S 21 AS 1703/10 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
21
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 21 AS 1703/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet, an den Antragsteller vorläufig 415,20 Euro für Taxifahrten zu seinen behandelnden Ärzten und zu Einkäufen für die Zeit ab dem 05.08. bis zum 30.09.2010 auszuzahlen. Die Antragsgegnerin trägt 1/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

Der zulässige Eilantrag ist teilweise begründet, denn bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage ist der Bescheid der Antragsgegnerin vom 12.07.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2010 in verschiedenen Punkten rechtswidrig.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus.

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander, es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung derart, als die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) zu verringern sind und umgekehrt.

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG – Kommentar, 8. Auflage, § 86 b Rdnrn. 27 und 29 m. w. N.). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben, auch wenn in diesem Fall nicht gänzlich auf einen Anordnungsgrund verzichtet werden kann. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen sich die Gerichte schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. zuletzt Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05).

Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG glaubhaft zu machen. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes (vgl. Meyer-Ladewig, a. a. O., Rdnrn. 16 b, 16 c, 40).

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Antragsteller bezüglich der begehrten Übernahme von Fahrtkosten zu Ärzten für August 2010 und Einkäufen für August und September 2010 sowohl einen Anordnungsanspruch, als auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Dagegen fehlt es hinsichtlich der Übernahme der Kosten für die begehrte Sehhilfe an einem Anordnungsgrund.

Nach § 21 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Für die Übernahme der Fahrtkosten zu seinen behandelnden Fachärzten im August 2010 und zum Einkaufen im August und September 2010 hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht, denn in beiden Fällen liegt nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem hier zu entscheidenden Einzelfall ein unabweisbarer, laufender nicht einmaliger Bedarf vor. Der Antragsteller ist grundsätzlich in besonderer Weise auf die Benutzung eines Verkehrsmittels für Fahrten zum Arzt und zu Einkäufen angewiesen. Nach seinen Angaben, die durch ein zur Akte S 21 AS 1269/10 ER gereichtes ärztliches Attest seines behandelnden Diabetologen bestätigt werden, leidet er an einem diabetischen Fußsyndrom. Dadurch ist es ihm nicht möglich, längere Strecken zu Fuß zurückzulegen. Sollte er sich nicht an die Anweisungen des Facharztes halten, drohen weitere Komplikationen, die eine Wiederherstellung der Füße des Antragstellers gefährden. In dem Attest des Herrn Dr. N heißt es auszugsweise: "Seit 2009 bestehen multiple Ulcera an beiden Füßen, die regelmäßig behandelt und verbunden werden müssen. Die Abheilung ist durch Wundheilungsstörungen wegen der Diabeteserkrankung erschwert. Herr M kann wegen dieser Erkrankung keine längeren Strecken zu Fuß gehen und ist für die Fahrten zur Praxis und im Alltag (z.B. Einkäufe erledigen) auf ein Fahrzeug angewiesen. " Der durch die Erkrankung des Antragstellers ausgelöste Bedarf ist als Sonderbedarf im Sinne von § 26 Abs. 6 SGB II anzusehen, denn die bei ihm bestehende Notwendigkeit, Ärzte besuchen zu müssen und nur sehr kurze Wegstrecken zu Fuß gehen zu können, unterscheidet sich erheblich von den Gesundheitsproblemen der Mehrzahl der Leistungsempfänger nach dem SGB II. Weil der Antragsteller nur kurze Wegstrecken zu Fuß gehen soll, besteht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch ein Anspruch auf Übernahme der Fahrtkosten zu Einkäufen in einem Radius von 5 km von seiner Wohnung. Theoretisch wäre es zwar möglich, dass der Antragsteller den nächstgelegenen Supermarkt aufsucht, um dort seine Waren zu beschaffen. Dies würde ihm jedoch nicht ermöglichen, auf Sonderangebote, die er aufgrund seines geringen Einkommens wahrnehmen muss, auszuweichen.

Die Zahl der wöchentlichen Einkaufsfahrten war unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten auf zwei zu begrenzen, denn einem Empfänger von Grundsicherungsleistungen, der in einem Einpersonenhaushalt lebt, ist es zuzumuten, seine Bedarfsdeckung so zu organisieren, dass hierfür im Mittel nicht mehr als zwei Termine zur Beschaffung von Gebrauchsgütern anfallen.

