S 12 KA 801/10 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
12
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 12 KA 801/10 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Im Rahmen einer aufgrund einer offenen Rechtsfrage (hier: ob die Auffassung des Bundessozialgerichts, dass im Rahmen einer Sonderbedarfszulassung den psychoanalytisch begründeten und den verhaltenstherapeutischen Behandlungsverfahren je eigenständige Bedeutung entsprechend einem Schwerpunkt im Sinne des § 24 Buchst. b BedarfsplRL-Ä zuzumessen ist , auf ein Praxisnachfolgeverfahren übertragen werden kann) vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegen die Interessen eines Praxisnachfolgers nach § 103 IV SGB V gegenüber denen einer Mitbewerberin, die Widerspruch eingelegt hat, da auch im Erfolgsfall des Widerspruchs der Mitbewerberin durch die sofortige Vollziehung einer Zulassungsentscheidung keine weiteren Nachteile entstehen.
1. Es wird die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses vom 17.06.2010 bis einen Monat nach einer Entscheidung des Berufungsausschusses über den Widerspruch der Beigeladenen zu 9) im Wege der einstweiligen Anordnung angeordnet. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten und die Gerichtskosten zu tragen.

3. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Wege eines einstweiligen Anordnungsverfahrens um die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses, mit dem dieser den Antragsteller (Ast) zur Übernahme des gem. § 103 Abs. 4 SGB V ausgeschriebenen Vertragspsychotherapeutensitzes in A-Stadt, D-Straße, mit Wirkung zum 01.07.2010 als psychologischen Psychotherapeuten zur vertragspsychotherapeutischen Tätigkeit zugelassen hat.

Der Zulassungsausschuss/Psychotherapie bei der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen ließ den Antragsteller mit Beschluss vom 17.06.2010 zur Übernahme des Versorgungsauftrags als sog. Praxisnachfolger für den Vertragsarztsitz der Frau Dr. med. D., A-Stadt, D-Straße zu. Hiergegen legte die Beigeladene zu 9) Widerspruch ein. Der Antragsteller erhielt zunächst vom Zulassungsausschuss mit Datum vom 28.06.2010 lediglich die Mitteilung über dessen Entscheidung. Die schriftliche Beschlussfassung wurde erst am 15.10.2010 ausgefertigt und übersandt. Die Beigeladene zu 9) legte gegen den Zulassungsbeschluss mit Schreiben vom 05.10.2010 Widerspruch ein, in dem sie ankündigte, die Begründung nach Erhalt des schriftlichen Bescheids nachzuliefern.

Am 13.10.2010 hat der Ast den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Er trägt vor, er sei nach dem Beschluss des Zulassungsausschusses seit dem 01.07.2010 psychotherapeutisch tätig und habe aktuell rund 50 Patienten in Behandlung. Anfang Oktober habe ihn die Kopie des Widerspruchs einer Mitbewerberin erreicht. Laut Zulassungsausschuss und der Beigeladenen zu 1) habe dies zur Folge, dass er sofort seine vertragspsychotherapeutische Tätigkeit einzustellen habe, bis der Berufungsausschuss über den Widerspruch entschieden habe. Der Berufungsausschuss tage aber erst am 15.12.2010. Dies würde bedeuten, dass er allen Patienten, denen er für die nächste Woche Termine gegeben habe, absagen müsse und die Entscheidung des Berufungsausschusses abwarten müsse. Deshalb stelle er den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Für Patienten in laufenden Psychotherapien sei es unzumutbar, die Therapie zu unterbrechen und bis Ende Dezember zu warten. Besonders für depressive und latent suizidale Patienten würde dies eine Verschlechterung der Symptomatik und eine Gefährdung bedeuten. Er könne die Verantwortung für eine Unterbrechung der Behandlungen nicht übernehmen. Eine Unterbrechung bedeute auch einen unzumutbaren Verdienstausfall bei laufenden Kosten.

Der Antragsteller beantragt,
die sofortige Vollziehung des Beschluss des Zulassungsausschusses/Psychotherapie vom 17.06.2010 anzuordnen.

Der Antragsgegner hat keinen Antrag gestellt.

