S 22 AS 1238/09

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
22
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 22 AS 1238/09
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 686/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ein Anspruch auf Übernahme von Schülerbeförderungskosten zum Besuch einer gymnasialen Oberstufe gegen einen SGB II-Leistungsträger kann sich weder aus § 21 Abs. 6 SGB II noch unmittelbar aus der Verfassung herleiten, weil keine atypische Bedarfslage vorliegt.

2. Bedarfe, die nicht nur in seltenen Ausnahmefällen, im Zusammenhang mit dem Schulbesuch stehen, sind Teil der Regelleistung.

3. Die Ausbildungsförderung ist unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks schwerpunktmäßig nicht dem SGB II, sondern anderen Fördersystemen zugewiesen.
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Übernahme von Kosten der Schülerbeförderung für den Besuch einer gymnasialen Oberstufe im Rahmen von Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II).

Die im Jahr 1991 geborene Klägerin bezog laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II von dem Beklagten. Sie besuchte die 12. Klasse der A-Schule B-Stadt. Zur Senkung ihrer Kosten der Unterkunft zog sie während des Besuchs dieser Klassenstufe von B-Stadt nach YE. im YF. um. Zum weiteren Schulbesuch fuhr sie schultäglich von YE. nach B-Stadt. Hierzu verwendete sie eine Monatskarte in Form eines sog. MAXX-Tickets des Verkehrsverbunds Rhein-Neckar und wandte hierzu Kosten in Höhe von monatlich 33,50 EUR auf.

Am 13.8.2009 beantragte sie bei dem Beklagten "die Erstattung der Fahrtkosten zur Schule, da es in YE. kein Gymnasium gibt." Mit Bescheid vom 3.9.2009 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Die Kosten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel seien in der Regelleistung enthalten. Auch die Kostenübernahme als Eingliederungsleistung scheide aus, da hierunter nur Leistungen zu verstehen seien, die für die Eingliederung in das Erwerbsleben erforderlich seien. Ein höherer Schulabschluss sei für die Eingliederung in Arbeit aber nicht zwingend erforderlich. Auch bei einem mittleren Schulabschluss bestünden Chancen, einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Es bestehe aber die Möglichkeit die Schülerbeförderungskosten aufgrund der voraussehbar begrenzten Dauer als Darlehen gem. § 23 Abs. 1 SGB II zu gewähren. Hierzu wäre jedoch ein ausdrücklicher Antrag erforderlich.

Hiergegen legte die Klägerin am 14.9.2009 Widerspruch ein. Die Begründung der Ablehnung sei diskriminierend. Die Klägerin könne nicht auf einen niedrigeren Schulabschluss verwiesen werden. Es läge nicht in der Entscheidungskompetenz des Beklagten, welchen Schulweg sie einschlage.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2009 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück und führte die Gründe der Ausgangsentscheidung näher aus. Dagegen hat die Klägerin am 21.12.2009 Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben. Sie meint, es sei unerheblich, ob sie weiter eine Schule in B-Stadt oder ein näher gelegenes Gymnasium, bspw. in YD., besuche, weil die Kosten für das MAXX-Ticket entfernungsunabhängig seien. Entscheidend sei, dass es in YE. kein Gymnasium gebe. Zudem sei es ihren schulischen Leistungen zuträglich, in der 12. Klasse keinen Schulwechsel vornehmen zu müssen. Sie ist der Ansicht, im Regelsatz seien nur die Kosten für gelegentliche Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln enthalten, nicht aber tägliche. Es wäre eine unverantwortliche Benachteiligung, wenn sie nicht genauso gestellt würde, wie Schüler, die aufgrund eines rein zufälligen Wohnortvorteils eine passende Schulform am Ort hätten. Letztlich sei auch zu berücksichtigen, dass der Wohnortwechsel deswegen erfolgte, weil der Beklagte sie zur Senkung der Unterkunftskosten aufgefordert habe.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 3.9.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.11.2009 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, für die Klägerin die tatsächlichen Kosten für die Fahrten der Schule zu übernehmen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Er bezieht sich zur Klageerwiderung auf die Gründe seiner Verwaltungsentscheidungen und führt sie näher aus.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Die angefochtenen Bescheide des Beklagten, mit denen er die Übernahme der Fahrtkosten der Klägerin zur Schule - für einen nicht begrenzten Zeitraum - abgelehnt hat, sind nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Übernahme oder Erstattung ihrer Schülerbeförderungskosten durch den Beklagten. Hierzu fehlt es an einer Anspruchsgrundlage. Ein Anspruch kann sich weder aus § 21 Abs. 6 SGB II noch unmittelbar aus der Verfassung (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1BvL 3/09, 1 BvL 4/09 Rn. 220) herleiten. Ein Anspruch aus § 21 Abs. 6 SGB II scheidet schon deshalb aus, weil diese Vorschrift erst zum 3.6.2010 eingeführt wurde (BGBl. I, S. 671). Ohnehin sind aber auch dessen Voraussetzungen ebenso wenig erfüllt, wie die Voraussetzungen eines sich unmittelbar aus dem Grundgesetz ergebenden Anspruchs.

Beide Ansprüche setzen eine atypische Bedarfslage im Sinne der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG Urteil vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 u. a. Leitsatz 4) voraus. Eine solche entsteht erst, wenn der Bedarf so erheblich ist, dass die Gesamtsumme der dem Hilfebedürftigen gewährten Leistungen - einschließlich der Leistungen Dritter und unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen - das menschenwürdige Existenzminimum nicht mehr gewährleistet. Dieser zusätzliche Anspruch dürfte nach Ansicht des BVerfG angesichts seiner engen und strikten Tatbestandsvoraussetzungen nur in seltenen Fällen entstehen (vgl. BVerfG Urteil vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09 Rn. 208).

