S 185 AS 19695/10 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
185
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 185 AS 19695/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 16. Juni 2010 gegen den Absenkungsbescheid des Antragsgegners vom 8. Juni 2010 und den Änderungsbescheid des Antragsgegners vom 8. Juni 2010 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Dem Antragsteller wird für das Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Sozialgericht Berlin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten bewilligt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die vollständige Absenkung seiner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Der Antragsteller bezieht von dem Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II).

Mit Bescheid vom 8. Juni 2010 wurden die Leistungen des Antragstellers in Höhe von 414,19 Euro, davon 119,00 Euro Regelleistung sowie 295,19 Euro Kosten für Unterkunft und Heizung, für die Zeit vom 1. Juli 2010 bis 30. September 2010 um 100 % gemindert. Als Grund wurde genannt, dass der Antragsteller seinen Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung vom 28. Januar 2010 nicht nachgekommen sei. Es handele sich um eine wiederholte Pflichtverletzung (vorangegangene Pflichtverletzung am 8. November 2009). Mit Bescheid vom gleichen Tag wurde der ursprüngliche Bewilligungsbescheid vom 15. März 2010 entsprechend geändert; dem Antragsteller wurden für die Zeit vom 1. Juli 2010 bis 30. September 2010 nunmehr Leistungen in Höhe von 0,00 Euro bewilligt.

Gegen die Bescheide vom 8. Juni 2010 legte der Antragsteller am 16. Juni 2010 Widerspruch ein. Zur Begründung trug der Antragsteller im Wesentlichen vor, es fehle schon an einem Verstoß gegen in der Eingliederungsvereinbarung vom 28. Januar 2010 festgelegte Pflichten. Außerdem sei er nicht ordnungsgemäß über die Rechtsfolgen eines Verstoßes belehrt worden. Des Weiteren liege auch keine weitere wiederholte Pflichtverletzung vor, wie sie § 31 Abs. 3 Satz 2 SGB II für eine vollständige Absenkung der Leistungen verlange. Schließlich habe der Antragsgegner mit der Absenkung nicht zugleich über die Gewährung von ergänzenden Sachleistungen oder geldwerten Leistungen gemäß § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II entschieden.

Am 23. Juni 2010 hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht (SG) Berlin um einstweiligen Rechtsschutz ersucht. Zur Begründung wiederholt und vertieft der Antragsteller seinen Vortrag aus dem Widerspruch vom 16. Juni 2010.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 16. Juni 2010 gegen den Absenkungsbescheid vom 8. Juni 2010 sowie den vollziehenden Änderungsbescheid vom 8. Juni 2010 mit der BG-Nummer: anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Der Antragsgegner trägt im Wesentlichen vor, dass sich bei summarischer Prüfung keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Bescheide ergäben. Insbesondere sei ein Nachweis über die in der Eingliederungsvereinbarung vom 28. Januar 2010 geforderten Eigenbemühungen nicht erfolgt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners, die der Kammer zum Zeitpunkt der Entscheidung vorlagen.

II.

1. Der Antrag ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

a. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Bescheide vom 8. Juni 2010 ist nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen der Widerspruch und die Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Zwar haben Widersprüche grundsätzlich aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG). Die aufschiebende Wirkung entfällt gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II jedoch bei Sanktionsbescheiden nach § 31 SGB II und diese umsetzenden Änderungsbescheiden, weil solche Bescheide Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende aufheben bzw. herabsetzen (vgl. Conradis, in: Münder (Hrsg.), Sozialgesetzbuch II - Grundsicherung für Arbeitsuchende. Lehr- und Praxiskommentar, 3. Auflage 2009, § 39 Rn. 5).

b. Der Antrag ist auch begründet.

aa. Voraussetzung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch das Gericht ist, dass bei einer Abwägung das Interesse des Antragstellers, den Vollzug des mit seinem Rechtsbehelf in der Hauptsache angegriffenen Bescheides bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen (privates Aussetzungsinteresse), das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung des Bescheids (öffentliches Vollzugsinteresse) überwiegt (vgl. z.B. Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Dezember 2008, L 10 B 2154/08 AS ER, Rn. 3 - zit. nach juris; Beschluss vom 29. Juli 2009, L 24 KR 157/09 B ER, Rn. 19 - zit. nach juris; Beschluss vom 7. September 2009, L 24 KR 173/09 B ER, Rn. 23 - zit. nach juris). Dies ist vorliegend der Fall, da die in Rede stehenden Bescheide nach Auffassung der Kammer rechtswidrig sind und am Vollzug eines rechtswidrigen Bescheides kein öffentliches Interesse besteht (vgl. nur LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Dezember 2008, a.a.O.).