Entgegen der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin besteht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auch keine Verpflichtung der Krankenkasse, Fahrten zu Ärzten und zu Einkäufen zu übernehmen. Nach § 60 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) übernimmt die Krankenkasse nach den Absätzen 2 und 3 die Kosten für Fahrten einschließlich der Transporte nach § 133 SGB V (Fahrkosten), wenn sie im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse aus zwingenden medizinischen Gründen notwendig sind. Welches Fahrzeug benutzt werden kann, richtet sich nach der medizinischen Notwendigkeit im Einzelfall. Die Krankenkasse übernimmt Fahrkosten zu einer ambulanten Behandlung unter Abzug des sich nach § 61 Satz 1 ergebenden Betrages nur nach vorheriger Genehmigung in besonderen Ausnahmefällen, die der gemeinsame Bundesausschuss in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12SGV V festgelegt hat. § 8 der Krankentransportrichtlinien lautet: "In besonderen Ausnahmefällen können auch Fahrten zur ambulanten Behandlung außer der in § 7 Abs. 2 Buchstaben b) und c) geregelten Fälle bei zwingender medizinischer Notwendigkeit von der Krankenkasse übernommen und vom Vertragsarzt verordnet werden. Sie bedürfen der vorherigen Genehmigung durch die Krankenkasse. Voraussetzungen für eine Verordnung und eine Genehmigung sind, - dass der Patient mit einem durch die Grunderkrankung vorgegebenen Therapieschema behandelt wird, das eine hohe Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum aufweist, und - dass diese Behandlung oder der zu dieser Behandlung führende Krankheitsverlauf den Patienten in einer Weise beeinträchtigt, dass eine Beförderung zur Vermeidung von Schaden an Leib und Leben unerlässlich ist." Diese Voraussetzungen liegen bei dem Antragsteller im August 2010 nicht vor, denn die von ihm durchzuführenden Arztbesuche sind mit Behandlungen aus dem Bereich der Onkologie oder der Dialyse ihrer Schwere und Bedrohlichkeit nach nicht vergleichbar. Mit der Änderung des § 60 SGB V zum 1.1.2004 hat der Gesetzgeber stärker als zuvor auf die medizinische Notwendigkeit der im Zusammenhang mit der Krankenkassenleistung erforderlichen Fahrt abgestellt und die Möglichkeit der Krankenkassen, Fahrkosten generell in Härtefällen zu übernehmen, verfassungskonform beseitigt ( vgl. im Einzelnen BSG SozR 4-2500 § 60 Nr 1 RdNr 13 f). Bei der Prüfung der Übernahmefähigkeit von Fahrtkosten ist nun die Häufigkeit der Behandlung einerseits und ihre Gesamtdauer andererseits gemeinsam zu den Regelbeispielen in Beziehung zu setzen. Dieser Maßstab ergibt sich aus der Absicht des Gesetzgebers, ab 1.1.2004 Fahrkosten in der ambulanten Behandlung grundsätzlich gar nicht mehr zu erstatten und nur in "besonderen" Ausnahmefällen etwas anderes gelten zu lassen, nicht aber schon breitflächig allgemein in Härtefällen. (BSG, Urteil vom 28.07.2008, B 1 KR 27/07 R). Bei dem Antragsteller lag im August 2010 zwar ein Härtefall im Sinne eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II, nicht jedoch ein Ausnahmefall i S. v. § 60 SGB V i.V.m. § 8 der Krankentransportrichtlinien vor. Zwar können sich bei dem Antragsteller im Falle einer unsachgemäßen oder unzureichenden Behandlung des diabetischen Fußsyndroms und seiner Augenerkrankung schwerwiegende Komplikationen ergeben, eine Gefahr für Leib und Leben drohte ihm im August 2010 aber nicht. Fahrten für Einkäufe stehen in keinem medizinischen Zusammenhang zu § 60 SGB V und sind deshalb nicht von der Krankenkasse, sondern von der Antragsgegnerin zu übernehmen. Anders stellt sich die Sach- und Rechtslage bei summarischer Prüfung für September 2010 dar, denn wie der Antragsteller gegenüber dem Vorsitzenden telefonisch erklärte, hat sich sein Gesundheitszustand drastisch