Er ist der Auffassung, im Hinblick auf die hohe Bedeutung die nunmehr das jeweilige praktizierte Richtlinienverfahren aufgrund der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Sonderbedarfszulassung habe, könnte möglicherweise im Rahmen einer Entscheidung nach § 103 Abs. 4 SGB V bei der Übergabe von Psychotherapeutensitzen auch von Bedeutung sein, welches Richtlinienverfahren der Praxisabgeber und die potentiellen Übernehmer praktizierten. Dies könnte jedoch allenfalls nur dann Bedeutung erlangen, wenn durch die Übergabe eines vorhandenen Psychotherapeutensitzes an einen Bewerber mit einem anderen Richtlinienverfahren als dort bisher praktiziert worden sei, ein Mangel im Bereich des Richtlinienverfahrens eintreten würde, dass bislang auf dem Psychotherapeutensitz praktiziert worden sei. Davon könne vorliegend jedoch keine Rede sein. Er habe auf Anfrage von der Beigeladenen zu 1) die Zahl der Behandler, aufgeschlüsselt nach den Richtlinienverfahren für den Planungsbereich A-Stadt, erhalten. In den Zahlen sei der Ast bereits berücksichtigt worden. Eine Verschiebung des Umfangs der praktizierten Richtlinienverfahren im vorliegenden Fall sei jedenfalls nicht so gravierend, dass eine Situation im Bereich der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie im Planungsbereich eintrete.

Nach den Angaben der Beigeladenen zu 1) sind zum Stichtag 18.10.2010 im Planungsbereich A-Stadt 40 Psychologische Psychotherapeuten nach dem PT-Richtlinienverfahren tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, 12 Psychologische Psychotherapeuten nach dem PT-Richtlinienverfahren tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie und 49 Psychologische Psychotherapeuten verhaltenstherapeutisch tätig.

Die Beigeladenen haben keinen Antrag gestellt.

Die Kammer hat mit Beschluss vom 15.10.2010 die Beiladung ausgesprochen. Sie hat in diesem Beschluss im Hinblick auf die Eilbedürftigkeit allen Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme, auch telefonisch oder per Fax, bis Montag, 18. Oktober 2010, 16.00 Uhr eingeräumt.

Die Kammer hat ferner zunächst den Antragsteller und die Beigeladene zu 9) am 15.10.2010 telefonisch angehört. Die Beigeladene zu 9) hat im Wesentlichen vorgetragen, die Praxisverkäuferin Frau D. sei tiefenpsychologisch tätig gewesen. Dies entspreche ihrem Fachkundenachweis. Demgegenüber besitze der Antragsteller die Fachkunde für Verhaltenstherapie. Nach der Entscheidung des BSG zur Sonderbedarfszulassung komme der Fachkunde eine besondere Bedeutung zu. Dies müsse auch für die Praxisnachfolge gelten. Frau D. habe ihr gegenüber, vertreten durch ihren Ehemann, von vornherein einen Kaufvertrag abgelehnt. Momentan sei sie zeitlich befristet bis Juni 2011 beschäftigt in einer Vollzeitstelle. Die Kammer hat dann am 15.10.2010 mit dem Prozessbevollmächtigten der Beigeladenen zu 9) die Sach- und Rechtslage telefonisch erörtert. Am 18.10.2010 hat sie Herrn Rechtsanwalt F., Vorsitzender des Antragsgegners, telefonisch angehört und die Sach- und Rechtslage mit diesem ebf. erörtert.

Die Kammer hat die in elektronischer Form übersandten Verwaltungsakten des Beklagten beigezogen. In den Verwaltungsakten war nunmehr der Beschluss des Zulassungsausschusses enthalten.

II.

Der Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit des Beschlusses des Zulassungsausschusses vom 17.06. 2010 ist zulässig und begründet.

Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung oder die Anordnung der sofortigen Vollziehung kann mit Auflagen versehen oder befristet werden. Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag die Maßnahmen jederzeit ändern oder aufheben. Der Antrag ist schon vor Klageerhebung zulässig (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 und 4, Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).

Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Dies gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung (§ 86a Abs. 1 SGG). In Angelegenheiten des Antragsgegners entfällt die aufschiebende Wirkung nicht (vgl. § 86a Abs. 2 und 4 SGG). Das Gesetz ordnet vielmehr ausdrücklich die aufschiebende Wirkung an (§ 96 Abs. 4 Satz 2 SGB V). Eine sofortige Vollziehung des Beschlusses des Zulassungsausschusses ist nicht angeordnet worden.

Auf die erst nach Stellung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erfolgte Ausfertigung des Beschlusses vom 17.06.2010 kommt es nicht an. Dieser ist jedenfalls dem Antragsteller mit der Mitteilung vom 28.06.2010 bekanntgegeben worden. Von daher ist er wirksam und konnte die Beigeladene zu 9) Widerspruch einlegen.