bb. Die Rechtswidrigkeit des Absenkungsbescheides vom 8. Juni 2010 ergibt sich (jedenfalls) daraus, dass der Antragsgegner es unterlassen hat, zeitgleich mit der Sanktionsentscheidung nach Maßgabe von § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II auch über die Erbringung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen für den Sanktionszeitraum zu entscheiden. Damit erweist sich zugleich auch der Änderungsbescheid vom 8. Juni 2010, der den Absenkungsbescheid umsetzt und insoweit auf diesem beruht, als rechtswidrig, ohne dass es hier darauf ankommt, ob die beiden Bescheide eine sog. Bescheideinheit bilden (vgl. zu dieser Rechtsfigur unlängst Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 22. März 2010, B 4 AS 68/09 R, Rn. 9 - zit. nach juris; eingehend ferner SG Berlin, Gerichtsbescheid vom 19. August 2009, S 26 AS 5380/09, Rn. 17 ff. - zit. nach juris).

Nach § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II kann der Leistungsträger bei einer Minderung der Leistungen um mehr als 30 % der nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Dem Wort "kann" ist zu entnehmen, dass die Bewilligung dieser Leistungen bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Leistungsträgers steht (LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O., Rn. 10).

Der auf der Rechtsfolgenseite des § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II eingeräumte Ermessensspielraum kann sich jedoch im Lichte der Grundrechte des Hilfebedürftigen aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) zugunsten des Hilfebedürftigen verdichten in Fällen, in denen durch die Absenkung der Leistungen das physische Existenzminimum nicht mehr gesichert ist (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 9. September 2009, L 7 B 211/09 AS ER, Rn. 15 - zit. nach juris; SG Berlin, a.a.O., Rn. 30; SG Kassel, Beschluss vom 21. Januar 2010, S 6 AS 373/09 ER, Rn. 43 - zit. nach juris). Teilweise wird sogar davon ausgegangen, das Ermessen reduziere sich hierbei stets in der Weise, dass ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen immer und zwingend zu erbringen seien (so LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O.; SG Berlin, a.a.O.; SG Kassel, a.a.O.; anders LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., unter Hinweis darauf, dass der Hilfebedürftige die Erbringung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen ggf. ablehnen und seinen Lebensunterhalt im Sanktionszeitraum anderweitig, z.B. aus liquidem Schonvermögen oder durch die Unterstützung von Dritten, bestreiten könne). Auf diese Frage kommt es vorliegend indes nicht an.

Denn jedenfalls folgt aus der gebotenen verfassungskonformen Auslegung des § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II eine Reduzierung des Ermessens der Leistungsträgers dergestalt, dass er in Fällen einer Gefährdung des physischen Existenzminimums infolge der Sanktionsentscheidung mit dieser zeitgleich auch darüber entscheiden muss, ob im konkreten Fall ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zu erbringen sind (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., Rn. 10 f.; für junge Hilfebedürftige unlängst auch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21. April 2010, L 13 AS 100/10 B ER, Rn. 7 - zit. nach juris). In diesen Fällen ist der Leistungsträger von Verfassungs wegen verpflichtet, den Leistungsfall "unter Kontrolle zu halten", d.h. die Sanktion mit Initiativen zur angemessenen Bewältigung des Leistungsfalls zu begleiten (LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O., Rn. 17; vgl. auch schon LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O., Rn. 15 unter Hinweis auf die zum früheren Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vertretene Auffassung; s. ferner auch Berlit, in: Münder, a.a.O., § 31 Rn. 106). Diesen Anforderungen genügt der im Streit stehende Absenkungsbescheid vom 8. Juni 2010 nicht.