Die Schülerbeförderungskosten der Klägerin sind kein atypischer Bedarf in diesem Sinne (siehe BSG Urteil vom 19.8.2010 – B 14 AS 47/09 R Rn. 12 unter Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung, insbesondere BSG Urteil vom 28.10.2009 – B 14 AS 44/08 R Rn. 21, Luik in jurisPR-SozR 4/2010 Anm. 1 zu BVerfG Urteil vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09, so auch SG Darmstadt Beschluss vom 21.10.2010 - S 17 AS 1255/10 ER; a.A. SG Marburg Beschluss vom 5.8.2010 – S 5 AS 309/10 ER, SG Gießen Beschluss vom 19.8.2010 – S 29 AS 981/10 ER, SG Wiesbaden Beschluss vom 26.10.2010 – S 15 AS 632/10 ER).

Von einem atypischen Bedarf kann nicht alleine deshalb ausgegangen werden, weil er nicht jeden Hilfebedürftigen gleichermaßen trifft oder weil er den im Regelsatz enthaltenen Betrag für diesen Bedarfsposten übersteigt (vgl. hierzu SG Wiesbaden Beschluss vom 26.10.2010 – S 15 AS 632/10 ER Rn. 15 ff.). Dies würde den vom Bundesverfassungsgericht explizit eng gefassten Anwendungsbereich zu sehr ausdehnen und den Charakter einer Härtefallregelung verwischen (dies entspricht auch der Gesetzesbegründung des § 21 Abs. 6 SGB II, vgl. BT-DS. 17/1465, S. 8 f.). Vielmehr ist es erforderlich, dass nur eine sehr begrenzte Zahl von Hilfebedürftigen einen derartigen Bedarf hat, so dass tatsächlich von einer ungewöhnlichen Ausnahme ausgegangen werden kann.

Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Gerade im schulischen Bildungsabschnitt der gymnasialen Oberstufe entspricht es eher der Regel als der Ausnahme, dass in ländlicheren Gebieten keine entsprechende Schule vor Ort ist und deshalb Fahrtkosten für den Schulbesuch anfallen. Gymnasiale Oberstufen finden sich typischerweise nur in Siedlungszentren.

Die Beklagte war auch nicht nach § 23 Abs. 1 SGB II zur Leistungserbringung verpflichtet. Danach kann, sofern im Einzelfall ein von den Regelleistungen umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts weder durch das Vermögen noch nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 noch auf andere Weise gedeckt werden kann, die Agentur für Arbeit bei entsprechendem Nachweis den Bedarf als Sachleistung oder als Geldleistung erbringen und gewährt dem Hilfebedürftigen ein entsprechendes Darlehen. Die Klägerin begehrt im vorliegenden Fall aber keine darlehensweise Übernahme, sondern die zuschussweise Übernahme der Kosten. Auf den Hinweis des Beklagten, dass ein Antrag auf ein Darlehen gestellt werden kann, ist sie nicht eingegangen.

Da die Kosten der Schülerbeförderung somit nicht gesondert zu leisten sind, stellen sie einen Bedarf dar, der aus der Regelleistung gem. § 20 SGB II zu decken ist. Dies ergibt sich im Ergebnis auch aus der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1BvL 3/09, 1 BvL 4/09). Darin hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der bisherigen Regelsatzberechnung für Kinder vor allem damit begründet, dass der zusätzliche, existentielle Bedarf von Kindern, der aufgrund des Schulbesuchs entstehe, bei einer Berechnung, die diese als "kleine Erwachsene" behandele, nicht berücksichtigt sei. Beispielhaft führt das Gericht Schulmaterialien wie Schulbücher, Schulhefte und Taschenrechner auf. Die Nichtberücksichtigung der Kosten für den Besuch der Schule ist mithin ein tragender Grund für die angenommene Verfassungswidrigkeit der Berechnung der Regelsätze. Es muss deshalb – der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend – davon ausgegangen werden, dass die mit dem Schulbesuch zusammenhängenden Bedarfe Teil der Regelleistung sind (siehe hierzu BSG Urteil vom 19.8.2010 – B 14 AS 47/09 R Rn. 13 f.). Nach Ansicht der Kammer entspricht diese Ansicht auch der Gesetzesbegründung zu § 21 Abs. 6 SGB II, wonach beispielhaft aufgezählt insbesondere die ebenfalls bildungsbedingt anfallenden Bedarfe für Schulmaterialien und Schulverpflegung kein Sonderbedarf im Sinne der Regelung sind (BT-DS 17/1465, S. 8 f.). Zusätzliche Leistungen für die Kosten der Schülerbeförderung stehen der Klägerin nach alledem aufgrund des Fördersystems des SGB II nicht zu. Dies ist auch systemgerecht und entspricht dem Gesetzeszweck, weil die zielgerichtete Ausbildungsförderung anderen Gesetzen, insbesondere dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) zugewiesen ist. Es ist daher auch Sache des Gesetzgebers, den gleichberechtigten Zugang zu höherer schulischer Ausbildung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen des Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sicherzustellen. Der Landesgesetzgeber hat seine diesbezügliche Entscheidung durch die Regelung des § 161 Hessisches Schulgesetz (HSchG) für die dort abschließend aufgezählten Schultypen getroffen.

Die Klage war deshalb abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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