verschlechtert. Nach seinen Angaben haben sich die Geschwüre an seinen Füßen entzündet, und die Unterschenkel sind derart angeschwollen, dass er nicht laufen kann. Der behandelnde Diabetologe habe ihn deshalb an die Fußambulanz in C überwiesen, wo er als Notfall umgehend einen Termin erhalten habe. Unter diesen Umständen hält es das Gericht für überwiegend wahrscheinlich, dass die Krankenkasse für Fahrten zu Ärzten aufkommen muss, wenn der Antragsteller dies beantrage, denn die Schwere seiner Erkrankungen dauert seit knapp vier Monaten an und erfordert nun eine sehr hohe Behandlungsfrequenz. Es ist sogar nicht auszuschließen, dass der Antragsteller für einige Zeit stationär therapiert werden muss, wofür ebenfalls die Krankenkasse im Rahmen der Kostenübernahme als Leistungsträger zuständig ist. Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen für die Übernahme der Kosten für Arztfahrten gemäß § 21 Abs. 6 SGB II bestehen auch deshalb, weil es dem Antragsteller neben der Einschaltung der Krankenkasse obläge, die Fahrtkosten – etwa durch den Wechsel einiger Behandler – selbst zu senken. Darüber hinaus ist offen geblieben, ob der Antragsteller die Möglichkeit, seine Erkrankungen (Diabetis mellitus, diabetische Nephropathie, Hypertonie und diabetische Retinopathie) interdisziplinär behandeln zu lassen erwogen und mit seinen behandelnden Ärzten besprochen hat. Hierdurch ließen sich erhebliche Fahrtkosten einsparen und Termine gut koordinieren. Für seinen hinreichend wahrscheinlichen Anordnungsanspruch auf Arztfahrten im August 2010 sowie Einkaufsfahrten im August und September 2010 hat der Antragsteller auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubbhaft gemacht. Dieser liegt vor, wenn ihm ein existenzieller Nachteil droht, den er nicht anders als durch eine sofortige gerichtliche Entscheidung abwenden kann. Einen solchen Nachteil hat der Antragsteller hinreichend glaubhaft gemacht. Zur Überzeugung des Gerichts benötigt der Antragsteller ohne weitere Verzögerung Mittel, aus denen er seine Fahrten zu ambulanten Behandlungen und zu nahegelegenen Einkaufsgelegenheiten zur Deckung seines alltäglichen Lebensbedarfs finanzieren kann. Für die sofortige Beschaffung einer Sehhilfe liegt dagegen kein Anordnungsgrund vor, denn nach seinen Angaben benötigt der Antragsteller eine Gleitsichtbrille, um seinen Blutzuckerspiegel richtig messen zu können, für Einkäufe und zum Autofahren. Zur Messung des Blutzuckerspiegels stehen andere technische Alternativen wie etwa sprechende Blutzuckermessgeräte, deren Kosten von den Krankenkassen übernommen werden, zur Verfügung. Bei Einkäufen kann der Antragsteller vorübergehend seine vorhandene Brille und Lupe zur Vergrößerung kleiner Schrift benutzen. Autofahrten zu seinen behandelnden Ärzten sowie Fahrten zu nahe gelegenen Supermärkten mit einem Taxi sind dem Antragsteller vorerst durch die mit diesem Beschluss zugesprochenen Mittel möglich. Der dem Antragsteller von der Antragsgegnerin zu erstattende Betrag für Sonderbedarf berechnet sich wie folgt: Auszugehen ist zunächst von einem in dem Verfahren S 21 AS 1269/10 ER ermittelten Kilometersatz von 1,20 Euro pro Kilometer für die Bevörderung mit einem Taxi. Im August 2010 fuhr der Antragsteller nach seinen Angaben 186 Kilometer zum Arzt, wodurch er 223,20 Euro (186 km x 1,20 Euro) aufwenden musste. Zweimal wöchentliches Einkaufen im Umkreis von 5 km (10 km für Hin- und Rückfahrt mit dem Taxi) kosten 96,00 Euro monatlich (10 km pro Fahrt x 2 Fahrten = 20 km x 8 Wochen = 160 km x 1,20 Euro = 192,00 Euro. Der Gesamtbetrag beläuft sich damit auf 223,20 Euro + 192,00 Euro = 415,20 Euro. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG in entsprechender Anwendung.
Rechtskraft
Aus
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