Weil nicht nur die für den Antragsteller nach § 20 SGB II maßgebende Regelleistung auf Null reduziert wird, sondern auch die von dem Antragsgegner übernommenen Kosten für Unterkunft und Heizung, ist für den Antragsteller das physische Existenzminimum nicht länger gesichert. In Ermangelung sonstigen Vermögens des Antragstellers, für das nichts ersichtlich ist, kann eine Bedarfsdeckung allein noch aus dem geringfügigen Erwerbseinkommen des Antragstellers in Höhe von 400,00 Euro monatlich (laut. Änderungsbescheid vom 15. März 2010) erfolgen. Nach Abzug der Mietkosten in Höhe von 295,59 Euro verbleiben dem Antragsteller im Sanktionszeitraum somit lediglich noch 104,41 Euro (ohne Berücksichtigung des Freibetrags in Höhe von 160,00 Euro), das entspricht rund 29 % der Regelleistung gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Bekanntmachung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales über die Höhe der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II ab 1. Juli 2010 vom 7. Juni 2010 (Bundesgesetzblatt (BGBl.) 2010 I S. 820). Damit fällt eine Bedarfsdeckung bezüglich wesentlicher Bedürfnisse, insbesondere der nicht aufschiebbaren Beschaffung von Lebensmitteln, aus. Jedenfalls besteht die konkrete Gefahr, dass sich der Antragsteller im Sanktionszeitraum nicht mehr genügend Lebensmittel kaufen kann (vgl. für den Fall einer Absenkung um 80 % der maßgeblichen Regelleistung auch SG Kassel, a.a.O., Rn. 45). Der Antragsgegner war deshalb gehalten, die Absenkungsentscheidung mit der Entscheidung über die Erbringung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen nach § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II zu verbinden.

Dem lässt sich nach Auffassung der Kammer nicht entgegenhalten, dass der Antragsteller für die Zeit der Absenkung seiner Leistungen sein verfügbares Einkommen für seinen Lebensunterhalt verwenden und die Mietzahlungen insoweit zurückstellen kann. Es erscheint der Kammer bereits fraglich, ob ein Verweis des Hilfebedürftigen darauf, seine Miete zur Deckung seiner Bedarfe einzubehalten, zulässig ist (in diese Richtung aber wohl SG Berlin, a.a.O., Rn. 31 für die im dortigen Fall von der Absenkung nicht erfassten Leistungen für Unterkunft und Heizung, die allerdings von dem Beklagten unmittelbar an den Vermieter des Klägers ausgezahlt wurden, sodass eine Verwendung für den Lebensunterhalt letztlich ausschied). Immerhin würde der Hilfebedürftige damit zu einer Verletzung seiner mietvertraglichen Pflichten angehalten. Jedenfalls kann das Vorhandensein von (geringfügigem) Einkommen den Leistungsträger in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Leistungen durch die Sanktion vollständig entfallen, nach Ansicht der Kammer nicht davon entbinden, mit der Sanktionsentscheidung zugleich eine (Ermessens-) Entscheidung nach § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II darüber zu treffen, ob und - wenn ja - in welchem Umfang zur Abmilderung der Grundrechtsbeeinträchtigung ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen im Sanktionszeitraum gewährt werden.

Der Grundrechtsschutz wird hier schließlich auch nicht dadurch ausreichend gewahrt, dass der Antragsgegner den Antragsteller im Absenkungsbescheid vom 8. Juni 2010 auf die Möglichkeit hingewiesen hat, selbst einen Antrag auf Gewährung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen zu stellen (vgl. ausdrücklich auch LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O., Rn. 13; für junge Hilfebedürftige ferner LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.). Wie die Kammer bereits ausgeführt hat, muss die Entscheidung nach § 31 Abs. 3 Satz 6 SGB II bei einer Gefährdung des physischen Existenzminimums zugleich mit der Sanktionsentscheidung getroffen werden, und zwar von Amts wegen (vgl. zum fehlenden Antragserfordernis auch LSG Berlin-Brandenburg, a.a.O.; LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O.; SG Kassel, a.a.O., Rn. 43; Berlit, a.a.O., Rn. 107).

2. Das Gericht hat davon abgesehen anzuordnen, dass die bislang einbehaltenen Leistungen vorläufig nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG zurückzugewähren sind. Im Hinblick auf die Anordnung nach § 86b Abs. 1 Satz 2 SGG hat eine gesonderte Abwägung zu erfolgen. Nur in Ausnahmefällen, wenn es zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes erforderlich ist, kann ein Wiederherstellungsanspruch bestehen, der im Wege der Aufhebung der Vollziehung durchgesetzt wird (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Juli 2009, L 29 AS 375/09 B ER, Rn. 15 - zit. nach juris; Beschluss vom 24. September 2009, L 20 AS 1061/09 B ER, Rn. 4 - zit. nach juris). Vorliegend ist nicht erkennbar, dass das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt wird, wenn der Antragsteller zur Durchsetzung seiner diesbezüglichen Interessen auf das Hauptsacheverfahren verwiesen wird.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von §§ 183, 193 SGG.

4. Der Antragsteller hat auch einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 ZPO erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Insbesondere ist eine hinreichende Erfolgsaussicht nach dem oben Gesagten zu bejahen.
Rechtskraft
Aus
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