Nach der im einstweiligen Anordnungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist es als offen anzusehen, ob der Zulassungsbeschluss rechtmäßig ist. Die Rechtsfrage, ob die Auffassung des Bundessozialgerichts, dass im Rahmen einer Sonderbedarfszulassung den psychoanalytisch begründeten und den verhaltenstherapeutischen Behandlungsverfahren je eigenständige Bedeutung entsprechend einem Schwerpunkt im Sinne des § 24 Buchst. b BedarfsplRL-Ä zuzumessen ist (vgl. BSG, Urt. v. 23.06.2010 – B 6 KA 22/09 R – juris Rdnr. 38), auf ein Praxisnachfolgeverfahren übertragen werden kann, muss als offen bezeichnet werden. Insbesondere ist die Rechtsfrage, ob eine Praxisnachfolge nur dann möglich ist, wenn Praxisabgeber und Praxisübernehmer den Fachkundenachweis für das gleiche Richtlinienverfahren haben, als offen zu bezeichnen, ebenso wie die Auffassung des Antragsgegners, dass es entscheidend darauf ankomme, ob ein Mangel im Bereich des Richtlinienverfahren, das bislang auf dem Psychotherapeutensitz praktiziert wurde, eintreten würde.

Im Rahmen einer aufgrund der offenen Rechtslage vorzunehmenden Interessenabwägung ist aber das Interesse des Antragstellers eindeutig überwiegend zu Gunsten der tenorierten Entscheidung.

Der Antragsteller hat glaubhaft versichert, dass er seine psychotherapeutische Tätigkeit bereits begonnen hat. Würde der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht ergehen und bleibt der Widerspruch der Beigeladenen zu 9) ohne Erfolg, so wäre der Antragsteller für einen längeren Zeitraum gehindert, seiner Erwerbstätigkeit nachzugehen und würde bei bestehenden Kosten erhebliche Nachteile erleiden. Hinzu kommt, dass die begonnenen Therapien unterbrochen werden müssten. Ergeht demgegenüber die Entscheidung und ist der Widerspruch der Beigeladenen zu 9) erfolgreich, so kann die Beigeladene zu 9) als Praxisnachfolgerin zugelassen werden. Der Antragsteller müsste dann seine Tätigkeit beenden. Im Hinblick auf die besondere persönliche Vertrauensbeziehung zwischen einem Psychotherapeuten und einem Patienten geht die Kammer dabei grundsätzlich davon aus, dass die Patienten in laufenden Therapieverfahren allenfalls in Ausnahmefällen von einem Praxisnachfolger übernommen werden können, dies gilt sowohl für einen Praxisnachfolger nach § 103 Abs. 4 SGG V als auch für den Fall, dass die Beigeladene zu 9) faktisch dem Antragsteller in der Praxisnachfolge selbst Nachfolgerin würde. Von daher erwächst der Beigeladenen zu 9) in diesem Fall kein weiterer Nachteil. Hinzu kommt, dass auch bereits jetzt Therapien begonnen worden sind und sich das Problem der Übernahme der Therapien gleichfalls stellen würde. Ferner kommt hinzu, dass die Beigeladene zu 9) gegenwärtig bis voraussichtlich Juni 2011 in einem Vollzeitbeschäftigungsverhältnis steht und insofern wirtschaftlich abgesichert ist.

Insofern war dem Antrag im tenorierten Umfang stattzugeben.

Der Antrag war aber insoweit abzulehnen, als das Gericht nur bis zur Entscheidung des Antragsgegners eine Anordnung treffen kann.

Nach allem war dem Antrag im tenorierten Umfang stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung. Der Antragsteller hat im Wesentlichen vorgetragen, er könne mit einer Entscheidung nicht bis zur avisierten Sitzung des Berufungsausschusses abwarten. Von daher erfolgte die Abweisung des Antrags im Übrigen klarstellend. Mit Kosten war der Antragsteller daher nicht zu belasten.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den gesetzlichen Vorgaben.

Für das Klageverfahren gilt das Gerichtskostengesetz i. d. F. des Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (Kostenrechtsmodernisierungsgesetz – KostRMoG) vom 05.05.2004, BGBl. I S. 718). Soweit eine Entscheidung nach § 62 Satz 1 nicht ergeht oder nicht bindet, was hier der Fall ist, setzt das Prozessgericht den Wert für die zu erhebenden Gebühren durch Beschluss fest, sobald eine Entscheidung über den gesamten Streitgegenstand ergeht oder sich das Verfahren anderweitig erledigt (§ 63 Abs. 2 Satz 1 GKG). In Prozessverfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit wird die Verfahrensgebühr mit der Einreichung der Klage-, Antrags-, Einspruchs- oder Rechtsmittelschrift oder mit der Abgabe der entsprechenden Erklärung zu Protokoll fällig (§ 6 Abs. 1 Nr. 4 GKG). In Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach den sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Bietet der Sach- und Streitwert für die Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte, so ist ein Streitwert von 5.000,00 Euro anzunehmen (§ 52 Abs. 1 und 2 GKG).

Angesichts der kurzen entscheidungsrelevanten Zeitspanne war vom Regelstreitwert auszugehen.
Rechtskraft
Aus
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