklagten zur Verfassungsgemäßheit des Regelsatzes für Kinder seien unzutreffend. Des Weiteren habe die Beklagte den Bewilligungszeitraum zu kurz bemessen. Die Beklagte sei verpflichtet, eine Bewilligung über sechs Monate auszusprechen.

Durch Beschluss vom 12.07.2010 hat das Sozialgericht Gelsenkirchen der Klägerin zu 1) Prozesskostenhilfe für die Zeit ab dem 22.06.2009 bewilligt und die Sozietät G und T aus H beigeordnet.

Durch weiteren Beschluss vom 12.07.2010 hat das Sozialgericht Gelsenkirchen den Antrag der Klägerin zu 2) auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Sozietät G und T abgelehnt. Auf die Gründe wird Bezug genommen.

Hiergegen hat die Klägerin zu 2) Beschwerde eingelegt. Sie hat dargelegt, dass bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht einer Klage auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags abzustellen sei. Das Sozialgericht habe sich aber bei seiner ablehnenden Entscheidung auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.02.2010 gestützt

II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Nach § 73 a Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. §§ 114, 115 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Beteiligte, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs am 22.06.2009 (vgl. zum Zeitpunkt der Bewilligungsreife: BVerfG Beschluss vom 14.04.2010 - 1 BvR 362/10 - m.w.N.) ist das von der Klägerin zu 2) angestrebte prozessuale Vorgehen mutwillig gewesen. Mutwillig ist eine Rechtsverfolgung, wenn ein verständiger Bürger, der für die Prozesskosten selbst aufzukommen hätte, seine Rechte nicht in der gleichen Weise geltend machen würde. Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn eine Beteiligte ihr Ziel auf andere Weise mit geringerem Kostenaufwand erreichen könnte (BSG Beschluss vom 24.05.2000 - B 1 KR 4/99 BH = SozR 3-1500 § 73 a Nr. 6; BVerfG Beschluss vom 18.11.2009 - 1 BvR 2455/08 = NJW 2010, 988). Dies ist vorliegend der Fall.

Die Klage der Klägerin zu 2) bietet nur dann hinreichende Erfolgsaussicht, wenn bei der Ermittlung ihres Bedarfs ein höherer Regelsatz anzusetzen ist. Streitgegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 03.02.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.2009, in dem die Beklagte der Klägerin zu 2) konkludent die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II wegen fehlender Hilfebedürftigkeit für die Zeit vom 01.02. bis 30.04.2009 versagt hat, da das Einkommen der Klägerin zu 2) von insgesamt 414,00 EUR ihren Bedarf von 409,00 EUR übersteigt. Soweit sich die Klägerin zu 2) gegen die Versagung der Leistungen mit den Argumenten wendet, dass der im Bescheid vom 03.02.2009 ausgeworfene Bewilligungszeitraum zu kurz sei und die Bewilligung nach § 40 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III nicht endgültig, sondern vorläufig erfolgen müsse, ist die Frage der Dauer der Bewilligung für die Prüfung des Vorliegens der Leistungsvoraussetzungen der §§ 28 Abs. 1 Satz. 1, 7 Abs. 3 Nr. 4, 9 SGB II irrelevant und die Vorschrift des § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III ermöglicht nicht die vorläufige Ablehnung einer Leistung (vgl. Eicher in Eicher/Schlegel, SGB III, § 328 Rn 3).

Die Höhe der für die Klägerin zu 2) anzusetzende Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts ergibt sich aus der Bestimmung des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II, wonach die Regelleistung für Kinder unter 14 Jahren ab dem 01.07.2008 211,00 EUR beträgt. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die Vorschriften über die Höhe der Regelleistung, u. a. die des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II, mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt. Daraus folgt aber nicht, dass einem hilfebedürftigen Kind ein höherer Anspruch auf Leistungen für einen zurückliegenden Zeitraum - wie im vorliegenden Fall - zusteht, vielmehr gilt die Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II in der jeweils anzuwendenden Fassung bis zum 31.12.2010 fort. Der Gesetzgeber ist nur verpflichtet, die Regelleistung für Kinder für die Zukunft neu festzusetzen (BVerfG Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 = nach juris Rn 210 ff.; BSG Urteil vom 17.06.2010 - B 14 AS 17/10 R).

Dabei kann dahinstehen, ob zur Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht des Klagebegehrens, soweit die Verfassungsgemäßheit der Höhe der Regelsätze für Kinder gerügt wird, auf den Zeitpunkt der Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts oder auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife abzustellen ist (siehe zum Meinungstand: LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 27.04.201 - L 11 R 6027/09 B - m.w.N.; LSG NRW Beschluss vom 04.03.2010 - L 6 B 158/06 AS - m.w.N.; BGH Beschluss vom 18.11.2009 - XII ZB 152/09). Auch wenn vorliegend auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags abgestellt wird, ist die Klageerhebung im Hinblick auf das beim Bundesverfassungsgericht anhängig gewesene Vorlageverfahren zur Höhe der Regelsätze von Kindern - 1 BvL 4/09 - mutwillig. Die Beklagte hatte der anwaltlich vertretenen Klägerin zu 2) im Widerspruchsverfahren angeboten, das Widerspruchsverfahren hinsichtlich der Versagung eines Leistungsanspruchs nach dem SGB II in Hinblick auf das beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren ruhend zu stellen. Diesem Vorschlag hat die Klägerin zu 2) nicht zugestimmt. Damit hat sie Anlass zum Erlass des Widerspruchsbescheides durch die Beklagten, die nach § 88 Abs. 2 SGG gehalten ist, innerhalb von drei Monaten über einen Widerspruch zu entscheiden, gegeben und müsste zur Vermeidung der Rechtsfolgen des § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 1 Satz 1 1. Alt SGB III (vgl. hierzu BVerfG Beschluss vom 07.04.2010 - 1 BvR 612/10) Klage erheben. Ein sein Kostenrisiko vernünftig abwägender Bürger, der die Prozesskosten aus eigenen Mitteln finanzieren muss, wird aber ein Verfahren - vorliegend das Widerspruchsverfahren - nicht (weiter) betreiben, solange dieselbe Rechtsfrage bereits in anderen Verfahren höchstrichterlich (sog. unechte Musterverfahren) anhängig ist. Er kann auf diesem Wege - Ruhendstellung des Widerspruchsverfahrens - von einer positiven Entscheidung profitieren, ohne selbst einem (weiteren) Kostenrisiko zu unterliegen. Wenn das "unechte" Musterverfahren aus der Sicht des Betroffenen negativ ausgeht, ist er nicht gehindert, sein Rechtsschutzziel im eigenen Verfahren weiterzuverfolgen. Es ist ausreichend, wenn einem Betroffenen nach Ergehen der "Musterentscheidung" noch alle prozessualen Möglichkeiten offen stehen, umfassenden Rechtsschutz zu erlangen (vgl. BVerfG Beschluss vom 18.11.2009 - 1 BvR 2455/08). Dies wäre im Fall der Klägerin zu 2) bei einem Ruhen des Widerspruchsverfahren hinsichtlich ihres Individualanspruchs bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren, 1 BvL 4/09, der Fall gewesen. Der Klägerin zu 1) hätte es auch für den Fall, dass das Widerspruchsverfahren hinsichtlich des Anspruchs ihrer Tochter ruhend gestellt worden wäre, freigestanden, dass Widerspruchsverfahren hinsichtlich der Höhe ihres Individualanspruchs weiterzubetreiben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§ 73 a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
Rechtskraft
Aus
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